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       # taz.de -- Polarisierung in der Corona-Debatte: Moralische Tabuzone
       
       > Nach Migration und Klima wird nun die Debatte über Corona polarisiert –
       > gefährlich für die Demokratie und schädlich für zugewanderte
       > Covidpatienten.
       
   IMG Bild: Migrant*innen sind überdurchschnittlich von schweren Covid-19-Verläufen betroffen
       
       Bei den Themen Migration, Islam, Klima und nun auch bei Corona fällt eines
       auf: Vereinfachung und Lagerbildung. Alles oder nichts, schwarz oder weiß,
       moralisch gegen unmoralisch, gut gegen böse. Exklusivitätsanspruch auf
       allen Seiten statt Austausch von Argumenten und Offenheit. Verständnis für
       Komplexität und Ungewissheit sucht man vergeblich auf Twitter und anderen
       sozialen Medien, unter Journalisten und mittlerweile sogar auch in
       Freundeskreisen. Für eine Demokratie ist das eine gefährliche Tendenz. Wenn
       fanatische Stimmen die Deutungshoheit über die wichtigsten Debatten
       gewinnen, verliert die gesamte Gesellschaft.
       
       Wie weit das reicht, zeigt sich am Beispiel der Debatte über die hohen
       Zahlen von an Covid-19 erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund auf
       den Intensivstationen. Laut Bild hat der Leiter des Robert-Koch-Instituts,
       Lothar Wieler, die Berichterstattung über die hohen Zahlen an schwer
       erkrankten Patienten mit Migrationshintergrund tabuisiert – aus Angst vor
       Rassismus.
       
       Darauf angesprochen sagte er, diese Informationen bezögen sich auf einen
       informellen Austausch mit Chefärzten dreier Kliniken, allgemein lägen
       solche Daten aus Datenschutzgründen nicht vor. Man merkte ihm sein
       Unbehagen an. Die Quelle des Unbehagens blieb nicht lange verborgen. Der
       [1][türkisch-islamische Verband Ditib] erhob am nächsten Tag schwere
       Vorwürfe. Es sei „unredlich und unprofessionell“, die Verantwortung für die
       Pandemie bei Minderheiten zu suchen. Das ist das typische Muster: Kläger,
       selbsternannte Opfer und Vogel-Strauß-Politik.
       
       Keine Frage, es ist nicht einfach, über solche Themen zu sprechen, ohne
       dass Rassisten die Argumente kapern. Jedoch gehört zur Wahrheit auch, dass
       die AfD trotzdem wenige Tage später das Thema für sich entdeckte. Auf
       Twitter versuchte die AfD-Bundestagsfraktion die hohen Patientenzahlen mit
       Migrationshintergrund als Beweis dafür anzuführen, dass die multikulturelle
       Gesellschaft gescheitert sei. In Bayern hat die AfD bei Kliniken angefragt,
       wie viele ihrer Coronapatienten einen Migrationshintergrund hätten, um das
       Ergebnis als Beweis anzuführen, dass Migranten Pandemietreiber seien.
       
       ## Bestätigung der eigenen Ideologie
       
       Migrationsforscher, Journalisten und Politiker suchten nach Erklärungen,
       oder besser gesagt, nach einer politisch korrekten Erklärung. Angeführt
       wurden die sozioökonomische Situation, Sprachbarrieren, beengte Wohnungen.
       Aspekte wie die engen Familienstrukturen, die in normalen Zeiten Rückhalt
       geben, sich nun aber zum Nachteil entwickeln können, wurden nicht
       beleuchtet. Natürlich kann man hier nicht verallgemeinern, allerdings
       mehren sich Berichte aus Krankenhäusern, die dramatischer nicht sein
       könnten. Auch in Israel war beispielsweise während der Pandemie deutlich zu
       beobachten, dass die Hälfte der schwersterkrankten Covid-19-Patienten
       arabischer Herkunft waren, obwohl nur etwa 20 Prozent der Israelis arabisch
       sind.
       
