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       # taz.de -- Polarisierung der gesellschaftlichen Mitte: Nur die Spur von Objektivität
       
       > Nicht die Krise spaltet eine Gesellschaft, sondern der Umgang mit ihr. Wo
       > erstes Misstrauen gegen Maßnahmen der Politik auftaucht, setzt der Bruch
       > an.
       
   IMG Bild: Verschwörungstheorien greifen dann, wenn Autoritäten nicht mehr akzeptiert werden
       
       Was ist das, was der Gesellschaft in immer steigendem Maße widerfährt:
       Spaltung? Radikalisierung der Mitte? All das sind Ausdrücke dafür, dass
       etwas in Bewegung gerät.
       
       Was man aber nicht vergessen darf: Die politische Mitte ist nicht
       gleichzusetzen mit Vernunft. Die Mitte ist nicht die Unschuld, sondern die
       Herrschaft eines gewissen Maßes. Was derzeit erodiert, ist die politische
       Form, die solcher Mitte entspricht: die Konsensdemokratie.
       
       Seit dem Ende des Kalten Krieges galt das demokratische Ideal einer relativ
       einheitlichen Gesellschaft, die sich gänzlich in der Gegenwart situiert.
       Das bedeutet das Aufgeben aller Utopien zugunsten der nüchternen
       Anti-Utopie einer vernünftigen Verwaltung. Damit wurde der Fokus der
       Demokratie verschoben: von der demokratischen Gleichheit hin zur
       demokratischen Ordnung. Ordnung im Sinne eines möglichst reibungslosen
       Zusammenspiels von staatlichen Institutionen und Gesellschaft.
       
       Solche Konsensdemokratien tendieren in Richtung einer aufgeklärten
       Oligarchie, also der Herrschaft einer politischen Klasse, die mehr oder
       weniger offen, mehr oder weniger am Gemeinwohl orientiert ist. Und
       ebendiese Übereinkunft erodiert. Angesichts der Häufung von äußeren Krisen
       gelingt diese Art der Befriedung gesellschaftlicher Konflikte immer
       weniger.
       
       ## Krise: Etwas Einbrechendes nicht verarbeiten können
       
       Eine Krise entsteht dann, wenn eine Gesellschaft Einbrechendes,
       Unvorhergesehenes nicht verarbeiten kann. So wurde etwa Corona nicht durch
       das Virus zur gesellschaftlichen Krise, sondern durch das teilweise
       Misslingen eines gemeinsamen Umgangs: keine allgemeine Akzeptanz der
       Maßnahmen. Ein latent vorhandenes Misstrauen wurde dabei manifest. Mehr
       noch: Ein grundlegendes, verbreitetes Nichtwiedererkennen im Staat wurde
       akut. Genau da beginnen [1][die Probleme der Konsensdemokratie].
       
       Und genau das ist auch das Einfallstor für Verschwörungstheorien. Denn die
       Macht wird von vielen als nicht eigene, sondern als fremde empfunden. Dass
       sich dies zur Feindschaft steigert, dass Institutionen – Staat, Politik,
       Medien – als „Feinde“ erscheinen, ist die verzerrte Darstellung dieser
       Fremdheit. In solchen „Feinden“ erhält das eigene Unbehagen eine Gestalt.
       Sind das die berühmten einfachen Antworten? Nein, es sind einfache Formen,
       die die nicht mehr eingebundenen Emotionen annehmen. Es sind Symptome eines
       Nichtfunktionierens.
       
       Verschwörungstheorien greifen dann, wenn Autoritäten nicht mehr akzeptiert,
       wenn sie nicht mehr als vernünftig angesehen werden. Dann wenden Menschen
       sich einer Ersatzvernunft zu. Und genau das sind Verschwörungstheorien:
       eine Mimikry, eine Nachahmung von Vernunft. Eine Simulation von Aufklärung.
       Sie versammeln alle ihre Momente: Misstrauen, Skepsis, Kritik an den
       Autoritäten. Aber all dies im Überschuss: Aus einer berechtigten Kritik
       wird eine überschießende. Aus einem skandalgenährten Misstrauen wird ein
       grundsätzliches. Aus Politik als Handlungsmacht wird die paranoide
       Vorstellung einer Weltherrschaft. Vernunft verklärt sich in ihr Gegenteil.
       
       ## Hegels Als-ob-Aufklärung
       
       Eine Als-ob-Aufklärung, die eigentlich etwas anderes ist: Probabilismus.
       [2][So nannte Hegel] eine Art der Willkür. Ein Vorgehen, wo man die eigenen
       Argumente in Stellung bringt gegen die allgemeinen. Wo man abweichende
       Autoritäten sucht, um die eigenen Vorstellungen und Meinungen zu
       bestätigen. Alternative Experten für alternative Fakten. Beides aber,
       Argumente und Autoritäten, sind nur probabel, also nur wahrscheinlich. Aber
       das reicht für solche Als-ob-Aufklärung. Sie hat damit eine „Spur von
       Objektivität“.
       
       Tatsächlich aber ist dies eine Form, die eigene Überzeugung zur absoluten
       zu machen. Mehr als ein Einspruch ist es ein „Austreten“, ein „Abwenden“
       vom Staat, ein „Abdriften“ aus der Gesellschaft. Und ebendas erfasst immer
       weitere Kreise. Wenn das eine Polarisierung, eine Radikalisierung der Mitte
       ist, dann muss man darin ein Symptom sehen – den verzerrten Ausdruck für
       ein grundlegendes Problem: für das Brüchigwerden des Gesellschaftsvertrags.
       
       24 May 2023
       
       ## LINKS
       
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