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       # taz.de -- Pro und Contra: Sind die Austritte bei der Linkspartei gerechtfertigt?
       
       > Prägende Gesichter haben die Linke verlassen. Ist das angesichts der
       > Antisemitismus-Debatte konsequent? Oder Zeichen mangelnder
       > Kompromissfähigkeit?
       
       ## Ja
       
       Austritt. Nichts anderes blieb Klaus Lederer und den anderen prominenten
       Landespolitikern der Linkspartei übrig, die nun jene Partei verlassen
       haben, der sie jahrzehntelang angehörten. Ob links, mittig oder rechts im
       Parlament: Wer guten Gewissens in den Spiegel gucken will, kann nicht in
       einer Partei bleiben, die sich a) nicht ausdrücklich von Antisemitismus
       auch in den eigenen Reihen distanziert und b) nicht rechtsstaatlich dagegen
       vorgehen mag.
       
       Die Zukunft Israels und der Schutz von Jüdinnen und Juden in Berlin ist
       kein beliebiges Streitthema, bei dem es zum demokratischen Verfahren
       gehört, auch eine anders ausfallende Parteitagsmehrheit zu akzeptieren. Es
       geht nicht um ein Bauprojekt oder Haushaltsfragen, es geht um eine
       Grundhaltung zu einer untrennbar mit der deutschen Geschichte verbundenen
       Frage: Steht die Partei tatsächlich klar gegen jeglichen Antisemitismus?
       
       Nach dem Verlauf des jüngsten Landesparteitags und einer
       Landesvorstandssitzung am Dienstag kann die Antwort nur sein: Nein. Da
       erklärte sich die Parteispitze ausdrücklich mit denen solidarisch, die beim
       Parteitag für eine Entkernung jenes Antrags sorgten, [1][mit dem Lederer
       und andere jeglichen Antisemitismus verurteilten]. Beantragt hatten die
       verwässernden Änderungen [2][unter anderem zwei Mitglieder der
       Abgeordnetenhausfraktion und eine Bezirksstadträtin.]
       
       Manche Reaktionen auf das Geschehen arbeiteten sich am Begriff
       „eliminatorischer Antisemitismus“ ab, mit dem – so der Vorwurf – die Gruppe
       um Lederer die Shoah verharmlose. Bezug wurde genommen [3][zum US-Autor
       Daniel Jonah Goldhagen] und seinen Bestseller von 1997 „Hitlers willige
       Vollstrecker“. Alles interessant, aber – [4][wie es die neue
       Bundesvorsitzende Ines Schwerdtner in einem Interview sagte] – „was für ein
       akademisches Fachseminar“.
       
       ## Änderung zentraler Antragspassagen
       
       Fakt ist: Eine Mehrheit der Delegierten [5][stellte sich beim Parteitag
       hinter drei zentrale Änderungen]. So fiel die Formulierung raus, jüdische
       Menschen „unter Einsatz rechtsstaatlicher Mittel“ zu schützen, genauso wie
       „konsequente Strafverfolgung“. Aus der Formulierung „sich politisch links
       verortende Menschen in Berlin“ hätten das Massaker vom 7. Oktober
       relativiert und mitunter gefeiert, wurde nur „Menschen in Berlin“.
       
       In so einem Umfeld zu bleiben wäre Selbstverleugnung gewesen. Dass etwa
       Fraktionschefin Anne Helm nicht ausgetreten ist, die den Lederer-Antrag
       unterstützte, mag ein Versuch sein, die Partei nicht ganz anderen zu
       überlassen. Das kann man honorig nennen. Doch letztlich stützt sie so als
       eines der wenigen verbliebenen breiter bekannten Gesichter nur eine
       desaströse Entwicklung.
       
       Die Hoffnung kann bloß sein, dass das geballte Potenzial dreier teils noch
       2023 im Senat sitzender, überparteilich anerkannter Ex-Senatoren und
       weiterer kluger Köpfe Berlin in einer neuen politischen Heimat erhalten
       bleibt.
       
       Konkrete Nutznießerin ist allein die CDU: Mit dem Austritt jener, die
       vorrangig für die „Regierungslinke“ standen, ist im Abgeordnetenhaus für
       den Fall eines Zoffs mit der SPD die rechnerische Koalitionsalternative
       Rot-Grün-Rot kein Thema mehr. Stefan Alberti
       
       ## Nein
       
       Nun ist es also doch passiert: Die Debatte um Nahost und Antisemitismus,
       die die gesellschaftliche Linke seit einem Jahr zerlegt, hat nun mit
       Verzögerung auch die Partei Die Linke voll erwischt. Zwar hatte der
       [6][Bundesparteitag am Wochenende in Halle noch einen durchaus tragfähigen
       Kompromiss] gefunden, doch der angestaute Frust war für einige Mitglieder
       dann doch zu groß.
       
