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       # taz.de -- Podemos-Politiker über Wahl in Spanien: „Die Straße hat ein Wort mitzureden“
       
       > Für Podemos-Mitbegründer Miguel Urbán Crespo ist der Austeritätsdiskurs
       > eine Lüge der Eliten. Er hofft, dass die Wähler sich nun für den Wechsel
       > entscheiden.
       
   IMG Bild: Unidos podemos (deutsch: Gemeinsam schaffen wir es): Das linke Wahlbündnis wird nach aktuellen Umfragen zweitstärkste Kraft
       
       taz: Herr Urbán, in Spanien wird wieder gewählt. Die Prognosen sagen ein
       ähnliches Ergebnis voraus wie bei den Wahlen im Dezember. Was bringt es
       überhaupt, neu zu wählen? 
       
       Miguel Urbán Crespo: Unser Ergebnis wird besser ausfallen. Unidos Podemos
       hat die Möglichkeit, stärkste Kraft Spaniens zu werden. Die Umfragen sehen
       uns schon jetzt auf dem zweiten Platz.
       
       Was wollen Sie tun, um den Rückstand auf die konservative PP noch
       aufzuholen? 
       
       Wir machen deutlich, dass jetzt der Moment gekommen ist, um die
       Verhältnisse zu verändern. In Spanien herrscht eine außergewöhnliche
       politische Situation: Zum ersten Mal gibt es auf parlamentarischer Ebene so
       viele verschiedene Parteien – gleichzeitig aber wird die Wahl stark
       polarisieren.
       
       Die Wähler haben nicht vier Möglichkeiten, sondern nur zwei: Die
       Möglichkeit des Wechsels, und die Möglichkeit, die Troika zu wählen. Die
       drei anderen großen Parteien stehen für noch mehr Reformen, Kürzungen und
       Sparmaßnahmen.
       
       Nach den Wahlen im Dezember wollte Podemos eine Koalition mit der
       sozialdemokratischen PSOE bilden, das ist gescheitert. Wollen Sie es wieder
       versuchen? 
       
       Wir schon. Wir haben ihnen nach den letzten Wahlen ein Koalitionsangebot
       gemacht, das sie abgelehnt haben. Ihre Wähler werden sie deshalb nun
       abstrafen: Die einzige Möglichkeit in Spanien, sich dieser Mafia namens PP
       entgegen zu stellen, ist Podemos. Aber der Ball wird trotzdem bei ihnen
       liegen. Entweder sie gehen eine Koalition mit der PP ein – oder sie wählen
       mit uns den Wechsel.
       
       Nehmen wir an, das klappt – Was würde Podemos tun, um die Wirtschaftskrise
       und die Arbeitslosigkeit in Spanien zu überwinden?
       
       Miguel Urbán Crespo: Wir wollen eine Politik fördern, in der alle Spanier
       dazu beitragen, der Krise zu entkommen. Wir wollen keine Politik für die
       Menschen machen, sondern sie dazu ermächtigen, die Politik selbst zu
       gestalten.
       
       Aber wir müssen mit der Vorstellung aufräumen, dass wir wieder zu einer
       Wirtschaft zurückkehren können, die auf die Baubranche, auf Sonne und
       Strand setzt. Wir brauchen ein Umdenken, einen langfristigen Umbau des
       Landes, damit die Menschen wieder weniger arbeiten können – damit wieder
       alle Arbeit haben.
       
       Auf welche Branchen wollen Sie setzen, um wieder wettbewerbsfähig zu
       werden? 
       
       Wir müssen viel mehr in die Forschung investieren. Bis 2008 wurde mehr als
       die Hälfte der Forschung öffentlich finanziert. Heute sind es nur noch 40
       Prozent. Wir waren schon mal Spitze in der Produktion von Wind und
       Solarenergie, wir brauchen die Energiewende.
       
       Wir müssen solidarische Wirtschaft und Genossenschaften fördern, außerdem
       die Ökolandwirtschaft. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Menschen
       wieder Zugang zu Krediten haben, und er muss Arbeitsplätze schaffen: Um das
       Niveau von 2000 zu erreichen, müssten allein in Madrid 60.000 Arbeitsplätze
       entstehen, in den Bereichen der Gesundheitsvorsorge, Bildung und anderer
       sozialer Aufgaben.
       
