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       # taz.de -- Paulskirche in Frankfurt am Main: Die Emporung des Volkes
       
       > Die Paulskirche sollte wieder so aussehen wie vor dem Zweiten Weltkrieg,
       > finden manche. Aber „wie früher“ ist nicht unbedingt besser.
       
   IMG Bild: Früher umlief eine Empore den Plenarsaal. Diese hätten einige gern wieder
       
       Vor gut 35 Jahren schreibt der Oberbürgermeister von Frankfurt hoffend:
       „Uns fällt es heute mit mehr Abstand leichter, die ganze deutsche
       Geschichte und damit auch – über den Abgrund der jüngeren Vergangenheit
       hinweg – jene Epochen und Ereignisse wiederzuentdecken, die uns mit Stolz
       erfüllen können.“ Das war damals, 1983, CDU-Rechtsaußen Walter Wallmann;
       womöglich schrieb an dem Text aber auch sein Büroleiter mit: Alexander
       Gauland.
       
       Wallmann stieß damals vergeblich an, die [1][Paulskirche], Sitz der ersten
       gesamtdeutschen Nationalversammlung von 1848, in ihren Zustand vor der
       Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zurückzuversetzen. Dieser Wunsch existiert
       weiter, und die Debatte darum könnte politischer kaum sein.
       
       Als erstes historisches Gebäude in Frankfurt überhaupt wiederaufgebaut,
       damals noch als Parlamentssitz vorgesehen, wurde die Paulskirche 1948,
       genau hundert Jahre nach der Revolution, wiedereröffnet. Architekt Rudolf
       Schwarz hatte von der originalen Gestaltung nur die nach der Bombardierung
       stehengebliebenen Außenmauern übernommen. Schwarz ließ eine Zwischendecke
       einbauen, die ein niedriges, dunkles Eingangsgeschoss schafft. Besucher
       müssen es durchqueren, um über Treppen in den hellen, schlichten Saal nach
       oben zu gelangen. Ein „Bild des schweren Weges, den unser Volk in dieser
       seiner bittersten Stunde zu gehen hat“, sah der Katholik Schwarz in seinem
       Bau.
       
       OB Wallmann wollte dieses Zwischengeschoss in den Achtzigern am liebsten
       einreißen – und nun, 35 Jahre später, wird dieser Wunsch wieder
       vorgebracht, in Frankfurt vornehmlich von Politikern im Umfeld der AfD. Der
       Partei also, die ihren Fraktionssaal im Bundestag [2][„Saal Paulskirche“
       nennt und dort Wandbilder zum Thema „Einigkeit und Recht und Freiheit“
       aufhängt].
       
       ## Lebendiger als das Original
       
       Aber die Rekontruktionsromantik kommt nicht nur von weit rechts.
       Zeit-Redakteur Benedikt Erenz löste die aktuelle Debatte zum Abriss der
       Nachkriegseinbauten der Paulskirche vor zwei Jahren [3][mit einem Artikel]
       aus. Schwarz’ Gestaltung hält Erenz für „fahle Frömmigkeit“ und „edle Buß-
       und Reu-Architektur“; und hätte am liebsten jene Emporen zurück, von der
       „das Volk“ herabgeblickt habe. „Das Parlament der Paulskirche ist nicht
       gescheitert.“ Denn: „Gescheitert, grauenhaft und im eigentlichen Sinne des
       Wortes höllisch gescheitert sind diejenigen, die sich diesen Grundrechten
       in den Weg gestellt und die Ideen von 1848 unterdrückt haben: das
       wilhelminische Kaiserreich und das NS-Regime.“
       
       Frank-Walter „demokratischer Patriotismus“ Steinmeier proklamierte dann
       dieses Jahr, ebenfalls in der Zeit, unter dem Titel [4][„Deutsch und
       frei“]: „Schwarz-Rot-Gold ist doch nicht das Aushängeschild eines
       engstirnigen Nationalismus, sondern das Wahrzeichen von Freiheit und
       Demokratie.“ Das kann man so sehen; übersieht dann aber, wie eng die
       1848er-Bewegung mit Misogynie und einem Antisemitismus verbunden war, der
       sich genau zu der Zeit, als sich „Deutschland“ formierte, langsam, aber
       sicher von einem religiösen in einen eliminatorischen verwandelte. Darauf
       weist in einer Ausgabe der Zeitschrift [5][Arch+ zum Thema „Rechte Räume“
       die Romantik-Expertin Tina Hartmann hin].
       
       Eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt behandelt nun
       seit Anfang September unter dem Titel „Paulskirche. Ein Denkmal unter
       Druck“ diese Debatte – und positioniert sich schon in der Ankündigung klar:
       Der veränderte Wiederaufbau sei „ein weit lebendigeres Zeugnis der
       deutschen Demokratie und Debattenkultur, als es eine Rekonstruktion je sein
       könnte.“
       
       Warum er den Wunsch nach einer Paulskirche ohne Zwischengeschoss
       problematisch findet, erklärt einer der Kuratoren, Philipp Sturm: „Man
       würde durch eine solche Rekonstruktion die ganze Geschichte der Paulskirche
       ab 1948 verdecken. Rudolf Schwarz hat bewusst diese Ruinenästhetik ein
       Stück weit beibehalten.“ Sturm glaubt allerdings nicht, dass sich die
       Befürworter einer „Rekonstruktion“, anders als bei der vergangenen Herbst
       in Frankfurt eröffneten „Neuen Altstadt“, diesmal durchsetzen werden. Im
       Jahr 2005 fand die Forderung der Neurechten Wolfgang Hübner und Claus
       Wolfschlag, ein freiwerdendes innerstädtisches Gelände mit
       „rekonstruierten“ Häusern als „Neue Altstadt“ zu bebauen, schnell breiten
       Anklang auch in den anderen Parteien.
       
