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       # taz.de -- Preis für belarussischen Schriftsteller: Europas Gang vor die Hunde
       
       > Alhierd Bacharevič hat in „Europas Hunde“ eine eigene Sprache erfunden,
       > er schreibt über Nationalismus und Putinismus. Nun erhält er eine
       > Auszeichnung.
       
   IMG Bild: Alhierd Bacharevič: Hätte es auf dem deutschen Buchmarkt wohl leichter mit einem einfacher auszusprechenden Namen, sagt er
       
       Berlin taz | Alhierd Bacharevič ist nun wirklich kein Typ, der großspurig
       daherkommt. Der belarussische Schriftsteller spricht bedacht, wägt seine
       Worte genau ab, schaut zwischendurch nachdenklich aus dem Fenster. Oder er
       zieht spöttisch die Augenbrauen hoch, wenn er sich darüber lustig macht,
       dass die Deutschen bei osteuropäischen und belarussischen Namen auf den
       Buchdeckeln zurückhaltend beim Kauf seien.
       
       Er und seine Frau – die Dichterin Julia Cimafiejeva – hätten es auf dem
       deutschen Buchmarkt wohl leichter mit einfacher auszusprechenden Namen,
       sagt er. „Ich habe mir schon einen neuen Namen für mich ausgedacht“, sagt
       er etwas verschmitzt, „er lautet: Raman Durnota. Das kann man gut
       aussprechen, und es bedeutet im Belarussischen: ‚Der Roman der Dummheit‘“.
       
       Wenn einer wie Bacharevič sich selbst nun seherische Fähigkeiten
       attestiert, wirkt das also nicht vermessen. Über sein Hauptwerk „Europas
       Hunde“, das in seinem Heimatland Belarus 2017 erschienen ist, sagt er:
       „Dieser Roman ist eine Prophezeiung, auch wenn das ein bisschen komisch
       klingt.“
       
       Damals habe niemand den Belarussen oder den Ukrainern zuhören wollen.
       „Schon als Putin an die Macht kam, wussten wir, wohin das führen könnte.
       Wir lebten im Schatten des Monsters Russland. Aber wir waren klein und
       unsichtbar.“
       
       In dem Mammutwerk „Europas Hunde“, das 2024 im Verlag Voland & Quist auf
       Deutsch erschien und 740 Seiten dick ist, entwirft Bacharevič im
       abschließenden Kapitel die Vision eines neuen Russischen Großreichs im Jahr
       2050, das sich Belarus vollständig einverleibt hat und das abgeschottet ist
       von Europa. In Europa existieren derweil wieder Nationalstaaten wie vor der
       Gründung der Europäischen Union. Ohne Reisefreiheit, ohne Euro, mit
       nationalen Währungen. Die Entwicklungen kommen einem bekannt vor.
       
       Dies ist nur ein winziger Ausschnitt eines Werks, das in sechs große
       Kapitel gegliedert ist und sich zum Beispiel mit Sprachphilosophie, der
       Utopie des Imperiums und (belarussischem) Nationalismus befasst. Es spielt
       unter anderem in Minsk, Hamburg, Prag, Paris, Erkrath im Neandertal,
       Vilnius. Und es endet in Berlin, das im Jahr 2050 eine Art neue 1920er
       erlebt.
       
       ## Eine neue Sprache ist in der Welt: Balbuta
       
       Die kühnste Leistung des Autors – beziehungsweise seines Protagonisten Oleg
       Olegowitsch – ist es, dass er eine eigene Sprache entwirft: Balbuta. Einige
       Passagen sind in der Balbuta-Sprache verfasst; der deutschen Ausgabe liegt
       ein Balbuta-Wörterbuch zur Orientierung bei.
       
       Der Titel des Werks spielt auf ein Gedicht von W. H. Auden an, das dieser
       1940, in dunkler europäischer Stunde, schrieb: „In the nightmare of the
       dark/ All the dogs of Europe bark“, heißt es darin; auch Bacharevič' Buch
       spielt „in Zeiten allgemeiner Verdüsterung“, wie es mehrmals heißt.
       
