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       # taz.de -- Pflegekräfte in der Coronakrise: Ich habe diesen Job geliebt
       
       > Die Pandemie offenbart die Schwierigkeiten des Pflegesystems mehr denn
       > je. Unser Autor schreibt, warum er nicht mehr als Pfleger arbeiten kann.
       
   IMG Bild: Pflegestellen fehlen, und der Paritätische warnte im August auch vor Engpass bei Einweghandschuhen
       
       Bis vor Kurzem war ich Pfleger in einer Wohngruppe für Menschen mit
       sogenannter geistiger Behinderung. Der Abschied war schon lange geplant,
       nach sieben Jahren am gleichen Arbeitsplatz war es mal Zeit für einen
       Wechsel. Dann aber kam Corona. Also dachte ich, ich würde noch eine Weile
       länger dort bleiben, bis das Gröbste überstanden wäre. Passiert ist dann
       das Gegenteil: Ich bin noch schneller gegangen als gedacht.
       
       Die Coronakrise hat Schwächen und Schwierigkeiten des Systems noch stärker
       hervortreten lassen. Ich habe die letzten Wochen und Monate mit vielen
       Kolleg’innen gesprochen, auch aus ganz anderen Bereichen. [1][Es sind
       einige, die laufen auf der letzten Rille. Der Rest beißt sich durch.] Es
       gibt fast niemanden, den das ganze unangetastet lässt.
       
       Verifizierte Daten gibt es dazu meines Wissens nur in einzelnen Bereichen.
       Von den Intensivkrankenpfleger’innen planen laut einer Umfrage des
       Deutschen Ärzteblattes 37 Prozent den Ausstieg in den kommenden fünf
       Jahren, 33 weitere Prozent wollen ihre Arbeitszeit verkürzen. Und das war
       2019, noch vor der Pandemie. Laut des Gesundheitsexperten Prof. Dr. Michael
       Simon [2][fehlen aktuell 100.000 Pflege-Vollzeitstellen], und das sind nur
       die Krankenhäuser.
       
       Für mich war ein Punkt ausschlaggebend, früher die Reißleine zu ziehen: das
       Versagen des mittleren Managements. Es gibt hier drei Ebenen, und alle drei
       waren in Folge eines Umbruchs erst seit Monaten auf ihrem Posten. Erstens
       die Gruppenleitung, sozusagen die Chefin des Teams, eine junge Frau, die
       ganz frisch auf dem Posten war, ihr erster Job.
       
       ## Die Frage des Infektionsschutzes
       
       Eine gute Wahl für frischen Wind und neue Ideen, aber suboptimal im Falle
       einer akuten Krisensituation. Eins drüber die Hausleitung, ein arroganter
       mittelalter Mann, der bisher dadurch aufgefallen war, dass er bei seinen
       sporadischen Besuchen bei den Gruppen keine’n der Bewohner’innen je grüßte,
       immer nur die Mitarbeiter’innen (auch da nicht alle). Und die
       Bereichsleitung, ganz oben sozusagen, eine Frau Ende 50, sehr engagiert und
       kommunikativ, allerdings auch permanent überschätzend, wie gut sie die
       einzelnen Bewohner’innen kannte.
       
       Bereits Anfang März hatte ich eine Mail an die Bereichsleitung geschrieben
       mit Vorschlägen, wie die Infektionswahrscheinlichkeit einzudämmen sei. Das
       war recht simpel: Maskenpflicht im Dienst; wenn möglich Einzeldienste in
       den Gruppen; keine Leasingkräfte mehr, die heute in der einen und morgen in
       der nächsten Einrichtung eingesetzt werden, und künftige Besprechungen per
       Telefon abhalten. Die Leitung rief sofort zurück, bedankte sich und sagte,
       man sehe, was man umsetzen könne.
       
       Umgesetzt wurde: nichts. Die Tagesbeschäftigungsangebote wurden geschlossen
       und die Bewohner’innen eingesperrt, der Hausleiter schrieb in einer ersten
       Rundmail, diese Pandemie sei kein Grund, krank zu machen. Selbst
       Leasingkräfte wurden bis Anfang April eingesetzt, auch wenn sie nicht
       dringend benötigt wurden. Begründung: Schließlich seien sie ja schon
       gebucht. Bei Absage müsse man sie also trotzdem bezahlen. Das sei schlicht
       unwirtschaftlich.
       
       Ende März wurde eine Bewohnerin ins Krankenhaus eingeliefert, unklare
       Symptomatik. Sie hatte plötzlich das Bewusstsein verloren und seltsame
       Blasen den kompletten Arm entlang. Nach zwei Tagen wurde sie entlassen,
       einziger neuer Befund: eine beginnende Wirbelsäulenverkrümmung. Man hatte
       Bilder von der Lunge gemacht und da war das zufälligerweise mit
       aufgefallen. Ansonsten stand da nur „Synkope“, das ist ein Codewort und
       bedeutet: Wir wissen es nicht, keine Ahnung.
       
       Zu dem Zeitpunkt war schon klar, dass Covid-19 bei Patient’innen mit
       schweren Grunderkrankungen völlig undefinierte Verläufe hat. Ich hatte das
       jedenfalls in diversen Veröffentlichungen gelesen. Die Kolleg’innen waren
       darüber nicht von der Leitung informiert worden. Es war zu dem Zeitpunkt
       auch klar, dass das örtliche Krankenhaus ein Coronahotspot war, weswegen
       ich beschloss, die Bewohner’in zunächst einmal zu isolieren. Weisungsgemäß
       informierte ich die Bereichsleitung.
       
