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       # taz.de -- Pride Month: Alles nur Einzelfälle
       
       > Sich mit dem Regenbogen als Zeichen für Diversity zu schmücken, ist en
       > vogue. Dabei wird gern verdrängt: Queers leben noch immer gefährlich.
       
   IMG Bild: CSD in Berlin, 2021
       
       Juni ist Pride-Monat! Das bedeutet, dass bunt gekleidete oder halb nackte
       Menschen in den Straßen tanzen, Regenbogenfahnen schwenken und ihre
       Diversität feiern. Mitfeiern erlaubt! Niemand kann so gut feiern wie die
       Queers, die sind ja schon von der Bezeichnung her fröhlich (engl. „gay“).
       Und mit dem Feiern erinnern sie an trübe Zeiten, in denen Homosexualität
       verboten war und trans Menschen ausgestoßen waren, und bei nichtbinär
       dachte man an Mathematik oder Physik, nicht an Geschlechtsidentität. Diese
       Zeiten sollten vorbei sein, seit Queers 1969 in New York in
       Straßenschlachten mit der Polizei die moderne LGBTIQ-Bewegung anstießen.
       Spätestens mit der Ehe für alle 2017 sollte alles in Butter sein, 2021
       färbte sich halb Deutschland in Regenbogenfarben, sogar die CSU und
       [1][alle möglichen Konzerne], also heute alles nur noch Akzeptanz,
       Solidarität, Diversity, Party, yeah.
       
       Sollte so sein. Aber die erste Hälfte des Pride-Monats Juni 2022 zeigt,
       dass die vermeintliche Erfolgsgeschichte der angeblich immer mehr
       akzeptierten queeren Minderheiten in Gefahr ist. Dass Ausgelassenheit und
       Freude auf Pride-Demos und Christopher Street Days ihren Platz haben, aber
       dass sie immer noch als politische Demonstrationen gebraucht werden.
       
       Den Auftakt machte gleich am 1. Juni die Tageszeitung Welt, die in einem
       Text fünf Gastautor_innen ausführlich erklären ließ, dass es sowieso nur
       zwei Geschlechter gibt, alles andere sei „Transgender-Ideologie“, mit der
       Kinder unter anderem in der [2][„Sendung mit der Maus“ indoktriniert
       würden]. Von den Autor_innen hat nur einer näher mit trans Menschen zu tun:
       Alexander Korte, Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
       der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wird gern in Medien zu Wort
       gebeten, wenn ein Kronzeuge aus der Medizin gebraucht wird, der
       Transgeschlechtlichkeit als bloßen „Zeitgeist“ abtut – auch in der taz
       durfte er ohne kritische Nachfragen kürzlich Transgeschlechtlichkeit als
       „hip“ denunzieren und behaupten, dass trans Menschen nach ihrer Transition
       nicht glücklicher seien als vorher.
       
       Dass Sorge um Kinder vorgeschoben wird, wenn es eigentlich um Hass auf
       LGBTIQ geht, ist nichts Neues: Von Baden-Württemberg ausgehend wehren sich
       seit Jahren „besorgte Bürger“ aus dem AfD-Umfeld gegen die Erwähnung von
       Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit im Schulunterricht. So
       offensichtlich homo- und transfeindlich das ist, so absurd schon der
       Gedanke ist, dass ein Kind schwul oder lesbisch oder trans wird, nur weil
       es einmal eine Dragqueen gesehen hat (zumal das Kind in allen Lebenslagen
       mit der Darstellung von heterosexuellen cis Pärchen konfrontiert wird) – so
       hartnäckig hält sich das Postulat, Kinder müssten geschützt werden.
       
       ## Alles unter dem Vorwand „Kinderschutz“
       
       Und das verfängt auch 2022. Beispiel Texas, 6. Juni: Der Politiker Bryan
       Slaton kündigt an, dass er sich für [3][ein Verbot von Drag-Shows vor
       Kindern einsetzt] – also ein Gesetz, das fatal denen aus Russland und
       Ungarn ähnelt, die unter dem Vorwand des Schutzes von Kindern die
       öffentliche Erwähnung von queeren Lebensweisen unter Strafe stellen.
       Beispiel Wien, 7. Juni: In der Nacht vor der angekündigten
       Kinderbuch-Lesung der Dragqueen Candy Licious in der Mariahilfer Bücherei
       mauern vermutlich rechtsextreme Identitäre den Eingang der Bibliothek zu.
       Später am Tag versuchen rechte Gruppen, die Lesung zu stören – die Polizei
       ist vor Ort, [4][verhaftet aber allein einen linken Gegendemonstranten].
       Beispiel San Lorenzo, Kalifornien, 12. Juni: Fünf Rechtsradikale der „Proud
       Boys“ stürmen eine Dragqueen-Lesung in der öffentlichen Bibliothek in San
       Lorenzo südlich von Oakland und beschimpfen vor den Vorschulkindern
       aggressiv die [5][Dragqueen Panda Dulce, die dort den Kindern aus einem
       Buch vorliest].
       