       Allein zwischen 2012 und 2014 ist eine halbe Million junger Menschen aus
       Spanien ausgewandert – viele von ihnen nach Deutschland. Wollen Sie sie
       zurückholen? 
       
       Ja. Sie sind die Menschen, in die Spanien am meisten investiert hat, und
       nun verkaufen sie ihre Arbeitskraft in Nordeuropa oder Lateinamerika. Wenn
       man einige Jahre im Ausland war, ist es aber nicht einfach, zurückzukehren.
       Wir sind die einzige Partei, die eine Strategie für ihre Rückkehr hat: Wir
       wollen eine Stelle für sie schaffen, wo sie alle bürokratischen
       Notwendigkeiten für ihre Rückkehr erledigen sowie steuerliche
       Begünstigungen beantragen können.
       
       Woher soll das Geld für die Umsetzung all dieser Ideen kommen? 
       
       In unserem Land gibt es genug Geld – es ist nur sehr schlecht verteilt.
       Spanien ist das Land mit der zweitgrößten Ungleichheit innerhalb der EU.
       Wir haben ein sehr schlechtes und unfaires Steuersystem: Diejenigen, die
       weniger haben, zahlen viel mehr.
       
       Zudem ist die Steuerhinterziehung in Spanien enorm. Bei den jüngsten
       Skandalen um die Panama Papers konnten wir sehen, wie sich die Besitzer der
       größten Vermögen geweigert haben, ihre Steuern zu zahlen. Um mit diesem
       System Schluss zu machen, braucht es politischen Willen.
       
       Haben Sie nicht Angst, dass dann auch noch die mit dem größten Vermögen
       gehen? 
       
       Spanien hat die niedrigsten Steuern innerhalb der EU, und trotzdem wird das
       Geld ins Ausland geschafft. Aber natürlich ist das etwas, was auf
       europäischer Ebene koordiniert werden muss.
       
       Da hatte Syriza ähnliche Ideen wie Podemos. Nun gibt es in Griechenland so
       harte Einschnitte wie nie. 
       
       Was in Griechenland passiert, ist hochproblematisch. Dort haben wir
       gesehen: Solange man Banken hat, braucht man keine Panzer, um zu putschen.
       Syriza hat sein Programm pervertiert, weil es einen Staatsstreich mithilfe
       des Bankensektors gab.
       
       60 Prozent der Bevölkerung haben gegen die Kürzungen gestimmt. Aber die EU
       – deren Institutionen einen eklatanten Mangel an Demokratie aufweisen – hat
       an Griechenland ein Exempel statuiert, damit kein anderes Volk auf die Idee
       kommt, seinem Beispiel zu folgen.
       
       Wieso sollte Spanien nicht dasselbe passieren wie Griechenland?
       
       Wir müssen aus Griechenland lernen. Europa macht derzeit in vielerlei
       Hinsicht keine gute Figur, das wird unter anderem an der Flüchtlingsfrage
       deutlich. Das Vertrauen in die europäischen Institutionen schwindet, auch
       das Vertrauen in die Troika.
       
       Dass die Menschen mit der Politik der EU nicht einverstanden sind, heißt
       noch lange nicht, dass sie dagegen aufstehen – auch das sieht man an
       Griechenland. 
       
       Der italienische Philosoph Antonio Gramsci hat gesagt, dass der Staat auf
       zwei unverzichtbaren Säulen ruht: auf Konsens und Zwang. Den Konsens
       verlieren sie gerade.
       
       Außerdem hat Spanien ein größeres politisches und ökonomisches Gewicht als
       Griechenland: Spanien erzeugt 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU
       und fast 20 Prozent desjenigen der Eurozone. Der Euro, wie wir ihn kennen,
       ist ohne Spanien nicht möglich – schon allein deshalb können sie Spanien
       nicht so erpressen wie Griechenland.
       
       Einzelne Regierungen können etwas bewirken, das hat zum Beispiel Portugal
       gezeigt, das die Defizitgrenze neu verhandelt hat. Auch die Straße hat noch
       ein Wort mitzureden, das sehen wir gerade an den Streiks in Frankreich. Und
       schließlich steht die Entscheidung über den Brexit an. In diesem Juni zeigt
       sich, wie instabil und handlungsunfähig die EU ist.
       
       Wie bewerten Sie Deutschlands Rolle innerhalb Europas? 
       
       Ich würde zwischen Merkel und der deutschen Bevölkerung unterscheiden.
       
