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       # taz.de -- Proteste in Belarus: Wir sind stärker als diese Greise!
       
       > Hunderttausende fordern Lukaschenkos Rücktritt, auch unsere Autorin. Vom
       > brutalen Umgang mit Oppositionellen – und einem mächtigen Gegengift.
       
   IMG Bild: „Schande!“, steht auf dem Plakat: Menschen demonstrieren für die Inhaftierte Maria Kolesnikowa
       
       Momentan werde ich oft nach den Protesten gefragt, die es seit über einem
       Monat in unserem Land gibt: „Wie ist es jetzt bei euch in Belarus?“ Dann
       sage ich meistens: „Es ist scheiße in den oberen Machtetagen, aber in der
       Bevölkerung gibt es einen erstaunlichen Zusammenhalt.“
       
       Vom Zusammenhalt unserer Nation möchte ich hier erzählen. Jeden Morgen
       wache ich in einem neuen Land mit atemberaubenden Menschen auf. Das heißt,
       abends schlafen wir ein, ohne auch nur die leiseste Vorstellung davon zu
       haben, was am nächsten Morgen sein wird. Und jeden Tag erwarten uns
       Überraschungen: Über Nacht ist irgendetwas passiert, im Land, aber auch in
       unserem Bewusstsein. Wir wachen auf und fühlen uns erneuert, irgendwie
       anders als am Abend zuvor.
       
       Die Menschen spüren jeden Tag stärker den Zusammenhalt, unsere
       Überlegenheit gegenüber den unvorstellbaren Gräueltaten der Machthaber. Im
       21. Jahrhundert müsste das Konzept des Faschismus eigentlich längst
       ausgedient haben – und trotzdem versuchen der angeblich landesweit gewählte
       Präsident und seine Junta ein faschistisches System in Belarus zu
       errichten.
       
       Das Gefühl der Angst ist genauso wenig normal, wie es nicht normal ist,
       dass die Anzeichen des Umbruchs nicht gesehen werden und einfach nicht
       verstanden wird, dass die Dinge sich längst verändert haben. Aber wir haben
       begonnen, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, die von sich sagen kann: „Ab
       jetzt handeln wir!“
       
       Wir haben alle schreckliche Angst, uns zittern die Knie, aber wir müssen
       aufstehen und etwas tun. Weil wir sonst aus Lukaschenkos Bewusstsein
       verschwänden, dem die Psychiater sogar schon eine Persönlichkeitsstörung
       diagnostiziert haben. Weil es sonst eine große Zahl von politischen
       Flüchtlingen gäbe, zu deren Aufnahme sich jetzt schon viele EU-Staaten
       bereiterklärt haben. Und weil es sonst einen Rollback in die finsteren
       Zeiten des Mittelalters gäbe, in einem Land, das sich selbst für europäisch
       hält.
       
       Wir wollen Freiheit, Respekt und Toleranz! Wir möchten nicht in den Büchern
       von Orwell und Kafka leben. Wir wissen genau, dass Belarus kein Smartphone
       ist, das man einfach auf seine Werkseinstellungen zurücksetzen kann. Man
       versucht, uns das auszureden, aber wir wissen genau, dass wir schon eine
       Nation geworden sind. Eine echte, starke Nation, durch die Repressionen
       gestählt, durch Liebe, Einheit und Solidarität zusammengewachsen. Wir sind
       zusammen und wir sind viel stärker als diese schwachen Greise, die sich mit
       ihren blauen Händen an den Sessel der Macht krallen.
       
       Ja, sie können uns jeden beliebigen Moment verhaften, jeden einzelnen von
       uns. Einfach nur, weil ihnen ein Lächeln nicht gefallen hat. Man versucht,
       uns zu brechen, vergisst dabei aber die belarussische Mentalität: Wir sind
       friedliche Menschen, aber wenn man uns ärgert, kämpfen wir wie die Löwen.
       Aber wir sind auch geduldig, bereit, mit jedem zu kooperieren, der uns
       achtet und sich auf Gespräche und Kompromisse einlässt.
       
       Die Geschichte von Belarus ist wechselhaft. Aber das belarussische Volk
       konnte sich sowohl mit den Rittern des Deutschen Ordens als auch mit dem
       Russischen Reich arrangieren. Während meines Studiums in den 1990ern hatte
       ich die obligatorische Ideologie-Vorlesung bei einer Professorin, die
       sagte, sie werde jetzt bestimmt keine Ideologie-Vorlesung abhalten, sondern
       klassische deutsche Philosophie unterrichten – den Ideologie-Schein bekomme
       man natürlich trotzdem.
       
       Ich habe das Gefühl, dass ich bis heute bei dieser Professorin studiere,
       ich bin eine ewige Studentin. Ich sauge wie ein Schwamm alle Ereignisse auf
       und werde besser, klüger und stärker, weil ich meinen Verstand einschalte.
       Und neben mir auf der Schulbank sitzen Millionen meiner Mitbürger.
       
