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       # taz.de -- Poptrend Afrobeats: Das neue Erdöl
       
       > Afrikanische Stars wie WizKid sind weltbekannt. Ihr Genre Afrobeats
       > mischt Euro- und US-Sounds mit eigener Musik. Erkundungen im Gestern und
       > Heute.
       
   IMG Bild: Der nigerianische Afrobeats-Star Davido im März 2022 in London
       
       Ein Meer aus leuchtenden Smartphone-Taschenlampen, in London trägt sich
       diese Szene vor wenigen Wochen zu, 20.000 Menschen sind in der
       ausverkauften O2-Arena. Auf der Bühne steht der nigerianische Popstar
       Davido und spielt ein episches Konzert. Alle im Publikum singen seine Texte
       auswendig und inbrünstig mit.
       
       Bis vor wenigen Jahren wurde afrikanische Musik zumeist mit den Begriffen
       „Weltmusik“ oder „Globalpop“ als folkloristisch abgetan. Davidos
       Performance zeigt, was sich getan hat: Er ist ein Star, der Rap und
       afrikanische Gesangsstile vereint, auf Englisch oder in einer
       westafrikanischen Sprache wie Yoruba singt. Dazu prasseln synkopische
       Dancehall-Rhythmen, die sich mit lokalen afrikanischen Beats mischen.
       Umhüllt ist Davidos Sound von einer polyrhythmischen Sensibilität, die
       selbst Bewegungslegastheniker:Innen zum Tanzen bringt.
       
       ## Wichtiges s am Wortende
       
       So klingt zeitgenössische Popmusik aus dem englischsprachigen Teil von
       Westafrika. Sie wird meist Afrobeats genannt. Das s am Wortende ist
       wichtig. Denn die Genrebezeichnung ist leicht zu verwechseln mit Afrobeat.
       Afrobeat nennt man eine ältere Musiktradition mit Jazz- und Funkelementen,
       wie sie seit den späten 1960ern vor allem in Nigeria gespielt wurde, am
       prominentesten von Fela Kuti. Dazu später mehr.
       
       Vor nicht allzu langer Zeit hätten Stadion-Konzerte von afrikanischen
       Musiker:innen in Europa noch für Aufsehen gesorgt. Heute sind Hits aus
       Ghana und Nigeria auch in europäischen Charts selbstverständlich. Wobei:
       Afrobeats ist weniger ein einheitlicher Stil als der Oberbegriff für Musik,
       die urbane westliche und karibische Klänge mit unterschiedlichen
       afrikanischen Stilen mischt.
       
       Als Musikrichtung entstand Afrobeats Mitte der nuller Jahre. Vor allem seit
       2005, als der erste Ableger des US-Musiksenders MTV in Afrika auf Sendung
       ging, hat Afrobeats einen riesigen Aufschwung erfahren. Künstler:innen,
       deren Songs zuvor meist mit selbst gebrannten CDs auf lokalen Märkten
       verkauft wurden, hatten nun eine Plattform mit größerer, auch
       transatlantischer Reichweite. Vor allem die Songs nigerianischer
       Interpreten wie P.Square wurden dadurch auf dem ganzen afrikanischen
       Kontinent populär, gerade in den anglophonen Ländern.
       
       Interessant ist, dass der Begriff Afrobeats eben nicht in Afrika aufkam,
       sondern in Großbritannien, mit seiner großen westafrikanischen Diaspora und
       afrikanischen Gemeinden in allen Großstädten. Als Namensgeber gilt der
       Londoner DJ Abrantee, der in seiner Radioshow regelmäßig afrikanische Musik
       spielte. Der neue, einheitliche Begriff Afrobeats profitierte vom Siegeszug
       der sozialen Medien, dadurch wurde seine Vermarktung einfacher.
       
       ## HipHop-Sample
       
       So kam es auch zu ersten internationalen Hits von Künstler:innen. Einer
       davon ist „Ojuelegba“ (2015), die eher blumige Ballade des Nigerianers
       WizKid. In einer Mischung aus Pidgin-Englisch und Yoruba besingt der
       31-Jährige das harte Alltagsleben im Arbeiterviertel Ojuelegba in Lagos.
       Die Musik basiert auf einem Sample des US-HipHop-Klassikers „Nuthin’ but a
       G Thang“ von Dr. Dre und Snoop Dogg. Auf Youtube hat der Hit von Wizkid
       inzwischen 49 Millionen Views, auf Spotify über 20 Millionen Streams.
       
