URI: 
       # taz.de -- Politologe über Javier Milei: „Er nutzt den Vorteil der Illusion“
       
       > Lucas Romero bilanziert die ersten Monate des argentinischen Präsidenten.
       > Die Unterstützung für Milei ist ungebrochen, stellt er fest.
       
   IMG Bild: Der argentinische Präsident Javier Milei singt die Nationalhymne während einer offiziellen Zeremonie in Buenos Aires im April 2024
       
       taz: Herr Romero, spätestens in ein paar Monaten ist er weg. So lautete
       eine verbreitete Meinung, als der Libertäre Javier Milei im Dezember das
       Amt des Präsidenten übernahm. Heute scheint er aber fester im Sattel zu
       sitzen als damals. Wie schafft er das? 
       
       Lucas Romero: Milei nutzt den Vorteil der Illusion und das Fehlen einer
       Alternative. Diese beiden Komponenten erklären am besten seine
       Unterstützung. Die Mehrheit der Gesellschaft hat ein enormes Bedürfnis zu
       glauben, dass Mileis Politik funktioniert. Und dieser Wunsch zu glauben,
       macht die Menschen trotz der rigorosen Anpassungs- und Sparpolitik
       geduldig. Die Frage ist tatsächlich, wie lange und wie viel Leid sie
       ertragen werden, bevor sie sich durch Ergebnisse belohnt fühlen oder ihr
       Geduldsfaden reißt.
       
       Und die fehlende Alternative? 
       
       Mileis Sicherheitsministerin und sein Verteidigungsminister waren das
       konkurrierende konservative Kandidat*innenduo bei den Wahlen. Die
       Einbindung der konservativen Opposition in die Regierung war ein
       geschickter Schachzug. [1][Damit hat sich Milei zur einzigen Alternative
       zum abgewählten Peronismus gemacht, dessen Rückkehr ein großer Teil der
       Bevölkerung absolut nicht will].
       
       Wie hat sich die Unterstützung für den Präsidenten entwickelt? 
       
       Die Unterstützung ist ungebrochen. Von 100 Befragten, die bei der Stichwahl
       im November für Milei gestimmt haben, sind bisher 97 bei ihrer
       Wahlentscheidung geblieben, was angesichts der wirtschaftlichen und
       sozialen Lage sehr bemerkenswert ist. Auch eine weitere Zahl belegt seine
       enorme Unterstützung. In der Stichwahl hat er 43 Prozent der Stimmen aller
       Wahlberechtigten erhalten. Wenn man die aktuellen Umfragewerte in Stimmen
       umrechnet, hätte Milei heute noch mehr Stimmen als damals.
       
       Ist die argentinische Gesellschaft definitiv nach rechts gerückt? 
       
       Wenn eine Regierung scheitert, bewertet die Gesellschaft die Alternativen
       neu. Im Falle Argentiniens ist eine Regierung gescheitert, die für
       Umverteilung und eine zentrale Rolle des Staates eintrat. Vielleicht, weil
       der Staat bei diesem wirtschaftlichen Niedergang eine führende Rolle
       einnahm, während gleichzeitig sein Personal und seine Ausgaben erheblich
       gestiegen sind, haben die Menschen heute eine negative Sicht auf den Staat.
       Milei ist in erster Linie eine Reaktion auf dieses Scheitern oder den
       Untergang einer gemäßigt-linken Hegemonie und eine Neubewertung rechter und
       gemäßigt rechter Ideen. Was die politische Polarisierung angeht, so hat
       Milei ein Gleichgewicht geschaffen. Der linke Pol ist immer noch
       Ex-Präsidentin Cristina Kirchner und der rechte ist jetzt der Populismus,
       den Milei vertritt. Als Anarchokapitalist hat er jedoch keine
       nationalistische Komponente, da er den Staat und die Nation verachtet.
       
       Dennoch sehen viele Milei als politisch schwach an. 
       
