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       # taz.de -- Polizeigewalt in Deutschland: Guter Bulle, böser Bulle?
       
       > Videos von Polizeihandlungen zeigten in den vergangenen Tagen Fälle von
       > Polizeigewalt. Die Verantwortlichen wiegeln oft noch ab.
       
   IMG Bild: Ort des brutalen Polizeieinsatzes in Düsseldorf
       
       In Frankfurt werden drei Polizisten suspendiert, nachdem zwei Videos von
       einem Vorfall am 15. August im Stadtteil Sachsenhausen bekannt wurden.
       [1][Die Aufnahmen zeigen], wie mehrere Polizisten auf den jungen
       Festgenommenen einschlagen. Dieser hat sich zusammengekauert und versucht,
       den Kopf mit seinen Armen zu schützen. Ein Beamter tritt den Gefesselten.
       
       In Düsseldorf wird gefilmt, wie ein Beamter bei einem Einsatz am
       vergangenen Samstag den Kopf eines 15-Jährigen mit seinem Knie auf den
       Boden drückte. Daraufhin gehen diverse Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft
       ein. Am Donnerstag erklärt das zuständige Landesamt, der Einsatz entspreche
       „den in der Ausbildung vermittelten zulässigen Techniken“.
       
       Auch in Hamburg wurde in den vergangenen Tagen ein Polizeieinsatz [2][gegen
       einen ebenfalls 15-Jährigen gefilmt.] Der soll mit einem E-Scooter auf dem
       Bürgersteig gefahren sein. Auf dem Video ist zu sehen, wie sieben oder acht
       Beamte ihn niederringen. Es passiert vor einer Wand mit dem
       Graffiti-Schriftzug „I can't breathe“ (ich kann nicht atmen) – in Anlehnung
       an Polizeigewalt in den USA. Als Polizisten ihn am Boden festhalten, ruft
       er offenbar: „Ich krieg keine Luft, ich krieg keine Luft.“
       
       Und in Ingelheim werden Demonstranten in einem Tunnel mit Schlagstöcken und
       Pfefferspray so zusammengedrängt, [3][dass Panik ausbricht].
       
       Es sind Szenen, die sich alle in den vergangenen Tagen ereignet haben,
       dokumentiert auf privaten Videos, viel geteilt in sozialen Medien. Und die
       eine Debatte neu befeuern: Gibt es ein Problem mit Polizeigewalt auch in
       Deutschland?
       
       Debatten gab's schon 
       
       Dabei wurde die Debatte bereits vor einigen Wochen schon mal geführt. Im
       Juni hatte SPD-Chefin Saskia Esken nach gewalttätigen Polizeieinsätzen in
       den USA konstatiert, dass auch unter deutschen Beamten ein „latenter
       Rassismus“ existiere – und damit breite Kritik auf sich gezogen.
       
       Nach einer [4][taz-Kolumne über die Gewalt bei der Polizei] drohte
       Bundesinnenminister Horst Seehofer gar mit einer Anzeige. Danach hatten
       sich alle in ihre Lager verschanzt: Polizei und Innenminister schlossen
       ihre Reihen, die PolizeikritikerInnen ebenso.
       
       Auch diesmal ähneln sich die Reaktionen. Während im Netz die Polizei heftig
       kritisiert wird, forderte die rechte Deutsche Polizeigewerkschaft,
       PolizistInnen „den Rücken zu stärken“. Auch bei der liberaleren
       Gewerkschaft der Polizei (GdP) erklärt ihr Vize Jörg Radek, die Beamten
       bräuchten „keine digitale Dresche, sondern realen Rückhalt“. Kritik an der
       Polizei sei erlaubt, in sozialen Medien werde diese aber zu oft zur
       „Hysterie“, der Kontext der Einsätze bleibe unberücksichtigt.
       
       Dieses Mal indes gibt es auch andere Töne. Den Polizeivorfall in Düsseldorf
       kommentierte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) zunächst „erschrocken“.
       Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) nannte den Frankfurter Übergriff
       „völlig inakzeptabel“ und ein „dringend zu ahnendes Fehlverhalten“. In
       diesem Fall schritten noch vor Ort Polizisten gegen ihre Kollegen ein. Auch
       in Ingelheim wird gegen sechs Beamte ermittelt. Diesmal also gibt es
       tatsächlich Konsequenzen.
       
       Ob diese Bestand haben, ist ungewiss. Die Zahl der wegen Gewalttaten
       verurteilten PolizistInnen ist weiterhin verschwindend gering. 2019 gab es
       laut Polizeilicher Kriminalstatistik 1.500 Körperverletzungen im Amt – in
       etwa so viele wie in den Vorjahren. Aber: Nur rund zwei Prozent davon
       führten zuletzt zu Anklagen – und weniger als ein Prozent zu
       Verurteilungen.
       
       Der Bochumer Kriminologe Tobias Singelnstein legte kürzlich eine der bisher
       raren Studien zur Polizeigewalt vor. Er hatte 3.350 Gewaltbetroffene direkt
       befragt. Das Ergebnis: Die Verdachtsfälle seien fünfmal größer als die
       offiziellen Zahlen. Viele Betroffene verzichteten auf Anzeigen, weil sie
       diese für erfolglos hielten – oder Gegenanzeigen fürchteten. Singelnstein
       fordert erkennbare Dienstnummern für alle Beamten und unabhängige
       Beschwerdestellen.
       
