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       # taz.de -- Priester über Reformen in der Kirche: „Kirche sollte Platz für alle haben“
       
       > Früher war Wolfgang Rothe ein Konservativer. Heute segnet er homosexuelle
       > Paare und klagt in seinem neuen Buch die katholische Sexualmoral an.
       
   IMG Bild: „Kirche kann man nur von innen verändern“ sagt Priester Rothe
       
       Perlach, ein dörflich anmutender Stadtteil in München. Die Kirche St.
       Michael erhebt sich gelb-weiß, mit barockem Zwiebelturm an einem Platz.
       Pfarrvikar Wolfgang Rothe, schmal und jung wirkend in seiner bodenlangen
       schwarzen Soutane, lädt in seine Privatwohnung über dem Kindergarten.
       Drinnen wabert Rosenduft, die Einrichtung ist moderner Barock: rote
       Teppiche, dunkles Holz, eine wuchtige Couchgarnitur. In der Ecke wacht eine
       Statue des heiligen Sankt Cyriakus, der einen Drachen bezwingt. 
       
       taz: Herr Rothe, Sie haben 2021 im Rahmen der [1][Aktion „Liebe gewinnt“]
       homosexuelle Paare gesegnet, obwohl das laut Weisung des Papstes untersagt
       ist. Wie ist das hier angekommen, im konservativen Oberbayern?
       
       Wolfgang Rothe: Ich habe in der Gemeinde sehr viel Rückhalt, die Menschen
       hier sind für vieles offen. Ich bin stolz auf meine Gemeinde! Und auf
       unseren kollektiven Akt des Ungehorsams. Kein Bischof wird sich mehr
       trauen, einen Priester deshalb zu sanktionieren, wir sind einfach zu viele!
       Allerdings darf die Segnung homosexueller Paare nur ein Zwischenschritt
       sein auf dem Weg zur Ehe.
       
       [2][Sie provozieren gern] mit Äußerungen wie: „Mein Ideal von Kirche wäre
       verwirklicht, wenn eine katholische Priesterin ein schwules Paar traut und
       sich niemand darüber aufregt.“ Werden Sie das noch erleben? 
       
       Nein. Es gibt zwar eine breite Basisbewegung, nicht nur in Deutschland, die
       sagt, es muss sich was ändern. Aber die beharrenden Kräfte sind auch stark.
       In manchen Ländern sind die jungen Priester heute viel konservativer als
       die älteren. Wer sich durchsetzt, darüber wage ich keine Prognose. Aber ich
       leiste meinen Beitrag.
       
       Ihr kürzlich erschienenes Buch „Missbrauchte Kirche“ ist eine heftige
       Anklage gegen die katholische Sexualmoral. Welche Reaktionen gab es? 
       
       Mir wurde berichtet, dass mein Buch Gesprächsstoff im Vatikan gewesen ist.
       Offiziell gehört habe ich von dort nichts. Ich bekomme gigantischen
       Zuspruch, aber auch Hassbotschaften, Leute wollen mich exkommuniziert
       sehen. Aber das sind meist anonyme Angriffe. Mir ist bewusst, dass ich mich
       weit aus dem Fenster lehne. Aber ich habe mir das vorher gut überlegt – und
       wäre auch bereit, die letzte Konsequenz zu tragen: den Ausschluss aus der
       Kirche.
       
       Sie bezichtigen Ihren ehemaligen Vorgesetzten, den Bischof Klaus Küng aus
       dem österreichischen St. Pölten, Sie 2004 als jungen Pfarrer mit einem
       Psychopharmakon betäubt und einen sexuellen Übergriff verübt zu haben. Was
       passierte seither? 
       
       Bischof Küng hat gegen das Buch geklagt – und ist auch in zweiter Instanz
       gescheitert. In gewisser Weise war ich enttäuscht, ich hätte gerne als
       Zeuge vor Gericht meine Geschichte erzählt. Es geht ja nicht nur um meinen
       Einzelfall. Ich weiß von anderen Opfern dieses Bischofs und auch aus
       anderen Bereichen der Kirche. Darum habe ich es als meine Verantwortung
       gesehen, zu sprechen.
       
       Sie haben sich an den zuständigen Kardinal gewandt, an die Ombudsstelle des
       Bistums, sogar selbst in Rom Meldung gemacht. Haben Sie Gehör gefunden? 
       
       Im Gegenteil – Rom hat versucht, die Sache zu vertuschen. Angeblich hatte
       die Kongregation der Bischöfe in Rom nach intensiver Prüfung entschieden,
       dass meine Vorwürfe haltlos sind. Nur wurden weder Akten gesichtet noch ein
       einziger Zeuge vernommen. Man hat es nicht mal für nötig befunden, mit mir
       zu sprechen. Dabei hätte es ein vorgeschriebenes Prozedere gegeben: Papst
       Franziskus hat im Mai 2019 ein Dokument erlassen, in dem zum ersten Mal der
       Umgang mit Missbrauchsfällen geregelt wird, bei denen die Betroffenen
       bereits erwachsen waren, und wie vorzugehen ist, wenn die Täter Bischöfe
       sind. Dieses Verfahren passt genau zu meinem Fall! Leider hat Rom die
       Vorschriften nicht angewandt.
       
       Warum nicht? Hat Papst Franziskus den eigenen Laden nicht im Griff? 
       
       Hier geht es um kirchenpolitische Interessen. Sollen bestimmte Würdenträger
       geschützt werden, wird solchen Vorwürfen nicht nachgegangen. Will man
       jemanden loswerden, tut man es. Als Kirchenrechtler schäme ich mich für
       diesen willkürlichen Umgang mit kirchlichem Recht. Gesetzgebung,
       richterliche Gewalt und Exekutive werden vermischt und je nach
       Interessenlage eingesetzt.
       
