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       # taz.de -- Protest gegen Olympia in China: Beinahe machtlos
       
       > Shahnura Kasim protestiert gegen die Unterdrückung der Uigur:innen.
       > Sie ruft mit anderen zum Boykott der Olympischen Winterspiele auf.
       
   IMG Bild: Kasim, 19 Jahre alt und bald Abiturientin, ist auf Instagram, TikTok und der Straße aktiv
       
       Shahnura Kasim kämpft gegen einen übermächtigen Gegner. Dieser Gegner wolle
       sie, ihre Familie und deren Heimat zerstören, sagt sie. Das Kinn drückt sie
       in ihren weißen Schal, um sich vor dem Wind zu schützen. Ein grünes
       Kopftuch ist über ihren Kopf gespannt. Zwischen den Tourist:innen vor
       dem Brandenburger Tor, die Selfies machen, fällt sie kaum auf. In der Hand
       hält sie ein iPhone in lilafarbener Schutzhülle. „Eigentlich bin ich
       machtlos, aber ich habe das hier und meine Stimme“, sagt sie.
       
       Es ist der letzte Samstag im Januar. Kasim hat gemeinsam mit ihren vier
       Schwestern und den Eltern den frühen Zug um 6:32 Uhr aus München genommen,
       im Gepäck eingerollte hellblaue Fahnen mit einem weißen Halbmond und Stern
       – die Flagge der Uigur:innen. Vor ihrer Ankunft postet Kasim auf Instagram
       ein Video mit dem Kommentar „Tanz, wenn du auch für den diplomatischen
       Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking bist.“ Tausende Menschen
       sehen ihre Videos, mit denen sie appelliert: Vergesst uns Uigur:innen
       nicht.
       
       Kasim, 19 Jahre alt, wird in einigen Monaten ihr Abitur machen. Vor drei
       Jahren entschied sie, auf Instagram, Tiktok und der Straße gegen die
       Unterdrückung der Uigur:innen in China zu protestieren. Für heute,
       wenige Tage bevor die Olympischen Winterspiele beginnen, hat sie [1][mit
       der Partei „Team Todenhöfer“] eine Demonstration organisiert. „Die
       Bundesregierung muss sich entscheiden, ob sie den Genozid in China
       unterstützt oder nicht“, sagt sie. Sie fordert ein Bekenntnis für die
       Menschenrechte.
       
       Weitere Aktivist:innen treffen ein und entrollen Transparente: „Stoppt
       den Völkermord an den Uiguren“. Ältere Männer tragen Doppa, die verzierte
       Kopfbedeckung der Uiguren, Frauen tragen bunte Kopftücher. Ein roter
       Transporter fährt vor und junge Menschen rollen die Plane der Ladefläche
       nach oben. Sie tragen gelbe Warnwesten auf deren Rücken „Team Todenhöfer“
       steht.
       
       ## In der ersten Reihe
       
       Fünftausend Kilometer entfernt ist Shahnura Kasims Oma in einem
       [2][Umerziehungslager inhaftiert], verrichtet eine Tante Zwangsarbeit und
       wurde ein Onkel vermutlich ermordet, erzählt sie. „Wenn ich esse, frage ich
       mich, was sie wohl essen. Wenn ich Spaß habe, frage ich mich, wie es ihnen
       geht. Wenn ich mich frei fühle, denke ich an sie“, sagt sie.
       
       Mehr als eine Millionen Uigur:innen sollen in Lagern in der Region
       Xinjiang, die Uigur:innen Ostturkistan nennen, inhaftiert sein. Das
       [3][schätzt Amnesty International]. 2016 belegten Satellitenbilder erstmals
       die Existenz dieser Lager, Recherchen berichteten von [4][inhaftierten
       Personen]: Frauen, die Zwangsarbeit leisten müssen, vergewaltigt oder
       zwangssterilisiert werden. Männer die inhaftiert und gefoltert werden.
       Einige Regierungen, darunter die USA und Frankreich, sprechen von einem
       Genozid.
       
       Langsam fährt der Transporter los in Richtung Friedrichstraße, auf der
       Ladefläche zwei Lautsprecher und ein Mikrofon. Kasim läuft in der ersten
       Reihe, neben ihr die jungen Menschen mit den Uiguren-Flaggen und mit blau
       bemalten Masken, deren ausdruckslose Augen an Geister erinnern – ein
       Zeichen für die gesichtslosen Opfer der Unterdrückung.
       
       „Es gibt mir Hoffnung, dass so viele Menschen gekommen sind“, sagt Kasim
       während einer Pause zwischen den Redebeiträgen. Ein junger Mann ruft ins
       Mikrofon: „Ist Wirtschaft wichtiger als die Menschenrechte? Oder liegt es
       daran, dass Uiguren Muslime sind?“ Der Tross klatscht, Kasim filmt alles
       mit ihrem Handy.
       
       ## Größte Exilgemeinschaft
       
       In Deutschland lebt die größte Exilgemeinschaft der Uigur:innen. Rund 1.500
       sind es, die meisten von ihnen leben in München, dort hat der Weltkongress
       der Uiguren seit 2004 seinen Sitz. München war die erste Stadt im Westen,
       in der sich in den 70er Jahren Uigur:innen ansiedelten. Seitdem gilt
       München als ihr politisches Exil-Zentrum.
       
