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       # taz.de -- Proteste gegen Coronamaßnahmen: Die Usurpation der Aufklärung
       
       > International wird weiterhin gegen Coronamaßnahmen demonstriert.
       > Verstörend ist, wie sich dabei Vernunft mit Unvernunft paart.
       
   IMG Bild: Impfgegner gegen den Impfpass am Platz der Republik in Paris
       
       Seit Präsident Macron am 12. Juli weitere Verschärfungen der
       Coronamaßnahmen verkündet hat, hat er unfreiwillig eine neue „Tradition“
       begründet. Seit damals wiederholt sich an jedem Wochenende dasselbe
       Szenario: An Hunderten Orten im ganzen Land demonstrieren bis zu 200.000
       Menschen gegen die behördlichen Maßnahmen. Und diese Zahlen sind nur die
       behördlichen, die ja immer niedrig sind.
       
       Ein vorübergehendes Phänomen? Nicht ganz zufällig gibt es unter den
       Demonstrierenden viele, die auch bei den Gelbwesten mitmarschiert sind. So
       dass sich – wieder – die Frage stellt: Ist das eine neue Bewegung? In jedem
       Fall gibt es einen Grundstock an sozialer Wut, an gesellschaftlichem
       Unbehagen, an Ablehnung, an Misstrauen. Einen Grundstock, der sich immer
       wieder, an den unterschiedlichsten Begebenheiten, entzünden kann. Und dies
       ist keineswegs auf Frankreich beschränkt.
       
       Auffällig dabei ist, wie sich die Parolen ähneln. Auf den Straßen in
       Deutschland oder in Österreich bekommt man bei solchen Demonstrationen
       exakt dieselben Slogans zu hören. Eine seltsame Übereinstimmung. Diese
       lässt sich wohl kaum auf eine gezielte Absprache zurückführen. Also eher
       eine Art Ansteckung?
       
       Hier wie dort rufen die Leute auf den Straßen: X (also der jeweils
       Regierende) muss weg. In Frankreich wird das noch ein bisschen mehr
       spezifiziert. Da reicht „weg“ nicht. Da fordert man gleich den Kopf des
       Präsidenten. Man muss ja die eigenen Traditionen bedienen. (In anderen
       Ländern sind solche Traditionen ja etwas dürftiger.)
       
       Misstrauen und Ablehnung 
       
       Gleichartigkeit herrscht auch bei den Feindbildern: Da ist das „System“,
       das man als Diktatur erlebt. Da sind die Medien, die man als
       Desinformation, als Lüge und als Manipulationsmacht erfährt.
       Erstaunlicher Gleichklang herrscht auch beim Misstrauen: Misstrauen nicht
       nur gegen die neuartige mRNA-Impftechnologie. Sondern auch und vor allem
       Misstrauen gegen die Pharmakonzerne mit ihrem offenkundigen Interesse, von
       der Krise so viel wie möglich zu profitieren. Misstrauen und Ablehnung auch
       gegen den sogenannten Gesundheitspass, der als rein repressiv, als
       Kontrollinstrument wahrgenommen wird – als jenes neue Instrument, das die
       Einschränkung der persönlichen Freiheit auf Dauer stellt. Weshalb diese,
       nämlich die Freiheit, die Liberté, das Leitmotiv all dieser Proteste ist.
       
       Wenn man das so aufzählt, dann könnte man das für einen regelrechten
       Aufklärungsdiskurs halten: Widerstand gegen eine unterdrückende Autorität.
       Skepsis gegen deren Desinformation. Kritik an manipulativen Machenschaften.
       Vertrauen in die eigene Urteilskraft und das eigene Denken. Enttarnung
       verkappter Interessen. Ablehnung von repressiven Maßnahmen. Kurzum –
       Behauptung der eigenen Freiheit auf Grundlage der eigenen Vernunft.
       
       Das wirklich Verstörende für den Beobachter ist: Gerade dieser Diskurs, der
       alle Motive der Aufklärung aufzugreifen scheint – gerade dieser Diskurs
       verbindet sich mit den wirrsten Irrationalitäten. Die Mittel der Vernunft
       verbinden sich mit den wildesten Verschwörungstheorien – wie jenen von Bill
       Gates als großem Drahtzieher der Pandemie. Die Mittel der Kritik werden
       untermauert durch Wahnvorstellungen – wie jene vom Chip, der mit der
       Impfung implantiert wird. Um nur die gängigsten zu nennen.
       
       Man darf nicht unterschätzen, was das zur Folge hat: wenn Vernunft sich
       derart mit Unvernunft paart. Ja mehr noch: wenn sich Unvernunft in einer
       Art Mimikry, in einer Art Nachahmung als Rationalität darstellt. Und wie in
       der Natur ist auch hier die Ähnlichkeit in der Gestalt trügerisch.
       Esoterik, die in der Gestalt der Aufklärung auftritt, bedeutet:
       Indienstnahme der Vernunft durch die Unvernunft. Dann werden aus Mitteln
       der Aufklärung Mittel der Gegenaufklärung.
       
       So wird der notwendigen und berechtigten Kritik der Boden entzogen. Kurzum
       – wir haben es mit einer Usurpation der Aufklärung zu tun. Mit ihrer
       Inbesitznahme durch ihr Gegenteil. Goyas berühmtes Bild trägt den Titel:
       Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Nun muss man sagen: Heute
       gebiert sie diese, wenn sie wach ist.
       
       24 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
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