       Afrobeats schafft nicht nur finanziellen, sondern auch kulturellen
       Mehrwert, gerade für Afrikaner:innen in der Diaspora. Er generiert
       nebenher ein positives Selbstbild. So beschreibt es zumindest der
       britisch-ghanaische Autor Christian Adofo über seine Jugend in England: „Es
       war cool, schwarz zu sein, aber es war uncool, Afrikaner zu sein. Kinder
       von Eltern aus Ghana und Nigeria erzählten lieber, dass sie aus der Karibik
       sind“, schrieb er in seinem Buch „A Quick Thing on Afrobeats“.
       
       Im Remix von „Ojuelegba“, entstanden mit dem kanadischen Superstar Drake
       und dem britischen Grime-Künstler [1][Skepta], singt Skepta (dessen Eltern
       aus Nigeria nach England eingewandert waren): „When I was in school, being
       African was a diss / Sounds like you need help saying my surname, Miss.“
       Dank Afrobeats ist es inzwischen also doch cool, aus Afrika zu sein.
       
       ## Blaupausen Afrobeat und Highlife
       
       Den Weg für den weltumspannenden Erfolg hat eine ältere Generation
       westafrikanischer Musiker:Innen geebnet. Afrobeats baut auf dem Erfolg
       der Blaupausen Afrobeat und Highlife auf. Für ihre Karrieren mussten jene
       Musiker:innen der 1960er Jahre große Opfer bringen. Die gewaltsame
       Auflösung ihrer Konzerte durch die Polizei oder die politische Verfolgung
       von Künstler:Innen mit sozialkritischen Texten war noch bis in die
       1980er an der Tagesordnung.
       
       Als Ghana 1957 seine Unabhängigkeit von England erlangte, wurde es nach
       Liberia zum zweiten selbstständigen Staat Westafrikas, in den Jahren danach
       erblühte die Kultur. Seit 1960 war Kwame Nkrumah Präsident Ghanas. In den
       Jahren zuvor entwickelte sich Highlife zum einflussreichen ghanaischen
       Sound. Highlife ist Tanzmusik, die westafrikanische Klänge mit
       Firstworld-Elementen wie Jazz und Marschmusiktraditionen der britischen
       Kolonialmacht vermischt.
       
       Nach der Unabhängigkeit war es vor allem der Sound in den Nachtclubs der
       Hauptstadt Accra. Es galt als Musik für die Oberschicht, während die ärmere
       Bevölkerung nur von draußen zuhören durfte. Die Elite tanzte, die Zaungäste
       nannten die Musik „Highlife“. Trotzdem wurde es Teil der ghanaischen
       Identität. Während seiner ersten Amtszeit deklarierte Nkrumah das Genre
       sogar zur Nationalkultur.
       
       ## E.T. Mensah, König des Highlife
       
       Populärste Highlife-Band der 1950er und 1960er war E. T. Mensah & The
       Tempos. In Ghana heißt E. T. Mensah auch „King of Highlife“. Die Nähe zu
       Nkruhmas panafrikanischer Bewegung zeigte sich etwa in ihren Songtiteln:
       „Ghana-Freedom“ heißt ein Hit. Für Nkrumah war die Bedeutung von Highlife
       so zentral, dass er Stipendien für Musiker:innen vergab, damit diese im
       Ausland studieren und die Botschaft von Highlife weitertragen.
       
       Etwa zur selben Zeit entstand in Nigeria Afrobeat. Als dessen Begründer
       gilt der Schlagzeuger [2][Tony Allen] (zeitweise Mitglied in der Band von
       Fela Kuti). Im Vergleich zu Highlife ist Afrobeat mehr uptempo und wurde
       durch den starken Jazzeinfluss auch jenseits von Afrika bekannt. Das lag
       vor allem an dem polarisierenden Künstler Fela Kuti.
       