       Aber viele Deutsche haben Angela Merkel ja gewählt und sind mit ihrer
       Politik einverstanden. 
       
       Die Mehrheit der Spanier hat auch die Regierung Rajoy gewählt, aber sie
       vertritt ihre Interessen nicht. Wenn sie dich aus deinem Haus schmeißen,
       fragen sie dich nicht mehr, wen du gewählt hast.
       
       Aber zu Ihrer Frage: Es gibt eine gewisse Neokolonialisierung Südeuropas,
       in der die europäischen Institutionen und Deutschland eine wichtige Rolle
       gespielt haben. Aber davon profitiert eben nicht die gesamte deutsche
       Bevölkerung, sondern nur die deutsche Elite.
       
       Es ist wichtig, zu sehen, dass sich Deutschland und Spanien in dieser
       Hinsicht ähneln. Die deutsche Regierung handelt oft nicht im Sinne der
       eigenen Bevölkerung, sondern im Sinne einer kleinen Minderheit. Genau diese
       asymmetrische und unsolidarische Konstruktion Europas macht uns Sorgen.
       
       Gibt es denn eine Partei in Deutschland, mit der Sie sich eine
       Zusammenarbeit vorstellen können? 
       
       Auf europäischer Ebene arbeiten wir bereits mit der Linken zusammen – aber
       wir würden gern weitere Teile der deutschen Bevölkerung ansprechen.
       
       Die Spanier haben mit der deutschen Arbeiterklasse einiges gemeinsam. Die
       Ersten, die unter der Welle von Anpassungen und Umstrukturierungen gelitten
       haben, waren die Deutschen: Hier wurden letztlich die Minijobs erfunden.
       Wir müssen in Europa eine Art Internationalismus des 21. Jahrhunderts
       reorganisieren, der es uns ermöglicht, ein anderes Europa zu denken.
       
       Momentan sind in Europa aber nicht die Linken, sondern die Rechten auf dem
       Vormarsch. 
       
       Es gibt eine Polarisierung der europäischen Politik. Der
       Austeritätsdiskurs, in dem uns vorgegaukelt wird, dass wir um knappe
       Ressourcen kämpfen, beruht auf einer Lüge. Unsere Regierungen geben heute
       mehr Geld aus als je zuvor: für die Rettung der Banken.
       
       Aber die Menschen haben den Eindruck, die Ressourcen wären knapp, was zu
       Konkurrenzdenken führt. Spätestens seit dem 11. September, im Grunde
       genommen seit Schengen, wird eine Politik gemacht, die Grenzregime
       verstärkt, Migranten und Flüchtlinge stigmatisiert. Damit wurde ein Klima
       geschaffen, in dem die extreme Rechte wunderbar gedeiht.
       
       Dieser Cocktail aus Autoritarismus, Austerität und Ausländerfeindlichkeit
       führt dazu, dass in Europa die Basis der Sozialdemokratie wegbricht.
       
       Spanien ist eines der weniger Länder, in denen es diesen Rechtsruck bisher
       nicht gegeben hat. Warum? 
       
       Betroffen sind die Länder, in denen es keine positiven Antworten auf die
       Krise gab, keine sozialen Kämpfe – anders also als in Griechenland, Spanien
       oder Portugal. Das Ergebnis ist, dass uns nur wenige Tausend Stimmen vom
       ersten extrem rechten Staatsoberhaupt seit 1945 in Europa getrennt haben.
       Auch Deutschland erlebt mit der AfD ja gerade ein Drama.
       
       Was also tun? 
       
       In Spanien war die beste Medizin gegen die extreme Rechte die Bewegung 15M,
       also der Vorläufer von Podemos. Der erste Gegner des Front National in
       Frankreich heißt Nuit Debout. Jetzt gibt es dort Streiks und
       Mobilisierungen gegen die Arbeitsmarktreformen.
       
       Die beste antifaschistische Politik ist heute eine Politik, die aufzeigt,
       dass es Auswege aus der sozialen Krise gibt, Alternativen zur Politik der
       EU. Dafür gibt es keine Zauberformel, die man aus einem Land ins nächste
       exportieren könnte. Aber das beste Mittel gegen die extremen Rechten ist
       es, die Prekären anzusprechen, bevor jene es tun. Man darf den Rechten
       keinen Raum überlassen, weder politisch noch auf der Straße.
       
       26 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patricia Hecht
   DIR Carmela Negrete
       
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