       Im Städtchen Coeur d’Alene im US-Bundesstaat Idaho vereitelt die Polizei am
       11. Juni einen womöglich gewaltvollen Angriff auf den dortigen „Pride in
       the Park“: Die Beamten stoppen einen Kleinlaster mit 31 maskierten,
       uniformierten und bewaffneten Rechtsextremisten, die offenbar den Pride
       angreifen wollen.
       
       Ein Anwohner hatte die Männer [6][in den Wagen steigen sehen und daraufhin
       die Polizei alarmiert]. Organisator der Aktion war die „Patriot Front“, die
       unter dem Namen „Vanguard America“ eine der maßgeblichen Organisatorinnen
       der berüchtigten „Unite the Right“-Demonstration von Charlottesville 2017
       war, [7][bei der eine linke Gegendemonstrantin ermordet wurde]. Der
       vereitelte Angriff auf den Pride erfolgte übrigens fast auf den Tag genau
       sechs Jahre nach dem Anschlag auf den queeren Club Pulse in Orlando,
       Florida, bei dem ein bewaffneter [8][Angreifer aus homofeindlichen Motiven
       49 Menschen ermordet hatte].
       
       ## Auch in Deutschland kommt es zu Angriffen
       
       Gewalt gibt es auch im deutschsprachigen Bereich: Nach dem Karlsruher
       Christopher Street Day am 5. Juni kommt es zu einem Übergriff auf einen
       Demo-Teilnehmer, die Angreifer entreißen ihm seine Regenbogenfahne und
       zünden diese an, dann prügeln sie auf ihn und weitere Personen ein, die ihm
       zu Hilfe eilten. Die herbeigerufene Polizei weist erst mal die
       angegriffenen Queers zurecht. [9][Inzwischen ermittelt der Staatsschutz].
       
       Und ebenfalls Anfang Juni lehnt es die Zürcher Staatsanwaltschaft ab, eine
       Strafuntersuchung in Sachen „Diversity-Böögg“ zu eröffnen. Das ist eine
       große Figur, die Ende April im Örtchen Bassersdorf bei Zürich zum
       Winteraustreiben symbolisch verbrannt wurde – eine Person mit Brüsten,
       Penis und Regenbogen-Rock. Ein 82-jähriger Besucher hatte nach dem Vorfall
       Strafanzeige erstattet, es sei „menschenverachtend“ und eine „völlige
       Entgleisung“ gewesen. [10][Die Staatsanwaltschaft findet nichts dabei].
       
       Was das bedeutet? Alles Einzelfälle? Das Bild ist diffus, aber selbst als
       Einzelfälle machen diese Ereignisse deutlich: Diese Gesellschaft ist noch
       nicht so weit, wie sie sein sollte. Party machen und mit Regenbogenfahne
       wedeln sollten nicht vertuschen, dass Queers auch in der westlichen Welt
       noch immer gefährlich leben. Der Pride-Monat, die Christopher Street Days
       und Demonstrationen sind notwendig. Solidarität ist gefragt – unter LGBTIQ,
       [11][aber auch von heterosexuellen und cis Verbündeten]. Damit die Scheiße
       mal ein Ende hat.
       
       19 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Berliner-Olympiastadion-als-buntes-Zeichen/!5777897
   DIR [2] /Umstrittener-Gastbeitrag-in-der-Welt/!5856896
   DIR [3] https://twitter.com/BryanforHD2/status/1533820586048241669
   DIR [4] https://www.ggg.at/2022/06/07/proteste-gegen-drag-queen-lesung-in-wien-eine-festnahme/
   DIR [5] https://www.nbcbayarea.com/news/local/east-bay/authorities-say-proud-boys-disrupt-childrens-event-at-san-lorenzo-event/2917285/
   DIR [6] https://www.losangelesblade.com/2022/06/11/coeur-dalene-idaho-police-arrest-armed-extremists-protesting-pride-event/
   DIR [7] /US-Neonazi-toetet-Gegendemonstrant/!5439443
   DIR [8] /Angriff-auf-Nachtklub-in-Orlando/!5309036
   DIR [9] https://www.queer.de/detail.php?article_id=42223
   DIR [10] https://www.queer.de/detail.php?article_id=42231
   DIR [11] /Verbuendeter-fuer-trans-Menschen-sein/!5841309
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malte Göbel
       
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