       Diese Willkür spiegelt sich auch [3][im Missbrauchsgutachten, das kürzlich
       in München vorgestellt wurde]. Der damalige Erzbischof von München und
       spätere Papst, Josef Ratzinger, bestreitet, von den Vorwürfen gegen einen
       Priester gewusst zu haben. Wie glaubwürdig ist das? 
       
       Selbst wenn er es nicht gewusst hätte, was ja inzwischen widerlegt ist: Es
       wäre in jedem Fall seine Pflicht gewesen, sich zu erkundigen, warum der
       Mann in seine Diözese (Amtsgebiet eines katholischen Bischofs; d. Red.)
       versetzt werden sollte. Die Kirche bekommt die Aufarbeitung einfach nicht
       hin, deshalb sollte der Staat übernehmen. In Spanien gibt es eine
       Untersuchungskommission, die bei der Generalstaatsanwaltschaft angesiedelt
       ist. Das wäre ein Vorbild.
       
       Sie selbst waren als junger Priester sehr konservativ, lehnten unter
       anderem die Frauenordination ab. Wann haben Sie angefangen, anders zu
       denken? 
       
       Ich suchte nach dem unverkrampft konservativen Katholizismus meiner
       Kindheit. Zunächst dachte ich, nur das sei katholisch. Später habe ich
       dazugelernt und gemerkt: Konservativ hat viele Gesichter: Es gibt den
       Barock mit Weihrauch, Kerzen und Blumen. Mittlerweile habe ich auch das
       schlichte moderne Ambiente schätzen gelernt. Beides sollte in der Kirche
       nebeneinander existieren können. Kirche sollte Platz für alle haben. Wenn
       ich heute eine evangelische oder anglikanische Pfarrerin erlebe, freue ich
       mich! Auch den Homosexuellen sollte die Kirche sagen: Ihr seid von Gott
       geliebt. Statt dessen hat sich die Kirche an ihrer Ausgrenzung beteiligt
       und große Schuld auf sich geladen.
       
       125 MitarbeiterInnen der katholischen Kirche haben sich jetzt [4][in einer
       konzertierten Aktion als queer geoutet] und ein Ende ihrer Diskriminierung
       gefordert. Wie stehen Sie dazu? 
       
       Über diese Initiative freue ich mich sehr. Bisher waren wir Einzelkämpfer,
       jetzt wird es eine Massenbewegung. Es sollte keine Rolle spielen, welche
       geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung eine Person hat. Jeder
       Mensch ist, wie er ist, und das sollte er auch sein dürfen – weil Gott ihn
       so geschaffen hat!
       
       Sie beschreiben ein Wohnheim des Opus Dei in Rom, in dem es nur Zimmer mit
       ungerader Bettenbelegung gibt. So soll homosexueller Paarbildung vorgebeugt
       werden. Was ist das für ein Milieu? 
       
       Organisationen wie Opus Dei haben in Deutschland einen eher geringen
       Einfluss. In anderen Teilen der Welt und auch im Vatikan ist das völlig
       anders. Dort sind sie eng mit Wirtschaft und Politik verflochten, sie
       verfügen über ein immenses Vermögen. Im Vatikan gelten sie als
       Eliteschmieden, die Zugang zu Führungspositionen ermöglichen. Von den Orden
       unterscheiden sich kirchliche Gemeinschaften durch ihre Fixierung auf
       charismatische Führerpersönlichkeiten und eine starke innere Disziplin mit
       vertikalem Machtgefüge, ähnlich wie bei Sekten.
       
       Sie wurden als junger Pfarrer mehrfach von solchen geistlichen
       Gemeinschaften umworben. Warum sind Sie nirgends eingetreten? 
       
       Ich fühlte mich unwohl in dieser Atmosphäre des moralischen Drucks. Ich
       hatte aber auch Rückhalt in meiner Heimat und war nicht angewiesen auf
       diese Leute. Andere junge Priesteranwärter, gerade aus ärmeren Ländern,
       sehen in solchen Gemeinschaften oft die einzige Möglichkeit, aus ihren
       beengten Verhältnissen herauszukommen. Wer da einmal drinsteckt, ist auf
       Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ich befürchte, dass diese Gemeinschaften
       weiter an Einfluss gewinnen werden, auch in Deutschland. Weil der normale
       Katholizismus wegbricht und sich Leute von der Kirche abwenden. Die
       liberalen Katholiken werden weniger, die konservativen nicht: Denen spielt
       die Zeit in die Hände.
       
       Man stärkt also die falschen, wenn man jetzt austritt? 
       
       Es gibt viele legitime Gründe, aus der Kirche auszutreten. Ich persönlich
       kann diesen Schritt nicht gehen, weil ich damit diejenigen im Stich lassen
       würde, die noch in der Kirche bleiben und den Machtstrukturen ausgeliefert
       sind. Zudem kann man Kirche nur von innen verändern.
       
       Sie gehen dabei unkonventionelle Wege und bitten als „Whiskyvikar“ nach dem
       Gottesdienst ab und zu zur Verkostung im Pfarrheim. Wie kam es dazu? 
       
       Das hat mit meiner anderen Geschichte zu tun: In einer Zeit, in der ich
       nicht über meine Missbrauchserfahrungen sprechen konnte, weil ich wusste,
       dass niemand mir glauben würde, habe ich mir ein Tätigkeitsfeld mit großer
       Schnittmenge nach außen gesucht. Ich genieße Whisky, besonders
       schottischen. Ich schloss mich dem Münchner Whiskyclub an, wo man mich auch
       als Priester selbstverständlich willkommen hieß. Die kirchliche Blase zu
       verlassen, schafft Freiheit, das sollten Seelsorger öfter machen.
       
       30 Jan 2022
       
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