       Ebenso zeigen sich statistisch relevante Unterschiede in Bezug auf
       Vorerkrankungen wie Diabetes und Adipositas, die bei bestimmten Communitys
       öfter auftreten, aufgrund ihres Essverhaltens und bewegungsarmen
       Lebensstils. Viele gehen auch selten zum Arzt, sodass Vorerkrankungen
       unentdeckt bleiben. Auch das Verhältnis zum Staat ist bei Menschen aus
       autoritären Staaten anders und meist von Misstrauen geprägt. Man erreicht
       sie schwerer, und das hat in Zeiten der Pandemie schlimme Folgen. Doch
       genau solche Überlegungen sind kaum zu lesen. Warum?
       
       Es geht offenbar nicht darum, diese Menschen zu schützen, sondern nur um
       die Bestätigung der eigenen Ideologie, um moralische Überlegenheit und
       obsessiv eingeforderte politische Korrektheit. Es ist eine elitäre Debatte
       mit dem Ziel, aus der eigenen Blase Applaus zu bekommen. Geopfert werden
       hier wissenschaftliche und journalistische Standards. Dabei könnte eine
       sachliche und tabufreie Analyse zu Erkenntnissen führen, die Menschenleben
       rettet. Ein Paradox, wenn man bedenkt, dass diejenigen, die den Anspruch
       haben, solche Communitys vor Rassismus zu schützen, aus Angst vor Rassismus
       in Kauf nehmen, dass genau diese Menschen mehr Leid erfahren.
       
       Während Coronaleugner und Impfgegner die Pandemie am liebsten per Dekret
       für beendet erklären würden, ruft die NoCovid-Gemeinde nach einem immer
       härteren Lockdown. Leben retten ist ihr Motto, und wer wollte da
       widersprechen? Aber auch wenn ihre Ziele vernünftig und nachvollziehbar
       sind, nimmt die Absolutheit der Argumentation ähnlich religiöse Züge an wie
       die der Coronaverharmoser und -leugner.
       
       Dazwischen liegt ein Minenfeld der moralischen Verwerflichkeit. Die
       Tatsache, dass wir uns bereits seit Ende November im Lockdown befinden,
       dass Kinder und Jugendliche mittlerweile seit Monaten nicht in der Schule
       waren und kaum soziale Kontakte haben, interessiert die NoCovid-Gemeinde
       nicht. Es wird absolut gedacht, die reine Erwähnung von psychischen Folgen
       der Schulschließung versteht diese Gruppe als Angriff. Schnell werden
       kritische Stimmen zu Coronaleugnern, Empathielosen und sogar Mördern
       abgestempelt. Darunter leiden der Austausch von Argumenten und die
       Offenheit für neue Denkanstöße.
       
       ## Fanatiker und Radikale dürfen die Debatte nicht bestimmen
       
       Zuletzt fielen Künstler dieser Debattenkultur zum Opfer. Unter dem Motto
       [2][#allesdichtmachen] versuchten sie auf satirische Weise, die
       [3][„Notbremse“] zu kritisieren. Von den einen wurden sie dafür gefeiert,
       von den anderen jedoch an den Pranger gestellt. Die Kritik sei respektlos
       gegenüber den Coronatoten und bestätige lediglich Verschwörungstheoretiker
       und Coronaleugner.
       
       Fanatiker und Radikale dürfen die Debatte nicht bestimmen. Jegliche Kritik
       zu delegitimieren, weil sie Zustimmung von den Falschen bekommt, ist kein
       Argument. Die daraus resultierende Sprachlosigkeit ist die beste
       Voraussetzung für Radikale, Themen exklusiv für sich zu beanspruchen.
       
       Debattieren, streiten, unterschiedliche und sehr verschiedene Meinungen
       zulassen – all dies bildet das Fundament einer Demokratie. Getragen werden
       muss es von den Medien, den Politikern, von uns allen. Statt einer
       moralisch fixierten Haltungselite, die am Leben und Alltag der meisten
       Menschen vorbeiredet, und auf einer unflektierten politischen Korrektheit
       beharrt, die Richtung der Diskurse zu überlassen, sollten wir alle wieder
       Freude daran entwickeln, uns in Frage zu stellen. Offene Debatten sind
       nicht die Vorstufe zu Rassismus oder gesellschaftlichem Zerfall. Sie helfen
       zu klären, Unterschiede und Widersprüche auszuhalten, Ängste abzubauen und
       sich mit Argumenten einen Schlagabtausch zu liefern. Das geht nur in einer
       offenen Gesellschaft.
       
       27 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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