       ## Denkmalschutz heißt leider gar nichts
       
       „Wir sind einen Schritt früher dran“ sagt Sturm jetzt, in einem weißen
       Ledersessel im Foyer des Museums sitzend. Außerdem sei der Sanierungsbedarf
       der Paulskirche nicht so groß wie anfangs befürchtet – das Dach zum
       Beispiel müsse gar nicht ersetzt werden. „So was ist sonst immer ein großes
       Einfallstor für allerlei Forderungen.“
       
       Wiederum einen Schritt früher setzt Architekturkritikerin Ursula Baus in
       ihrer Besprechung der Ausstellung auf dem Architekturblog „Marlowes“ an und
       legt nahe, dass mit dem Titel „Paulskirche. Ein Denkmal unter Druck“ und
       der Aufforderung an Besucher, ihre Meinung am Ende öffentlich sichtbar auf
       eine Zettelwand zu schreiben, durch die Hintertür doch wieder eine
       „Debatte“ angestoßen werde. Dabei steht das Gebäude unter Denkmalschutz.
       
       „Aber wir haben schon oft erlebt, wie schnell und einfach Gebäude bei
       Bedarf auch aus dem Denkmalschutz genommen werden können“, sagt Kurator
       Sturm und weist auf den Abriss des Eiermann-Hochhauses und des
       Zürich-Hochhauses am anderen Ende der Frankfurter Innenstadt hin. „Ganz
       sicher kann man sich in solchen Fragen nie sein. Wenn der Wind dreht und
       Stimmung gemacht wird, ist das unberechenbar.“
       
       Alles ist eben eigentlich in dieser Debatte: Ebenso wie der Denkmalschutz
       eigentlich sicher ist, zeigt sich die Regierungskoalition aus SPD, CDU und
       Grünen in Bezug auf die Paulskirche eigentlich einig: Der Stand von 1948
       soll erhalten bleiben. Doch SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann irritiert
       mit mehrdeutigen Äußerungen, zum Beispiel, wenn man ihn anruft: „Ich bin
       gegen eine Rekonstruktion. Aber wir Frankfurter haben uns immer dadurch
       ausgezeichnet, dass wir Leute mit anderen Positionen nicht gleich zur Tür
       hinausgeworfen haben.“ Welchen Sinn jedoch soll eine solche Debatte haben,
       wenn alle maßgeblichen Akteure vorgeben, auf der anderen Seite zu stehen?
       „Ich habe nicht nur Gramsci gelesen und weiß: Wenn wir die Gesellschaft
       ändern wollen, müssen wir auch Emotionen anbieten. Nicht jeder Nostalgiker
       ist automatisch ein Reaktionär“, sagt Feldmann.
       
       ## Entfesselter Raumkampf
       
       Der Architekturtheoretiker Stephan Trüby aus Stuttgart ist einer der
       Hauptfeinde Hübners und seiner Kameraden – gewiefter Strategen, die auch
       das sich unpolitisch glaubende Bürgertum unter neutralen Formeln wie
       „Schönheit“ für ihre Ziele einzunehmen verstehen. Trüby sorgt sich
       jedenfalls: „Wenn ein hochkarätiges politisches Bündnis, bestehend
       beispielsweise aus einem schlagkräftigen Verein aus der Mitte des
       Frankfurter Bürgertums, Bundespräsident Steinmeier und OB Feldmann, gegen
       den aktuellen baulichen Zustand der Paulskirche Kampagne machen würde,
       würde ich mich auf das Funktionieren des Denkmalschutzes nicht unbedingt
       verlassen. Man sollte den Opportunismus da nicht unterschätzen.“
       
       Dabei steht er zunächst vor einem Rätsel: „Warum ist gerade das
       traditionell eher liberale bis linke Frankfurt zum Schauplatz dieser
       Auseinandersetzungen geworden?“ Unter dem Begriff
       „Neoliberalisierungsarchitekturen“ hat [6][er herausgearbeitet], „dass ein
       hoher Anteil von Rechtspopulisten und Rechtsextremen unter
       Immobilienunternehmern, -maklern und -verwaltern zu vermerken ist.“
       
       Längst ist Frankfurt ein Hauptzentrum des entfesselten neoliberalen
       Raumkampfes. Die Errichtung der Europäischen Zentralbank 2010 bis 2014
       wurde von Polizisten durchgeprügelt. Wo einst der (nun abgerissene)
       AfE-Turm der Universität einen Knotenpunkt für die Politisierung
       Studierender bot, wird gegenwärtig der Luxuswohnturm „One Forty West“ mit
       Preisen von 15.000 Euro pro Quadratmeter in die Höhe gebaut.
       
       „Rekonstruktionen, heile Fassaden sind da Opium des Volkes“, meint Trüby.
       „Die, die wenig bis nichts haben, werden besänftigt durch schöne Bilder.“
       Und die, die Turbulenzen des entfesselten Marktes selbst vorantreiben,
       haben etwas, woran sie sich festhalten können. Einigkeit und Recht und
       Emporen.
       
       10 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://www.zeit.de/2019/12/demokratie-nationalismus-tradition-gedenktage-geschichtsunterricht
   DIR [5] https://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,5056,1,0.html
   DIR [6] https://www.baumeister.de/gibt-es-neoliberale-architektur/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Adrian Schulz
       
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