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       # taz.de -- Probleme bei der Verkehrsberuhigung: Ausgebremste Kiezblocks
       
       > Das Verwaltungsgericht kassiert eine Durchfahrtssperre in Pankow. Der
       > Fall zeigt, warum die Umsetzung von Kiezblocks so mühselig ist.
       
   IMG Bild: Poller aufgestellt, Verkehr beruhigt? Leider geht das nicht so einfach, wie sich immer wieder zeigt
       
       Berlin taz | Kein störenden Durchgangsverkehr, dafür mehr Straßenraum für
       Kinder, Flanierende, Radfahrer:innen und alle, die im Viertel leben.
       Der Trend zum Kiezblock ist in Berlin ungebrochen – auch die schwarz-rote
       Landesregierung hat Verkehrsberuhigungen [1][in ihren Koalitionsvertrag
       geschrieben]. In jedem Bezirk gibt es mittlerweile mehrere Initiativen, die
       sich für Verkehrsberuhigungen in ihrem Viertel einsetzten, immer mehr
       Bezirke trauen sich, Kiezblocks zu beschließen. Doch selbst wenn der
       politische Wille da ist, dauert die Umsetzung oft Jahre. Der Grund ist die
       übermächtige Straßenverkehrsordnung, die den Bezirken kaum
       Handlungsspielräume lässt.
       
       Das vorzeitige Ende dreier Poller im Nesselweg, das ein jüngster Beschluss
       des Verwaltungsgericht besiegelte, verrät viel darüber, warum es mit der
       Verkehrswende nur schleppend vorangeht. Wer hier wohnt, im Pankower
       Ortsteil Rosenthal, mag es gern ruhig. Eine typische Vorstadt, in der sich
       ein Einfamilienhaus mit gepflegten Vorgarten an das nächste reiht. Doch bis
       vor Kurzem wurde die Ruhe von zahlreichen Autos und Lkws gestört, die die
       schmalen, nur mit Betonplatten befestigte Straße als Abkürzung und
       Stauumfahrung missbrauchten. Der Nesselweg verbindet nämlich zwei
       Hauptverkehrstraßen, die ins Zentrum führen.
       
       Die Anwohner:innen fanden sich nicht nur in ihrem Ruheempfinden
       gestört, sondern sorgten sich auch um ihre Kinder. Denn die mussten sich
       ihren Schulweg nun mit durchbrausenden Lkws teilen, die auch gern mal auf
       den Gehweg ausweichen, wenn parkende Autos die ohnehin schon schmale
       Fahrbahn weiter verengten.
       
       Also stellten die Anwohner:innen einen Antrag in der
       Bezirksverordnetenversammlung (BVV), man möge den Durchgangsverkehr im
       Nesselweg unterbinden. Die BVV, [2][in der die Grünen am stärksten
       vertreten sind], stimmte diesem Antrag im Juni 2021 zu – mit Unterstützung
       der CDU-Fraktion. Nur etwas mehr als zwei Jahre später setzte das
       Bezirksamt den Beschluss tatsächlich um.
       
       ## Eine Person klagte erfolgreich
       
       Doch nicht alle freuten sich an der neu gewonnenen Ruhe: Eine Person
       klagte. Ihre Argumentation überzeugte das Gericht. „Die
       Straßenverkehrsordnung erlaubt Sperrungen einer Straße nur bei besonderen
       Gefahren“, erklärt Kathleen Wolter, Pressesprecherin des
       Verwaltungsgerichts, der taz. Und diese sei vom Bezirk nicht hinreichend
       begründet worden.
       
