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       # taz.de -- Patientengetriebene Forschung: Alles muss man selber machen
       
       > Manche Erkrankungen sind von so geringem Interesse für die Forschung,
       > dass Patient*innen nur eine Chance bleibt: selbst aktiv werden.
       
   IMG Bild: Sam Berns starb 2014 im Alter von 17 Jahren
       
       Es beginnt damit, dass es keine Antworten gibt. Eine Person selbst oder ihr
       Kind leidet unter Symptomen einer Erkrankung, die kaum oder gar nicht
       erforscht ist. Vielleicht mit einem Namen, den man noch nie gehört hat.
       Oder nicht einmal mit einem Namen. So viele Fragen: Wo kommt das her, was
       ist die genaue Diagnose, was können wir dagegen tun, was bedeutet das für
       das weitere Leben? [1][Und es gibt keine oder viel zu dürre Antworten].
       
       Schon nach kurzer Zeit sind diese Patient*innen oder ihre Angehörigen
       bei Arztgesprächen nicht selten diejenigen, die am meisten über ihre
       Krankheit wissen. Nicht nur, weil die wenigen Kenntnisse mühsam
       zusammengetragen werden müssen. Sondern vor allem, weil ihr Interesse an
       der Krankheit viel existenzieller ist, als es für die behandelnden
       Ärzt*innen je sein wird.
       
       In der Regel überlässt die Fachwelt den Betroffenen und ihren Angehörigen
       nur den Bereich der [2][Selbsthilfegruppen]. Dass ihre Perspektive und
       Expertise auch in der Forschung von Wert sind – diese Sichtweise ist
       vergleichsweise neu. Manchmal aber gibt es ohne das Engagement der
       Betroffenen gar keine nennenswerte Forschung. Ein leuchtendes Beispiel ist
       die Erforschung von Progerie – einer Erkrankung, die Kinder vorzeitig
       altern und lange vor ihrer Zeit sterben lässt.
       
       Die US-Amerikanerin Leslie Gordon ist Medizinerin und Gründerin der
       [3][Progeria Research Foundation], die seit mehr als 20 Jahren die
       Erforschung und Behandlung von Progerie maßgeblich geprägt hat. „Aber ich
       bin vor allem eine Mom und da kommt all das her“, sagte Leslie Gordon vor
       einiger Zeit bei einem Fachvortrag vor Eltern und Wissenschaftler*innen.
       
       ## Progerie ist äußerst selten
       
       Ihr Sohn Sam bekam 1998 mit kaum zwei Jahren die Diagnose Progerie. Damals
       arbeitete fast niemand an der Erforschung dieser Krankheit. Es war noch
       nicht einmal bekannt, dass es sich um eine genetische Erkrankung handelt.
       Es gab keine Forschungsgelder und für Familien und Ärzt*innen weder
       ausreichende Information noch Möglichkeiten der Behandlung.
       
       Und so gründeten Gordon und ihr Mann die Progeria Research Foundation, die
       sich bis heute der Suche nach einer Heilung der tödlichen Erkrankung
       verschreibt. Ein Engagement, das die Lebenspanne ihres eigenen Sohns
       überdauert: Sam starb 2014 im Alter von 17 Jahren.
       
       Progerie ist so selten, dass es in vielen Ländern nur ein einziges Kind,
       eine einzige Familie gibt, die damit lebt. Entsprechend groß ist die
       Isolation der Betroffenen – und das, so berichten auch andere Eltern,
       gehört zu den traurigsten und frustrierenden Erfahrungen.
       
       Der erste Schritt, berichtet Gordon, war daher der Aufbau eines
       Patient*innenregisters. Nicht nur zur Vernetzung der Familien, sondern eben
       auch als Basis für die Forschung. Auf Konferenzen brachte die Progeria
       Research Foundation Wissenschaftler*innen zusammen, sammelte Millionen
       für Forschungsvorhaben und Arzneimittelstudien, veröffentlichte Handbücher
       in Dutzenden Sprachen für Eltern und Fachkräfte.
       
       ## Progerie kann inzwischen medikamentös behandelt werden
       
       Dass die genetische Ursache von Progerie inzwischen erforscht ist, dass es
       seit einigen Jahren ein Medikament gibt, das die Lebenserwartung der Kinder
       um Jahre verlängert, und dass es inzwischen sogar die Aussicht gibt, die
       Krankheit aufzuhalten – ohne die Progeria Research Foundation, ohne das
       Engagement Betroffener wäre das undenkbar.
       
       Inzwischen berät Leslie Gordon auch andere Initiativen. „Niemand kann es so
       gut machen wie ihr“, ruft sie den Eltern zu, die mit ihrem Beitrag für die
       Erforschung anderer seltener Erkrankungen noch am Anfang stehen. Zumindest
       die [4][Möglichkeiten der globalen Vernetzung] und der medizinische
       Fortschritt, der etwa genetische Forschung günstiger macht, arbeiten für
       sie.
       
       Ein solches Engagement Betroffener erfordert Ressourcen, die im Alltag mit
       einer schweren Krankheit wenige übrig haben. Das Beispiel der Progeria
       Research Foundation ist dennoch eine Ermutigung:
       Patient*inneninitiierte Forschung ist eine Chance, die Leerstelle
       zu füllen, die die Fachwelt bei vielen Krankheitsbildern klaffen lässt. Für
       Antworten, die es sonst nicht geben würde.
       
       11 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Seltene-Krankheiten/!5500545
   DIR [2] /Aktivistin-ueber-Eierstockkrebs/!5631967
   DIR [3] https://www.progeriaresearch.org/
   DIR [4] /Traumabewaeltigung-auf-Social-Media/!6074498
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Manuela Heim
       
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