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       # taz.de -- Pro und Contra Helmut Schmidt: Der ewige Altkanzler
       
       > Helmut Schmidt, SPD-Ikone und Ex-Bundeskanzler, wird demnächst 90 Jahre
       > alt - und ist, als "Zeit"-Herausgeber und Autobiograf ("Außer Dienst"),
       > derzeit präsenter denn je. Muss das sein?
       
   IMG Bild: Sollte er im Schatten der Medien bleiben?
       
       PRO 
       
       So läuft das in Familien: Der Großvater genießt bei den Enkeln fast jeden
       Kredit; er ist milde, weil er nichts mehr muss; er weiß Rat, davon hat er,
       fragt man ihn, reichlich parat; er kann aus der Welt berichten, weil er sie
       kennt; eitel mag der Familienälteste gewesen sein, jetzt, im hohen Alter,
       wirkt er vor allem ausgeruht, auf, je nach Gemüt, heitere oder bittere
       Weise, und das weiß er auch, deshalb braucht er auch nicht mehr mit den
       Ärmchen zu flattern wie seine Kinder, die noch mitten im Beruf, im Leben
       stehen, immer Rivalen fürchtend, um Anerkennung buhlend.
       
       So kann man Helmut Schmidt sehen, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland
       bis 1982, in seinen Worten der erste der leitenden Angestellten des Landes.
       Jüngere haben es leicht, ihn so zu sehen, neulich erst bekam man für diese
       Sicht reichlich Anschauungsmaterial geliefert, entweder im Berliner
       Ensemble im Gespräch mit Claus Kleber, angelegentlich der Vorstellung
       seiner Memoiren unter dem Titel "Außer Dienst", oder im Fernsehen, bei
       "Beckmann".
       
       Helmut Schmidt, im übernächsten Monat wird er 90 Jahre alt, ist der
       populärste Politiker dieses Landes, er könnte, wollte er, sofort
       Müntefering und Steinmeier zugleich von ihren Thronen hieven - er bekäme
       Applaus. Die Söhne können es eben nicht so, jedenfalls nicht so gut.
       
       Fragt man heute Menschen, die das 35. Lebensjahr noch nicht vollendet
       haben, ob sie sich an die politisch agile Zeit des Helmut Schmidt erinnern,
       fallen die Antworten karg aus. Wie sollte es anders sein. Ist doch alles
       Geschichte. Dabei verkörpert dieser Großvater immer noch eine Lebendigkeit,
       die ihn, so geht die Fantasie, zum CEO der Deutschland AG qualifizierte.
       
       Früher, in den Siebzigerjahren, das muss man den Jüngeren verraten, war
       Schmidt jener Familienvater, den man hasste, den man den Verrats zieh, im
       Grunde alles Übelwollende unterstellte.
       
       Schmidt, der, das erschließt sich nicht mehr, hört man ihm heute zu,
       "Schnauze" genannt wurde, weil er politische Kontrahenten mit beißendem
       Spott schneidig zu überziehen pflegte, dieser Schmidt war der Vater der
       Grünen. Ohne sein Credo, dass, wer Visionen habe, bitte zum Arzt gehen
       möge, wäre aus dem linksökologischen Anliegen ein sozialdemokratisches
       Gemütsflügelchen geworden. Aber Schmidt war so hart mit dem, was die
       Anliegen der Grünen waren, dass man ihn verlassen musste. Unter dessen
       Tisch wollte man seine Füße nicht mehr stellen. Mit Schmidt sind politische
       Zeitläufte verknüpft, die allererst unter den Stichworten Deutscher Herbst
       und Nachrüstungsbeschluss bekannt sind.
       
       Weiches Wasser, kuschelnde Zärtlichkeit im Politischen, Träume vom Strand,
       der unter dem Pflaster liege, waren mit ihm nicht zu haben.
       
       Für ihn lag dort das Pflaster der nüchtern stimmenden Vernunft: Und die gab
       ihm Recht, die Sowjetunion war militärisch übergerüstet und obendrein
       bankrott; und im Deutschen Herbst war er auch ein guter Manager gegen den
       antidemokratischen Furor des linken Terrors. Dass er rechtsstaatliche
       Grenzen wenigstens tangierte, weiß ja heute keiner mehr. Er würde sagen,
       Not kennt, leider, kein Gebot.
       
       Das Irritierende aber ist: In der internationalen Finanzkrise wird Schmidt,
       der Herausgeber der Zeit, als Visionär erkennbar. In einer Fülle von Texten
       und Beiträgen seit 15 Jahren mindestens warnte er vor den Leerbuchungen der
       Finanzwirtschaft und forderte früh die marktwirtschaftliche Regulierung der
       Finanzmärkte. Freie Märkte sind schön, so Schmidt, aber ohne demokratische
       Kontrolle nur als ungehemmt denkbar. Er steht, so gesehen, Attac und
       anderen Bürgerinitiativen nahe, die lange schon vor den Verheerungen der
       Loskoppelung der Ökonomie von der Politik warnten.
       
       Vielleicht nimmt man ihn ernst, weil er formal nichts mehr zu sagen hat.
       Dass seine Enkel ihn mögen, weil, gemessen an seinem Sprechen, alle seine
       Kinder und also die Eltern der Kinder so hysterisch zu agieren scheinen.
       Ein Großvater, der ohne viel Geschwurbel hin und wieder, kam es zum Schwur,
       Ansagen machte. Der die Kategorie der Vernunft für tauglich hält, einzig
       sie. Helmut Schmidt ist ein Mann, der sich leisten kann, zu sagen, was die
       Sache ist.
       