       Martin Herrnkind war 38 Jahre Polizist und Mitglied der [5][Amnesty
       International Recherchegruppe Polizei]. Heute lehrt er im Fachbereich
       Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung
       Schleswig-Holstein. Er glaubt nicht, dass die Videos eine gesteigerte
       Gewalttätigkeit der Polizei dokumentieren. Eher sieht er darin die
       gewachsene Sensibilität gegenüber Gewalt. „Früher wurden etwa Kinder
       häufiger geschlagen, es gab auf jedem Volksfest eine Schlägerei. Deswegen
       hat keiner eine Anzeige bei der Polizei gemacht.“ Heute sei Gewalt
       tendenziell geächtet. „Man lässt sich nicht mehr so viel von der Polizei
       gefallen, stuft Dinge eher als Übergriff ein und zeigt diese dann an,“ sagt
       Herrnkind.
       
       Empirie schlägt Gefühl 
       
       Das gelte umgekehrt auch für die Polizei selber: „Vor 30 Jahren wäre keiner
       meiner Kollegen auf die Idee gekommen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen.“
       Das stete Lamento der Innenminister, die Gesellschaft verrohe und deshalb
       seien Polizeibeamte objektiv immer stärkeren Angriffen ausgesetzt, sei
       nicht durch die Empirie gedeckt.
       
       Deutschland sei unter westlichen Staaten ein Sonderfall, was die
       Wahrnehmung der Gewalt angehe, sagt Herrnkind. „Wenn es in Frankreich Riots
       gibt und 60 Autos in Flammen aufgehen, sagt der Innenminister am nächsten
       Morgen, man habe die Lage in den Griff bekommen.“ In Deutschland sei das
       undenkbar. „Wir nehmen Gewalt als deutsche Gesellschaft viel schneller als
       bedrohlich wahr und das ist vielleicht auch gut so.“
       
       Herrnkind glaubt, dass noch zwei weitere Faktoren bei der Wahrnehmung der
       Gewalt eine Rolle spielen. Der eine hänge mit der wachsenden Ungleichheit
       in der Gesellschaft zusammen. Wenn die Schere von Arm und Reich immer
       weiter auseinander klafft, gebe es auch mehr gesellschaftliche Konflikte,
       die die Polizei befrieden soll.
       
       Der andere Faktor sei die Technik: „Das ging los mit dem Übergriff auf den
       Schwarzen Rodney King 1991 in Los Angeles. Der wurde zufällig gefilmt und
       danach gab es dort den größten Riot aller Zeiten.“ Filme hätten eine völlig
       andere Wirkung, „als wenn nur jemand davon spricht, dem nicht geglaubt wird
       – und dem auch von der Staatsanwaltschaft tendenziell nicht geglaubt wird.“
       
       Letztlich biete die Entwicklung die Chance einer weiteren Zivilisierung,
       glaubt er. Befeuert durch den Fall George Floyd hätten sich
       Minderheitengruppen zusammen geschlossen und so mehr Einfluss im Kampf
       gegen Polizeigewalt bekommen.
       
       Diskutiert wird auch im Bundestag. Es sei gut, wenn verstärkt hingeschaut
       werde, sagt dort Irene Mihalic, Grünen-Innenpolitikerin und Polizistin.
       „Denn leider haben die Innenminister und vor allem das konservative
       politische Spektrum jede Kritik an polizeilichen Handeln bisher pauschal
       zurückgewiesen nach dem Motto: Die Polizei hat immer Recht.“ Das sei aber
       genauso abwegig wie eine pauschale Verurteilung der Beamten. Sie plädiert
       für unabhängige Polizeibeauftragte in Bund und Ländern, an die sich Bürger
       und Beamte wenden könnten.
       
       Auf der anderen Seite steht Armin Schuster, CDU-Innenpolitiker, auch er
       Polizist. Schuster ist momentan in Rage. „Was hier gerade läuft, ist eine
       völlig übertriebene Kampagne gegen die Polizei, die schlimm ausgehen kann“,
       sagt er.
       
       Für Schuster ist klar: auch Polizisten machten Fehler. „Aber das wird
       systematisch und transparent aufgearbeitet, entsprechende Sanktionen sind
       Standard.“ Es sei aber „ziemlich abenteuerlich“, wenn „Laien“ aufgrund von
       Videoschnipseln Polizeiarbeit fundamental kritisierten. Es werde ein
       pauschales Misstrauen gegen die Polizisten geradezu geschürt, und „das wird
       ihnen das Herzblut nehmen“: die Arbeitsmoral der PolizistInnen könne
       leiden.
       
       Einer indes schweigt: Horst Seehofer. Zuletzt stellte sich der
       Innenminister uneingeschränkt vor die Polizei, lehnte ein [6][Studie zu
       Racial Profiling als überflüssig ab]. Stattdessen plädierte der CSU-Mann
       für eine Studie über Gewalt gegen Polizisten. Und eine zu Polizeigewalt?
       Das sei „kein Thema“, sagt ein Sprecher. Die jetzt diskutierten Fälle
       würden ja untersucht und von einem flächendeckenden Phänomen rechtswidriger
       Polizeigewalt könne keine Rede sein.
       
       22 Aug 2020
       
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