       Drei Tage später rief mich der Hausleiter an und lud mich zu einem Gespräch
       ein. Ich fragte mehrfach, welchen Zweck dieses Gespräch denn haben solle,
       und jedes Mal sagte er mir: Es sei nur ein informeller Austausch, es gäbe
       auch keinen konkreten Anlass. Der Typ war neu auf dem Posten, also dachte
       ich mir, vielleicht will er einfach wissen, wie es gerade läuft in den
       Gruppen. Wie es uns so geht.
       
       Ja, war dann aber anders. Ich kam in einen Raum, in dem Haus- und
       Gruppenleitung saßen und mich beäugten. Die erste Frage: Was mir eigentlich
       einfiele, eigenmächtig eine Bewohnerin zu isolieren. Ich habe die
       Bereichsleitung informiert, antwortete ich, woraufhin der Typ antwortete:
       Aber nicht mich! Ich solle es außerdem unterlassen, den Kolleg’innen zu
       erklären, wie sie mit ihren FFP2-Masken umzugehen hätten (eine Kollegin
       hatte ihre bei 60 Grad waschen wollen, ich hatte dringend abgeraten, weil
       das die Schutzwirkung zerstört).
       
       Ich fragte, ob das ein Personalgespräch sein solle. Nein, sagte er. Ich
       fragte, warum die Einrichtung keine verständliche Anleitung für FFP2-Masken
       ausgeben würde. Die käme dann bei Bedarf, sagte er. Ich fragte, ob er
       keinen Bedarf erkenne, wenn Mitarbeitende ihre Masken bei 60 Grad waschen
       wollen würden. Da müsse er sich erst mal informieren, sagte er. Es stünde
       alles auf den Seiten des RKI, sagte ich, und er antwortete: Wir setzen die
       Vorgaben des RKI allesamt um.
       
       ## Die Pflegekraft trägt das Risiko
       
       Ob ich noch Fragen hätte, wurde ich gefragt, und in der Tat hatte ich
       einige: Warum keine allgemeine Maskenpflicht gelte, obwohl das RKI eine
       solche empfehle, er antwortete: Das ist nur eine Empfehlung des RKI, keine
       Vorgabe. Das RKI empfehle Einzeldienste, wie es darum stehe, er lächelte
       maliziös und sagte: Eine schöne Idee, aber das Arbeitsrecht! Man könne doch
       nicht die gesamte Belegschaft ins Minus planen.
       
       Am besten war folgender Dialogausschnitt: Hausleitung: Ich treffe hier die
       Entscheidungen. Ich: Und ich trage das Risiko? Hausleitung: Ja.
       
       Am Ende fragte ich, warum eigentlich noch immer Dienstbesprechungen vor Ort
       stattfänden, obwohl es dafür keine Notwendigkeit gäbe, ja sogar die
       Geschäftsleitung des ganzen Unternehmens davon abrate. Da meldete sich zum
       ersten Mal die Gruppenleitung zu Wort: Wir seien ja schließlich im sozialen
       Bereich, da sei es wichtig, dass man sich in die Augen sähe. Und wenn
       Covid-19 hier ankäme, kriegten wir das doch sowieso alle, also was soll’s.
       
       Danach ging ich zum Dienst. Eine halbe Stunde später betrat die
       Gruppenleitung die Gruppe, ohne Maske, ohne zu klingeln. Ich sollte ein
       Papier unterschreiben, dass ich haftbar sei, wenn ich die Isolation nicht
       fachgerecht eingeleitet hätte – zivil- und strafrechtlich. Ich sei
       Nichtfachkraft, antwortete ich. In einem normalen Betrieb hätte ich da
       beschlossen, zum Betriebsrat zu gehen und Rabatz zu machen. Es ist aber
       eine kirchliche Einrichtung, es gibt keinen Betriebsrat (nur eine zahnlose
       Mitarbeitervertretung).
       
       ## Nicht tragisch, paradigmatisch
       
       Also war das der Moment, in dem ich beschloss, nicht mehr zu kommen. Ich
       ließ mich krankschreiben. Dann Aufhebungsvertrag. Seither war ich einmal
       kurz da, um mich zu verabschieden. Für mich ist das dramatisch: Ich habe
       diesen Job geliebt, und ich träume noch jetzt von den Bewohner’innen.
       
       Gleichzeitig beherrschen draußen irgendwelche Demonstrant’innen mit ihren
       gefährlichen Agenden die Schlagzeilen, während von uns Pflegenden erwartet
       wird, dass wir unseren Job machen und die Fresse halten. Und noch
       schlimmer: die Bewohner’innen abschirmen und sie von der Gesellschaft
       isolieren. Diese Geschichte ist nicht tragisch, sie ist paradigmatisch. Und
       keine Ausnahme. Betreuer’innen und Pflegende müssen anfangen, ihre
       Geschichten zu erzählen.
       
       [3][Der Applaus, der von den Balkonen auf uns herunterregnete] während
       dieser Zeit, hat vor allem Haus- und Gruppenleitung gefreut; mir kam er vor
       wie blanker Hohn. Wir sollten ertragen und schweigen, wir Held’innen des
       Hilfesystems. Held’innen sind immer stumm. Nein, einfach. Nein.
       
       29 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Pflege-nach-Corona/!5681241/
   DIR [2] https://www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/sendung/ndr/corona-pflegekraefte-ueberlastung100.htm
   DIR [3] /Geld-statt-Applaus-in-der-Corona-Krise/!5676924/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frédéric Valin
       
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