       In der kommenden Woche erhält Bacharevič den Leipziger Buchpreis zur
       Europäischen Verständigung. Die Jury begründete die Wahl mit diesem „aus
       allen erzählerischen Nähten platzenden Roman“, der „Politthriller, Epos,
       Abenteuergeschichte, Satire und Märchen“ verbinde und eine „literarische
       Zukunftsvision“ entwickle.
       
       Bacharevič, 50, ist einer der bekanntesten belarussischen Schriftsteller.
       Er wurde in Minsk geboren und ist dort groß geworden. In den neunziger
       Jahren sang er in einer Punkband namens Pravakacyja („Provokation“), er
       gehörte den literarischen Underground-Zirkeln von Minsk an, war Gründer
       einer Literaturvereinigung namens Bum-Bam-Lit.
       
       „Wir waren damals eine Gruppe skandalöser Dichter und Künstler, haben wilde
       Performances veranstaltet“, sagt er und erzählt, wie sie seinerzeit tote
       Schweine sowie Särge durch Minsk getragen hätten.
       
       In Belarus sind bereits mehr als 20 Bücher von Bacharevič erscheinen. Er
       und seien Frau Julia Cimafiejeva haben 2020 bei den Protesten gegen
       Dikatator Lukaschenko mitgewirkt, Ende jenes Jahres gingen sie ins Exil und
       leben seither in verschiedenen Städten in Westeuropa, aktuell in Berlin.
       „Europas Hunde“ wurde 2022 vom Lukaschenko-Regime verboten, sein Werk „Das
       letzte Buch von Herrn A.“ fiel ebenfalls der Zensur zum Opfer. Auch das
       eine Art Auszeichnung.
       
       „Europas Hunde“ beginnt mit einer tiefen Abhandlung über das Wesen der
       Sprache(n), mit einer Sprachbeschimpfung. All die existierenden Sprachen,
       ob Spanisch, Englisch oder Deutsch, engen den Erzähler ein und gehen ihm
       auf die Nerven, auch das Russische, „eine Sprache, die immer wie mit
       Durchsuchungsbefehl daherkommt […], blecherne Sprache der
       Wohnraumverwaltungskommissionen und Pagencorps, Sprache der großen,
       klebrigen Literatur.“
       
       ## Kann eine Sprache frei sein?
       
       Balbuta soll nun die ideale, freie Sprache sein, die kein Wir und keinen
       Gott kenne, nur eine „Vielzahl freier und einzigartiger ‚Ichs‘.“ Im
       Interview, zu dem Bacharevič in die taz kantine gekommen ist, sagt er, eine
       freie Sprache könne es gar nicht geben, sie sei ein Widerspruch in sich.
       „Die Sprache diktiert uns immer, was wir tun müssen, wie wir denken
       müssen“, sagt er.
       
       „Ich glaube, Literatur ist ein Instrument gegen die Herrschaft der
       Sprache.“ Und es gebe noch einen weiteren Grund, warum Sprache nie ganz
       frei sein könne: „Wenn wir eine Utopie aufbauen – das kann eine sprachliche
       sein -, wird es immer Opfer und Ausgeschlossene geben.“
       
       Es verwundert nun nicht, dass Bacharevič von früheren avantgardistischen
       Autoren beeinflusst ist – James Joyce, Franz Kafka, Witold Gombrowicz und
       Vladimir Nabokov sind seine Säulen(un)heiligen. Auch innerhalb von Belarus
       hätten ihn eher die Ausreißer interessiert, der Nationaldichter Janka
       Kupala sei für sein eigenes Werk nicht so bedeutend gewesen.
       
       Im 20. Jahrhundert sei die belarussische Literatur von Zäsuren bestimmt
       gewesen, erklärt er, „in der Sowjetzeit, den Vierzigern und Fünfzigern, gab
       es keine interessante Literatur, es entstand eine Leere.“ Ein Grund war die
       sogenannte „Nacht der erschossenen Dichter“ im Jahr 1937, als Stalin quasi
       die gesamte belarussische Intelligenzija auslöschen ließ.
       