       Für Neoliberale wie die der SPD oder aus der Union muss er eine Heimsuchung
       sein: Großvaters Rache ist nicht die Rechthaberei.
       
       Sondern dass er Recht hat.
       
       VON JAN FEDDERSEN 
       
       CONTRA 
       
       Helmut Schmidt mag allerhand sein, mein Großvater ist er nicht. Dabei hat
       meine Mutter alles getan, ihn als solchen erscheinen zu lassen. Nach der
       Schule musste ich kostbare Stunden, die ich altersgemäß lieber im
       Sandkasten vertändelt hätte, mit TV-Übertragungen von Bundestagsdebatten
       verbringen: "Hör dir das an!", meinte meine Mutter: "Das ist einer, der
       reden kann!"
       
       Zu meinen frühesten Fernseherinnerungen gehört denn auch, neben den
       lustigen Figuren von "Barbapapa", ein Helmut Schmidt, der mit versteinerter
       Miene und gesenktem Kopf seinem feist auf der Regierungsbank thronenden
       Nachfolger Helmut Kohl zu seiner Wahl zum Bundeskanzler gratuliert - weil
       meine Mutter mir anhand dieser Bilder (und unter Tränen) beizubringen
       versuchte, was "Haltung" bedeutet. Ich war elf Jahre alt. Damit beginnt und
       endet zwar meine prägende, weil persönliche Schmidt-Rezeption. Aber wie es
       bei Älteren vielleicht Adenauer und bei Jüngeren wohl Kohl sein mag, so ist
       bei mir, ich kann nichts dafür, seitdem auf der zerebralen Festplatte als
       prototypischer Politiker verankert: Helmut Schmidt, SPD.
       
       Dabei ist Schmidt höchstens der Roger Moore der Sozialdemokratie und nicht
       vergleichbar mit ihrem Sean Connery, Willy Brandt. Gewiss, sein offenbar
       herkulisches Krisenmanagement der Hamburger Flutkatastrophe ist längst zum
       Mythos geronnen, wie auch seine ewige Ehe mit Loki längst sagenhafte
       Philemon-und-Baucis-Außmaße angenommen hat. Doch seine dann doch
       tendenziell eher glücklose Kanzlerschaft wird wohl auch künftig mit
       Forderungen nach einem Nato-Doppelbeschluss, knallharter Staatsraison
       gegenüber den "Staatsfeinden" von der RAF und verhältnismäßigen
       Kleinigkeiten wie reaktionärer Schwulenpolitik in Verbindung gebracht
       werden; dass "die Geschichte" ihm in vielen Punkten "recht" gegeben hat,
       mag sein, liegt aber in der Natur der Geschichte, die jedem recht gibt, der
       ihrem Lauf lange genug beiwohnen darf, wofür übrigens auch
       Geschichtshauptgewinnler Helmut Kohl ein perfektes Beispiel ist.
       
       So gesehen ist Schmidt der lebende Gegenbeweis des schönen Satzes, nur die
       Guten stürben jung. Manche werden eben älter und älter und dabei,
       zugegeben, nicht einmal dümmer.
       
       In krassem Gegensatz zu Helmut Kohl, der über sein eigenes historisches
       Wirken immer öfter in öffentliche Tränen der Rührung ausbricht, bleibt ein
       Helmut Schmidt in feldwebeliger Selbstdisziplin tatsächlich jeder
       sentimentalischen Anwandlung fern und dem verpflichtet, was die
       US-Amerikaner den "straight talk" nennen: Grundsätze aus Granit, von denen
       harte Wahrheiten abgeleitet und möglichst trocken serviert werden - womit
       sich Schmidt derzeit nicht nur als Interview-Maskottchen des Zeit-Magazins
       empfiehlt, sondern, in Buchform, ausgerechnet mit dem Rapper Bushido ein
       Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz 1 der Bestsellerlisten liefert; so gewaltig
       also ist der Bedarf nach großen Brüdern oder gestrengen Übervätern, die uns
       wohlstandsverwöhnte Normalbürger mal so richtig übers Knie legen.
       
       Seltsam ist es dennoch: Im selben Maße, wie Schmidts politische Relevanz
       schwand, wuchs sein Unterhaltungswert. Er ist nicht wichtig, aber lustig,
       ein Altkanzler mit Manufaktum-Faktor: Es gibt sie noch, die guten Dinge!
       Dabei lauscht man seinen oft wie in Kalk gemeißelten Worten mit der
       gleichen zwiespältigen Faszination, mit der man Konzerten von Ibrahim
       Ferrer oder Rubén Gonzáles beiwohnte: Das der das noch kann! In dem Alter!
       Und raucht der eigentlich wirklich auf Lunge?
       
       Apropos "Buena Vista Social Club": Helmut Schmidt gehört auch einem
       exklusiven Club an, wie er nicht ohne Eitelkeit seinem Leibgesprächspartner
       Giovanni di Lorenzo anvertraute. Zwölf Jahre war er der Vorsitzende des
       "Inter Action Council", einer Beschäftigungsmaßnahme ausgedienter
       Staatsmänner: "Es ist eine Versammlung von has beens, wie ich einer bin.
       Aber es ist andererseits ganz zweifellos eine Versammlung von interessanten
       Leuten mit Verantwortungsbewusstsein, Sachkenntnis und Überblick", wie er
       selbst einer ist, ganz zweifellos.
       
       Und so ragt er in unsere Zeit wie ein lebendes Fossil, dreht würdevolle
       Pirouetten im Scheinwerferlicht und wedelt rüstig mit den Flossen. Schmidt
       ist nicht der Großvater, er ist der Quastenflosser der deutschen Politik.
       Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
       
       VON ARNO FRANK
       
       10 Oct 2008
       
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