       Nach dem Austritt von [7][Henriette Quade] in Sachsen-Anhalt
       [8][verabschiedeten sich am Mittwoch die ehemalige Führungsriege der
       Berliner Linken]: die Ex-Senatoren Klaus Lederer, Elke Breitenbach und
       Sebastian Scheel, sowie Ex-Fraktionschef Carsten Schatz und der Abgeordnete
       Sebastian Schlüsselburg. Sie reagierten damit auf einen Streit um einen
       Antisemitismus-Antrag, der auf dem Landesparteitag vor anderthalb Wochen
       eskaliert war.
       
       Mitten in der größten Krise der Partei reißen die fünf, die dem
       parteirechten Reformerlager angehören, damit einen der letzten stabilen
       Landesverbände in den Abgrund. Sie werden zu Kronzeugen für das Zerrbild
       [9][einer Linken mit Antisemitismusproblem], das die politische Konkurrenz
       und die mediale Öffentlichkeit so begierig aufgreift. Konservativen und
       Rechten kommt es gelegen, um sich selbst von jedem Antisemitismusverdacht
       reinzuwaschen.
       
       Die Ausgetretenen selbst, für die allesamt Israel-Solidarität politisch
       identitätsstiftend ist, haben ein Bild von der Linken vor Augen, das einer
       nüchternen Überprüfung nicht standhält. Denn Programmatik und Beschlusslage
       der Partei sind eindeutig, sowohl bundesweit als auch in Berlin:
       Antisemitismus wird darin immer und immer wieder entschieden
       entgegengetreten. Auch prominente Parteimitglieder, die Grenzen
       überschritten hätten, sind Mangelware. Was es dagegen gibt, sind
       vereinzelte Mitglieder in Kreisverbänden, die in ihrer blinden Solidarität
       mit Palästina auch Antisemitismus reproduzieren.
       
       ## Krisen-Sondersitzung des Vorstands
       
       Richtig ist auch: Die vom Landesvorstand der Berliner Linken in einer
       Krisen-Sondersitzung am Dienstagabend beschlossene Distanzierung von jenen,
       die den Hamas-Terror als Widerstand verharmlosen, hätte früher kommen
       müssen. Dass andererseits aber auch jene Mitglieder verteidigt wurden, die
       für eine palästinensische Parteinahme mit pauschalen
       Antisemitismusvorwürfen überzogen werden, ist aber genauso richtig für eine
       plurale Partei, die um den richtigen Kurs ringt, statt bloß einer
       Staatsräson zu folgen.
       
       Ein linker Standpunkt denkt den Kampf gegen Antisemitismus zusammen mit der
       Kritik an Israels entgrenztem Krieg: er macht keinen Unterschied zwischen
       den Opfern auf beiden Seiten. Es ist zum Verzweifeln, wenn Linke an dieser
       Erkenntnis scheitern – unabhängig davon, aus welcher Richtung sie auf den
       Konflikt blicken.
       
       Der Austritt irritiert auch, weil er ohne echte politische Perspektive
       erfolgt; die Ausgetretenen wollen Teil der Linksfraktion bleiben und
       hoffen, sich irgendwann wieder in einer erneuerten sozialistischen Partei
       zu engagieren, wie sie schreiben. Doch das Fortbestehen einer Linken in
       diesem Land ist mit dem Austritt nicht wahrscheinlicher geworden. Dabei
       wäre sie nötiger denn je.
       
       Erik Peter
       
       24 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://dielinke.berlin/fileadmin/user_upload/A4_-_BV_Pankow_-_Gegen_jeden_Antisemitismus_3.pdf
   DIR [2] https://dielinke.berlin/fileadmin/Parteitage/9._Landesparteitag/4._Tagung/AEA_4.3_-_Kerstin_Wolter_u.a..pdf
   DIR [3] https://library.fes.de/fulltext/historiker/00015.htm
   DIR [4] https://www.tagesspiegel.de/politik/neue-linken-chefs-im-doppelinterview-ines-braucht-noch-ein-bisschen-mehr-verstandnis-fur-boomer-12561932.html
   DIR [5] /Linkspartei-streitet-ueber-Antisemitismus/!6039646
   DIR [6] /Linksparteitag-in-Halle/!6043667
   DIR [7] /Ausgetretene-Linken-Politikerin-Quade/!6041455
   DIR [8] /Linke-in-Berlin/!6044784
   DIR [9] /Antisemitismus-Streit-in-Berliner-Linke/!6041305
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
   DIR Stefan Alberti
       
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