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       # taz.de -- Protest in Algerien: „Hirak“ vor der Zerreißprobe
       
       > Wegen Corona pausierte die algerische Protestbewegung. Das Regime nutzte
       > die Zeit und ging gegen AktivistInnen vor. Geht es jetzt wieder weiter?
       
   IMG Bild: Im Dezember 2019 konnte die Protesbewegung „Hirak“ noch in Algier protestieren
       
       Tunis taz | Es wird wieder unruhig in Algerien. Nach einer
       [1][corona]bedingten Demonstrationspause sind am Wochenende wieder in
       zahlreichen Städten Aktivist*innen auf die Straße gezogen, um einen
       tiefgreifenden Wandel und die Freilassung politischer Gefangener zu
       fordern. Am Sonntag wurde eine weitere prominente Regierungskritikerin zu
       einem Jahr Gefängnis verurteilt.
       
       Die im Land „Hirak“ genannte Protestbewegung wartet seit Wochen darauf,
       dass sich die Gesundheitslage entspannt. Sie will ihre zuvor
       allwöchentlichen Demonstrationen so schnell wie möglich wieder aufnehmen
       und damit den Druck auf die Staatsführung erhöhen.
       
       Die Aufrufe zu den jüngsten Protesten allerdings hatten sämtliche zum
       „Hirak“ zählenden Parteien und Kräfte der Zivilgesellschaft abgelehnt. Eine
       Wiederaufnahme der Demonstrationen sei noch nicht zu verantworten, da die
       Pandemie weiterhin nicht unter Kontrolle sei.
       
       In den meisten Städten folgten daher am Freitag nur jeweils einige Dutzend
       Menschen den Aufrufen, die Polizei löste die Versammlungen schnell auf.
       Auch in der Hauptstadt Algier – zuvor das unangefochtene Epizentrum der
       Proteste – blieb es verhältnismäßig ruhig.
       
       Dagegen kam es in den traditionell demonstrationsfreudigen
       Oppositionshochburgen Béjaia und Tizi Ouzou in der Berber*innenprovinz
       Kabylei zu größeren Protestmärschen. Parolen wie „Befreit die Gefangenen“
       oder „Das Regime mordet“ hallten stundenlang durch die Straßen. In Béjaia
       kam es kurzzeitig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der
       Gendarmerie, als diese den friedlichen Protest gewaltsam aufzulösen
       versuchte.
       
       ## 500 Festnahmen von Regierungskritiker*innen
       
       Landesweit seien am Freitag 500 Protestierende kurzzeitig festgenommen
       worden, berichtete die Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH).
       Nachdem die meisten schon am Freitag wieder freigelassen wurden,
       versammelten sich am Sonntag in Béjaia und Tizi Ouzou dutzende Menschen und
       forderten die Freilassung von Regierungsgegner*innen. In Béjaia machte die
       Justiz kurzen Prozess und verurteilte vier Demonstranten zu Haft- und
       Bewährungsstrafen.
       
       Unabhängig von den Protesten am Wochenende wurde am Sonntag auch die
       prominente Aktivistin Amira Bouraoui, die bereits am Mittwoch festgenommen
       worden war, zu einem Jahr Haft verurteilt. Dies teilte ihr Anwalt Mustapha
       Bouchachi mit. Er kündigte an, in Berufung zu gehen.
       
       Die im Februar 2019 ausgebrochenen Proteste hatten sich zunächst gegen
       Ex-Staatschef Abdelaziz Bouteflika gerichtet. Nachdem sich dieser kurz
       darauf dem Druck der Straße beugte und zurücktrat, emanzipierte sich der
       „Hirak“ von seinem ursprünglichen Ziel. Seither fordert die Bewegung einen
       echten politischen Wandel und ein Ende der Herrschaft der alten Garden, die
       trotz [2][Bouteflikas Rücktritt] bis heute an der Macht sind.
       
       Weder Konzessionen noch Repressalien hatten den „Hirak“ jedoch ausbremsen
       können. Erst die [3][Covid-19-Krise machte der Bewegung einen Strich durch
       die Rechnung], legte der „Hirak“ doch im März angesichts der Pandemie seine
       traditionellen Freitagsmärsche freiwillig auf Eis.
       
       Sicherheitsapparat und Justiz nutzten die Protestpause derweil und
       verhafteten im Windschatten der Gesundheitskrise weiter ununterbrochen
       Aktivist*innen und Oppositionelle und zerrten sie vor Gericht. Auch deshalb
       brodelt es schon seit Wochen unter der Oberfläche.
       
       Uneins über weitere Proteste 
       
       Mitte Juni lockerten die Behörden schließlich die Ausgangsrestriktionen
       erstmals signifikant und begünstigten damit ein Wiederaufflammen der
       Proteste. Schon zuvor waren in der Kabylei Proteste lanciert worden und
       auch in mehreren Provinzen in Südalgerien hatte die katastrophale soziale
       Lage und die mangelnde Wasserversorgung Demonstrationen ausgelöst, bei
       denen mindestens ein Mensch getötet wurde.
       
       Über das weitere Vorgehen ist sich der „Hirak“ uneins. Während die
       Corona-Infektionszahlen zuletzt stark anstiegen und im Gesundheitswesen
       Alarm geschlagen wird, will ein Teil der Bewegung um jeden Preis wieder
       allwöchentlich auf die Straße gehen. Das aber ist gegenwärtig gefährlich –
       und es könnte die Bewegung zerreißen.
       
       22 Jun 2020
       
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   DIR Sofian Philip Naceur
       
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