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       # taz.de -- Philosoph über Hannah Arendt: „Sie war kein unnahbares Genie“
       
       > Thomas Meyers kürzlich erschienene Biografie dokumentiert auch die
       > aktivistische Seite der Philosophin Hannah Arendt. Das gefällt nicht
       > allen.
       
   IMG Bild: Nahbare Aktivistin: Arendt-Foto in der Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ 2020 in Bonn
       
       taz: Herr Meyer, zeigt Ihre kürzlich erschienene Biografie eine ganz neue
       Hannah Arendt? 
       
       Thomas Meyer: Das hängt vom Auge des Betrachters ab. Mein Ziel war, der
       Arendt-Community möglichst viel Material anzubieten, ohne mich gegen die
       bisherigen Auslegungen zu wenden. Ich wollte eine [1][Hannah Arendt]
       zeigen, die das Wechselspiel zwischen Denken und Handeln mit ihrem eigenen
       Leben beglaubigt hat. Deshalb habe ich mich auf zwei Lebensabschnitte
       konzentriert, die mir nicht nur unerforscht schienen, sondern in denen sich
       auch die Hannah Arendt, die wir heute lesen, herausbildete: die Jahre im
       Pariser Exil nach ihrer Flucht vor dem NS-Regime und die ersten Jahre in
       New York ab 1941.
       
       Welche neuen Facetten offenbaren Sie? 
       
       Neu ist vor allem die – auf bislang unbekannten Quellen basierende –
       Dokumentation ihrer Tätigkeit in der „[2][Kinder -und Jugend-Alija]“ in
       Paris, wo sie sich zwischen 1935 und Ende 1939 maßgeblich an der Ausbildung
       von Kindern und Jugendlichen und deren Rettung nach Palästina beteiligte.
       Diese Tatsache war zwar bekannt, aber bis dato nicht dokumentiert. Mein
       zweiter Fokus richtet sich auf die Entstehungsgeschichte ihres Hauptwerks
       „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Ich dokumentiere erstmals ihre
       Zusammenarbeit mit jüdischen ForscherInnen, die ihr halfen, diese große
       Erzählung zu schreiben.
       
       Warum war es wichtig, genau diese beiden Zeiträume zu dokumentieren? 
       
       Die Hannah-Arendt-Forschung bestand über viele Jahre in klassischer
       Textdeutung. Meine Überlegung war: Warum nicht tun, was man mit allen
       anderen Persönlichkeiten auch tut? Erst einmal Quellenarbeit leisten.
       
       Lief die Recherche reibungslos? 
       
       Es war eine teils mühsame, aber immer auch fruchtbare akribische
       Archivarbeit. Die härteste Nuss waren die Kinder- und
       Jugend-Alija-Dokumente. Da hatte ich schon fast aufgegeben, als mich ein
       Zufallsfund in einem Archiv der Harvard University auf ein Jerusalemer
       Archiv zurückverwies. Daraufhin bat ich eine Freundin, dort zu suchen,
       woraufhin sie mir unglaubliche 300 Dokumente schickte. Ähnlich wichtig sind
       die seit Kurzem in Paris zugänglichen Dokumente der französischen
       Fremdenpolizei. Sie enthalten die Fluchtgeschichten von Abertausenden
       Menschen, auch von Hannah Arendt.
       
       Warum hatte man die Pariser Jahre bis dato kaum im Blick? 
       
       Weil Philosophen und politische Theoretiker im Laufe der Jahrhunderte eine
       Immunisierungsstrategie ausgebildet haben, indem sie dem Leben keinerlei
       Einfluss auf das Werk zugestehen möchten. Hannah Arendt empfand das schon
       immer als fromme Illusion, mit der man die Bedeutung des Fachs
       hervorzuheben suchte. Von der engen Verflechtung von Biografie und Werk war
       sie spätestens seit ihrem [3][Rahel-Varnhagen-Buch] überzeugt.
       
       Wurde diese Verbindung in allen vorigen Schriften über Arendt geleugnet? 
       
       Ja! Hannah Arendt galt zwar immer schon als couragierte Frau, die es mit
       der männlich geprägten Wissenschaftswelt aufnahm und die im legendären
       Interview mit Günter Gaus 1964 selbstbewusst ihre Lebens- und
       Denkgeschichte ausbreitete. Sie wurde zur exemplarischen Intellektuellen
       des 20. Jahrhunderts, gar als „Genie“ gefeiert. Dass sie, wie sie selbst
       schreibt, morgens Kinder weckte, ihnen Essen machte, sie unterrichtete und
       1935 mit ihnen nach Haifa segelte, dass sie eben nicht diese wie vom Himmel
       gefallene, unerreichbare „Grande Dame“ war – dem maß man keinerlei
       Bedeutung zu. Genau das habe ich zu erzählen versucht, ohne Hannah Arendts
       Leistungen infrage zu stellen.
       
       Sind Sie wegen Ihres Buchs kritisiert worden? 
       
       Wer sich zu Arendt äußert, der muss mit Gegenwind rechnen! Sehr viele sind
       unglaublich neugierig auf die Hannah Arendt, die ich zeige. Andere wollen
       ihr lange gepflegtes Arendt-Bild nicht aufgeben. Die größte Irritation hat
       allerdings [4][mein Vorwort] ausgelöst, in dem ich sage: Mich interessiert
       die [5][Aktualisierung] von Hannah Arendt nicht. Es vergeht ja kaum ein
       Tag, an dem sich nicht ein Medium – auch die taz – auf Arendt beruft, als
       sei ihr Werk der Schlüssel für sämtliche aktuellen Probleme. Aber mich
       interessiert Hannah Arendt in ihrer Zeit – und nicht, was sie etwa über
       Corona-LeugnerInnen oder Putin denken würde. Das hat so offen noch
       niemand gesagt, und ich verstehe die Irritation.
       
       Aber ist nicht gerade der von Ihnen dokumentierte Aktivismus hoch aktuell? 
       
       Das kann man so sehen. Hannah Arendt selbst hat ihn allerdings extremst
       versteckt. Diese Lebensepisode erwähnt sie überhaupt nur einmal – in jenem
       [6][Interview mit Gaus]. Politischer Aktivismus war ihr in späteren Jahren
       eher suspekt. Sie war niemand, der sagte: „Großartig, diese jungen Frauen
       und Männer tun es mir nach!“ Ihr war sehr bewusst, dass ihr Aktivismus in
       einer historischen Sondersituation stattgefunden hatte. Aber man kann in
       Hannah Arendts Nachfolge durchaus sagen: Jawohl, PhilosophInnen und
       Intellektuelle sollten nicht nur wohlfeil Zeitungsspalten füllen und offene
       Briefe unterschreiben, sondern konkret eingreifen.
       
       19 Feb 2024
       
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