       Erst in den Sechzigern seien wieder spannende Autoren wie Wassil Bykau und
       Uładzimier Karatkievič auf der Bildfläche erschienen. „Und es dauerte bis
       zu den Achtziger-, Neunzigerjahren, ehe die belarussische Literatur von
       Heute entstehen konnte. Eine urbane, europäische Literatur, die sich auf
       die westliche Literaturgeschichte bezieht.“
       
       „Europas Hunde“, das von Thomas Weiler großartig ins Deutsche übertragen
       wurde, hat noch ein weiteres großes Thema: den Nationalismus der kleinen
       Staaten. „Im 19. Jahrhundert war der Nationalismus für die Länder, die in
       Imperien lebten, überlebenswichtig, zum Beispiel für die Kroaten, die
       Tschechen, die Slowaken, die Slowenen, die Ukrainer“, sagt Bacharevič.
       
       Er stellt in seinem Buch auch die Frage, ob ein positiv konnotierter
       Nationalismus möglich ist. In einem Kapitel existiert Belarus als
       Inselreich, in dem nur ethnische Belarussen leben, Bacharevič bezieht sich
       darin auf die rechtsextreme Kryŭja-Ideologie, die es, wenn auch marginal,
       in Belarus gibt.
       
       „Das ist ein exklusiver Nationalismus“, erklärt er. „Mein Nationalismus ist
       inklusiv. Ich wünsche mir ein normales europäisches Belarus, in dem
       verschiedene Ethnien und Nationalitäten leben können.“
       
       ## Die Zukunft von Belarus
       
       Doch in der Zukunftsvision, die der Autor zeichnet, ist das selbstständige
       Belarus Geschichte. Im letzten Kapitel heißt es: „Es gab mal so ein Land.
       Noch vor dem Großen Krieg. Bis 2030 war es noch in den Karten verzeichnet.
       Biełaruś. So hieß es bei ihnen.“ Für Bacharevič leider eine realitätsnahe
       Vorstellung:
       
       „Es könnte sein, dass das eigenständige Belarus schon bald von der
       Landkarte verschwindet“, sagt er. Seine Unabhängigkeit habe Belarus schon
       jetzt verloren, „und wenn es so weiter gehen wird, wird es auch seine
       Sprache und seine Kultur einbüßen“.
       
       Wie es mit Belarus weitergeht, hängt natürlich auch vom Ausgang des
       Ukrainekriegs ab. Der Frieden, der derzeit verhandelt wird, ohne
       Sicherheitsgarantien für die Ukraine, wäre ein fauler Frieden, meint
       Bacharevič: „Der Preis für diesen Frieden ist in meinen Augen klar: 40 bis
       45 Millionen Menschen in der Ukraine werden Sklaven Russlands sein.“
       
       Vielleicht sollte „Europas Hunde“ also Pflichtlektüre werden für
       Westeuropäer, von denen immer noch manche Putins Ukraine-Lügen glauben oder
       sich Illusionen über Russland machen. Dafür aber müsste Alhierd Bacharevič
       erst mal ein anerkannter Schriftsteller im Westen werden. Und da wäre man
       wieder beim Problem mit der belarussischen Literatur und der Ignoranz ihr
       gegenüber. Zwar sei Swetlana Alexijewitsch berühmt, aber sie schreibe auf
       Russisch, das sei etwas anderes, so Bacharevič: „Wir belarussischsprachigen
       Autoren haben einen Sonderweg eingeschlagen“, sagt er.
       
       Alhierd Bacharevič meint, er wolle doch einfach nur als normaler
       europäischer Schriftsteller aus Belarus wahrgenommen werden. Dafür kann man
       ihm nur viel Glück wünschen. Oder, in Balbuta: „Ujma bumilutima!“
       
       25 Mar 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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