       Milei ist zweifelsohne der politisch schwächste Präsident seit der Rückkehr
       zur Demokratie im Jahr 1983. Sein größtes Manko ist seine fehlende
       Autonomie Entscheidungen zu treffen. Im Senat verfügt er nur über ein
       Zehntel der Mandate und im Abgeordnetenhaus ist es ein Fünfzehntel. Um
       Gesetze durchzubringen, braucht er Vereinbarungen mit vielen Akteuren.
       
       In welchen sozialen Schichten hat die Milei die größte Unterstützung? 
       
       In sozioökonomischer Hinsicht bei den oberen und unteren
       Einkommensschichten. Die Tatsache, dass Milei bei den Armen gut ankommt,
       bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit der Armen nicht mehr den
       Peronismus wählt. Dieser hat seine Basis weiter in den unteren
       Einkommensschichten. Wenn die makroökonomischen Korrekturen durch die
       Politik des Präsidenten die soziale und wirtschaftlichen Bedingungen weiter
       verschlechtern, sprich noch mehr Inflation, noch weniger Kaufkraft und
       Konsum, möglicherweise weniger Arbeit und mehr Armut, trifft dies vor allem
       mehrheitlich nicht seine Wähler- oder Anhängerschaft. [2][Die Proteste]
       werden zunehmen.
       
       Wie schätzen Sie den Präsidenten nach knapp vier Monaten im Amt ein? 
       
       Milei beschreibt sich selbst als Anarchokapitalist, nach dessen Theorie der
       Staat eine kriminelle Vereinigung ist und glaubt, dass es Argentinien mit
       einer Dollarisierung und der Schließung der Zentralbank besser gehen würde.
       In der Praxis verhält sich Milei jedoch wie jemand, der den Staat auf einen
       Minimum reduzieren will. Aufgrund seiner politischen Schwäche versucht er,
       ein Programm umzusetzen, das eher liberal als libertär ist. Aber wenn der
       Staat verschwindet und die Probleme der Bevölkerung trotzdem nicht gelöst
       werden, könnten wir eine Rolle rückwärts erleben und der Staat wird als
       Lösung der sozialen Probleme wiederkehren.
       
       6 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Argentiniens-Praesident-vor-dem-Kongress/!5995689
   DIR [2] /Jahrestag-des-Militaerputsches/!5999955
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Vogt
       
       ## TAGS
       
   DIR Argentinien
   DIR Javier Milei
   DIR Rechtspopulismus
   DIR Javier Milei
   DIR Kolumne Stadtgespräch
   DIR Argentinien
   DIR Javier Milei
   DIR Schwerpunkt Pressefreiheit
   DIR Argentinien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Präsident Milei feiert Jubiläum: Ein Jahr lebt Argentinien mit dem Choleriker
       
       Der libertäre Präsident Argentiniens lobt in seiner TV-Ansprache seine
       schwarze Null. Die rasche Senkung der Inflation hatte einen zu hohen Preis.
       
   DIR Organisierte Kriminalität in Argentinien: Bandenkriminalität und Drogenhandel
       
       In der Hafenstadt Rosario ist die Mordrate viermal so hoch wie im
       Landesdurchschnitt. Eine Lösung ist auch unter Javier Milei eher fraglich.
       
   DIR Aufruf zum Generalstreik in Argentinien: Zeichen der Stärke und Schwäche
       
       Argentiniens größter Gewerkschaftsverband ruft zum Generalstreik auf – mit
       einem Monat Vorlauf. Das lässt Zeit für Einigung mit der Regierung Milei.
       
   DIR Jahrestag des Militärputsches: Proteste gegen Milei in Argentinien
       
       Tausende Menschen erinnern in Argentinien an Militärputsch und Diktatur.
       Sie protestieren auch gegen die ultralibertäre Regierung Milei.
       
   DIR Staatliches Fernsehen in Argentinien: Schließung mitten in der Nacht
       
       Argentiniens Präsident Javier Milei schließt die staatliche
       Nachrichtenagentur Télam. Noch regt sich Widerstand im Land.
       
   DIR Feministischer Kampftag in Argentinien: „Vor Milei haben wir keine Angst“
       
       Die Frauenbewegung demonstriert in Buenos Aires gegen den libertären
       Präsidenten – im Schulterschluss mit einem breiten zivilgesellschaftlichen
       Bündnis.