       Die Gefahr, so das Verwaltungsgericht in der Urteilsbegründung, müsse
       „konkret“ sein und das „allgemeine Risiko“ erheblich übersteigen. Das
       subjektive Sicherheitsgefühl reicht dabei für den Nachweis nicht aus.
       Überzeugender hingegen sind Zahlen und Statistiken: überdurchschnittliche
       Verkehrsaufkommen, Geschwindigkeitsüberschreitungen oder
       Unfälle.„Verwaltungstechnisch unsauber“
       
       „Die Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs sind nach der
       Straßenverkehrsordnung wichtiger als die Verkehrssicherheit“, kritisiert
       der Verkehrsexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Kristian
       Ronneburg. Der Beschluss des Gerichts sei ein weiteres Beispiel für die
       Reformbedürftigkeit des Gesetzes.
       
       „An der Blockierung dieser pragmatischen verkehrssichernden Maßnahme zeigt
       sich, dass [3][die Straßenverkehrsordnung] und das Straßenverkehrsgesetz
       nicht mehr zeitgemäß sind“, meint auch die grüne Verkehrspolitikerin Oda
       Hassepaß.
       
       ## Jede Menge Daten erforderlich
       
       Im November scheiterte eine Novelle der Verkehrsordnung am Veto einiger
       Länder im Bundesrat: Sie hätte den Kommunen freiere Hand bei der
       Verkehrsplanung gelassen. Bis es zu einer Nachbesserung der Novelle kommt,
       müssen Bezirke weiterhin enorme Anstrengungen unternehmen, Kiezblocks und
       andere verkehrsberuhigende Maßnahmen rechtskonform zu begründen.
       
       Dabei nutzen die Bezirke derzeit einen Passus, der Verkehrsberuhigungen
       zulässt, falls sie in ein „städtebauliches Konzept“ eingebunden sind. Dafür
       muss analysiert werden, wie sich die Durchgangsperren und andere Maßnahmen
       auf die Verkehrsströme in der Umgebung auswirken und wie diese umgeleitet
       werden sollen. Doch dafür braucht es jede Menge Daten, die in den meisten
       Fällen erst einmal erhoben werden müssen.
       
       So stammen die Verkehrsdaten, die das Verwaltungsgericht im Falle des
       Nesselwegs heranzieht, aus dem Jahr 2019. Anhand der Daten muss dann jede
       Maßnahme ausführlich begründet, wobei der Grundsatz gilt, dass zunächst nur
       das „mildeste Mittel“ zur Anwendung kommen muss.
       
       Pankows erster Kiezblock im Komponistenviertel ist exemplarisch für dieses
       Vorgehen. Seit Mai letzten Jahres gilt zunächst ein System aus
       Einbahnstraßen, das den Durchgangsverkehr verhindern soll. Werden diese
       missachtet, sollen Poller her. Vorausgegangen sind es Maßnahmen aus
       mehreren Verkehrszählungen und Analysen, durchgängig begleitet wird die
       Umsetzung von einem Forschungsteam der TU.
       
       ## „Verwaltungstechnisch unsauber“
       
       Selbst dann können Maßnahmen wie Durchgangssperren und Spielstraßen immer
       noch vor Gericht angefochten werden. Die Angst vor Klagen war ein
       wesentlicher Grund für das behutsame Vorgehens des Bezirks im
       Komponistenviertel.
       
       Im Gegensatz dazu waren die Poller im Nesselweg ein Schnellschuss. Als
       „eine Einzelaktion und verwaltungstechnisch unsauber umgesetzt“, bezeichnet
       sie Ragnhild Sørensen vom Verkehrswende-Lobbyverein Changing Cities. „Es
       bleibt ein großes Missverständnis, dass ein Kiezblock nur aus Pollern
       besteht. Die Durchgangssperre ist nur eine von vielen Maßnahmen eines
       umfassenden städtebaulichen Konzepts.“
       
       8 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://spd.berlin/media/2023/04/Koalitionsvertrag_2023-2026_.pdf
   DIR [2] https://www.berlin.de/ba-pankow/politik-und-verwaltung/bezirksverordnetenversammlung/online/fr010.asp
   DIR [3] https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Wahmkow
       
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