       Als Kasim klein war, nahmen ihre Eltern sie mit auf Demonstrationen. Bis
       vor wenigen Jahren aber spielte die Situation der Uigur:innen in der
       deutschen Öffentlichkeit kaum eine Rolle. Noch im Jahr 2008, als in Peking
       die Olympischen Sommerspiele ausgetragen wurden, glaubte man in
       Mitteleuropa an eine Liberalisierung Chinas, weil das Land wenige Jahre
       zuvor der Welthandelsorganisation beigetreten war. „Damals waren die
       Beweise noch nicht so überwältigend wie heute, sagt Kasim. „Aber die
       Unterdrückung gab es schon immer.“
       
       1994 floh ihr Vater nach Deutschland, wenig später reiste ihm die Mutter
       nach. Auch in Deutschland wurden die beiden vom chinesischen Geheimdienst
       bedroht – und angestachelt, andere Uigur:innen zu bespitzeln, so erzählt
       es Kasim. Die Eltern seien hart geblieben. Bezahlt hätten sie das mit
       Kontaktverlust zu ihren Familien in Xinjiang.
       
       Shahnura Kasims Leben änderte sich am 6. Dezember 2019. Sie kam von der
       Schule nach Hause und in der Küche habe ihre Mutter mit einer Freundin
       gesessen und geweint. „Oma ist in einem Lager“, habe sie gesagt. Die
       Nachricht hätte sie über Umwege bekommen. In ihrer Verzweiflung postet
       Shahnura Kasim auf Instagram Bilder ihrer Oma, der Tante und des Onkels.
       „Where are my relatives?“ kommentiert sie unter den Fotos. Der Beitrag
       bekommt in kurzer Zeit über 12.000 Likes. An diesem Tag wird Shahnura Kasim
       zur Aktivistin.
       
       ## Kritik an Todenhöfer
       
       Angst habe sie nicht. „In Deutschland bin ich sicher“, sagt sie. Auch ihre
       Eltern ermutigen sie zum Protest. „Wir wissen nicht, was sie unserer
       Familie antun können“, sagt Kasims Vater, der mit dem Rest der Familie in
       der vorletzten Reihe läuft, „aber es geht nicht nur um uns. Wir dürfen
       nicht schweigen“.
       
       Warum aber sucht sich Shahnura Kasim ausgerechnet die Kleinstpartei „Team
       Todenhöfer“ als Partner aus – eine Partei, die 0,46 Prozent bei den Wahlen
       bekam, und deren Hauptaccount bei Instagram halb so viele
       Follower:innen hat wie Kasim selbst? Auch die Grünen forderten im
       Wahlprogramm ein Ende der Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Auch die
       SPD verurteilt die Unterdrückung der Uigur:innen. Und im Koalitionsvertrag
       heißt es, die Regierung werde die Unterdrückung klar thematisieren.
       
       „Was ist davon geblieben?“, entgegnet Shahnura Kasim und will wissen, ob
       diese Aussagen nur Randnotizen seien. „Heute hätte die Regierung die
       Chance, mit [5][dem diplomatischen Boykott ein Zeichen] zu setzen. Aber sie
       macht es nicht.“ Die Bundesregierung strebte in der Sache eine einheitliche
       Linie mit der EU an, aber das scheiterte. Nun werden wohl aus
       pandemiebedingten Gründen keine deutschen Regierungsvertreter:innen
       entsandt. Kasim hält dieses Argument für vorgeschoben.
       
       Etwas weiter hinten in der Demonstration läuft André Matzke-Tarfa, der
       zweite Vorsitzende des Todenhöfer-Landesverbands Berlin. Auch er trägt eine
       gelbe Weste. „Ich habe die Grünen und die SPD eingeladen, hier
       mitzumachen“, sagt er. „Aber ich glaube, die fürchten einen Imageschaden.“
       Nur „Team Todenhöfer“ habe dem Boykott der Winterspiele ein eigenes Kapitel
       im Wahlprogramm eingeräumt. Das überzeugte auch Shahnura Kasim. „Das ist
       eine Partei, die die Situation der Uiguren sieht“, sagt sie.
       
       Die Kritik, Jürgen Todenhöfer mache aus der Partei eine One-Man-Show, kann
       André Matzke-Tarfa nicht nachvollziehen. „Jürgen und viele Aktive unserer
       10.000 Mitglieder gestalten die Partei“, sagt er. Die andere Kritik, dass
       Todenhöfer Distanz zu Autokraten wie Erdoğan vermissen lasse, scheint für
       die Teilnehmer:innen der Demonstration keine große Rolle zu spielen.
       
       Als die Demonstration vorbei ist, sammelt Kasims Vater die Fahnen ein und
       rollt sie zusammen. Für Kasim gibt es kein Ende, die Winterspiele möchte
       sie mit weiteren Aktionen begleiten. Erst mal aber gehen sie gemeinsam
       zurück zum Berliner Hauptbahnhof.
       
       4 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Parteigruender-Juergen-Todenhoefer/!5798118
   DIR [2] /China-und-die-Uiguren/!5642452
   DIR [3] https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/china-xinjiang-muslimische-minderheiten-inhaftierung-folter
   DIR [4] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/das-sind-die-china-cables-e185468/
   DIR [5] /Diplomatischer-Boykott-von-Olympia/!5821396
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Torben Becker
       
       ## TAGS
       
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