       Afrobeat avancierte durch sein Charisma auch als Soundtrack der
       internationalen Black-Power-Bewegung. In [3][Nigeria] selbst gilt die in
       den 1920er Jahren entstandene „Jùjú“-Musik als populärstes Genre. Künstler
       wie Sir Shina Peters erlangten bei Weitem nicht die Bekanntheit eines Fela
       Kuti. Auch, weil „Jùjú“ verniedlichend als „World Music“ vermarktet wurde.
       
       ## Wechselnde kulturelle Zentren
       
       Lagos wurde nach der Unabhängigkeit Nigerias 1960 zum Zentrum der
       westafrikanischen Musikszene. Es gab konstanten Austausch zwischen
       Musiker:innen aus Accra und Lagos, aber auch mit den USA. Je nachdem,
       wie es die politische Lage zuließ, hielten sich die Künstler:innen in
       Ghana oder Nigeria auf. 1966 putschten Ghanas Militärs Präsident Nkrumah
       aus dem Amt. Es wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, das
       Nightlife kam zum Erliegen.
       
       Highlife galt nun als Relikt aus Nkrumahs Amtszeit, Künstler:innen
       wurden diskriminiert. Die Benachteiligung kulminierte in der Amtszeit von
       Jerry Rawlings, der 1982 das Präsidentenamt übernahm. Er beschloss eine
       drastische Steuererhöhung für Musikinstrumente, die die Künstler:innen
       hart traf. Viele gingen ins Exil: nach Großbritannien und nach Deutschland,
       vor allem nach Hamburg und Düsseldorf.
       
       Mit Highlife im Gepäck trafen ghanaische Musiker:Innen in den späten
       1980ern im Exil auf Drumcomputer, Sampler und Synthesizer. Sie öffneten
       sich für den Eurodisco-Sound. Afrikanische Rhythmen und karibische Klänge
       fusionierten etwa mit dem „kühlen“ deutschen Industrie-Sound.
       
       ## Burger-Highlife
       
       Ein afrodeutscher Hybrid von Highlife entstand, „Burger-Highlife“ genannt.
       „Burger“ ist doppeldeutig, in Anlehnung an Hamburg, dass eine große
       ghanaische Community hat. Außerdem ist „Burger“ (ausgesprochen bor-ga) ein
       ghanaisches Slangwort, mit dem ein Kosmopolit bezeichnet wird, der die
       afrikanische Heimat verlässt und den sozialen Aufstieg im Ausland schafft.
       
       Pioniere des „Burger-Highlife“ waren [4][George Darko], dessen Album
       „Friends“ als erstes „Burger-Highlife“-Werk gilt. Aber auch [5][Amakye]
       Dede, dessen Album „Me Fre Wo“ in Köln von Bodo Staiger produziert wurde,
       Sänger der NdW-Band Rheingold. Dieser neue Ghana-Pop verbreitete sich in
       der westafrikanischen Diaspora in Europa, ehe er auch in Ghana Erfolg
       feierte. „Burger-Highlife“ legte so auch den Grundstein für die
       zeitgenössische westafrikanische Fusion-Musik Afrobeats.
       
       Inzwischen ist Pop aus Westafrika raus aus der Nische. Was früher in London
       und Hamburg nur in Afro-Shops und Friseursalons lief, gehört heute in
       Westeuropa zum Mainstream. Im Vergleich zur westafrikanischen
       Crossovermusik der 1970er mag Afrobeats weniger politische Untertöne haben,
       klingt dafür aber selbstermächtigender und vielfältiger. Künstlerinnen
       mischen nun kräftig im Afropop-Geschehen mit.
       
       Allen voran die Nigerianerin Tems, die 2021 mit WizKid den Sommerhit
       „Essence“ landete. Afrobeats ist Big-Business. Wie Davido sagt: „Es ist
       unser neues Erdöl.“ Major-Labels investieren hohe Summen in
       Künstler:innen aus Westafrika. Einst von den Machthabern ins Exil
       getrieben, werden sie heute als Helden gefeiert. Sei es in den Arenen von
       Accra, Lagos oder London.
       
       24 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://www.youtube.com/watch?v=0CPQT-O99rI
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=ti05T4Pr_Eo
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Victor Efevberha
       
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