       Wir glauben Lukaschenkos Worten nicht, mit denen er jeden Tag versucht, uns
       einzuschüchtern. Ständig hören wir, dass es bei uns zu Ereignissen wie auf
       dem [1][Maidan in der Ukraine] und zu einem Bürgerkrieg kommen wird. Aber
       das ukrainische Szenario wird in Belarus nicht funktionieren, wie ich den
       Berichten von ukrainischen Kollegen entnehme.
       
       Die Lage in Belarus ist komplett anders, als sie es 2014 in der Ukraine
       war. Dort war die Polizei auf Seiten des Volkes, in Belarus ist sie auf der
       Seite von Lukaschenko und führt für viel Geld seine verbrecherischen
       Befehle aus. Anständige, ehrliche Menschen [2][verlassen den Staatsdienst],
       legen ihre parlamentarischen Befugnisse nieder und begründen dies mit den
       Worten: „Ich kann nicht mehr, ich möchte nicht länger Teil dieser
       Gesetzlosigkeit sein.“
       
       Die Machthaber selber beachten keine Gesetze mehr, sie verursachen Terror,
       anders kann man das nicht nennen. Das, was wir jetzt erleben, ist der
       Versuch, alles zu zerstören und die Menschen einzuschüchtern, die die
       Freilassung aller Gefangenen und die Durchführung ehrlicher Wahlen fordern.
       
       Die Belarussen aber, die sich frei fühlen, fürchten sich nicht mehr und
       tragen [3][ihren friedlichen Protest] auf die Straßen ihrer Heimatstädte.
       Sie schlagen sich nicht mit der Polizei, sie stehen einfach lächelnd an den
       Straßen, mit Blumen und den historischen weiß-rot-weißen Fahnen, die ein
       Symbol des Protestes geworden sind. Und die Autofahrer hupen ihnen zu. Die
       Hupen sind unsere Stimme, unser Schrei: „Wir halten zusammen!“ Die Stimmung
       ist zur Zeit sehr aufgeheizt, das spüren alle. Bei den Protesten hat die
       ganze Welt die erstaunliche Gutherzigkeit der Belarussen gesehen.
       
       Mit den Demonstrationszügen, an denen schätzungsweise 100.000 bis 400.000
       Menschen teilnahmen, wurde, wie in den sozialen Netzwerken gewitzelt wurde,
       die Stadt sauberer. Ordnung halten, das ist die belarussische Mentalität.
       Müll wegräumen und, bevor man auf eine Bank steigt, um besser sehen zu
       können, die Schuhe ausziehen.
       
       Bei den Demos verteilen Freiwillige Essen und Wasser. Bis vor Kurzem ging
       nicht eine einzige Scheibe zu Bruch. Vor einer Woche jedoch gab es die
       ersten Schäden. Schuld waren nicht friedlich Demonstrierende, sondern
       bewaffnete Sicherheitskräfte in Zivil. Um Menschen daran zu hindern, sich
       in einem privaten Café zu verstecken, schlugen sie die Eingangstür mit
       Gummiknüppeln ein. Das hat mit einem Kampf gegen die organisierte
       Kriminalität rein gar nichts zu tun, das ist an sich schon ein Verbrechen.
       
       Und was taten die Leute? Auf eigene Kosten tauschten sie die Tür des Cafés
       aus und bildeten dort drei Tage lange Schlangen, um den Besitzer zu
       unterstützen. Hat die Staatsmacht immer noch nicht verstanden, wie
       solidarisch dieses Volk ist? Das ist großartig, weil es zeigt, dass du in
       deiner Not nicht alleingelassen wirst.
       
       Lukaschenko hat jetzt einen Plan für eine Lösung der Krise vorgelegt. Er
       schlägt eine Verfassungsreform vor, eine Verringerung der Vollmachten des
       Präsidenten sowie vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Damit
       will er Zeit gewinnen und die Protesten austrocknen. Die Protestierenden
       fordern jedoch, dass er jetzt zurücktritt – und nicht erst 2022.
       
       Die Menschen wissen seit Langem, dass er seine Versprechen nicht hält und
       schamlos lügt. Erinnern wir uns an einen angeblich abgefangenen Mitschnitt
       eines Telefonats zwischen Warschau und Berlin, das auf englisch geführt
       wurde. Selbst nicht professionellen Übersetzern ist klar, dass der Satz
       „Lukashenko is completely nuts“ bedeutet, dass er komplett verrückt
       geworden ist – und nicht: Lukaschenko ist schon eine harte Nuss. Hier von
       einem Fake zu sprechen, wie er es tut, ist schon peinlich. Ganz zu
       schweigen davon, dass Lukaschenko behauptet, Frau Merkel habe versucht, ihn
       anzurufen. Dies ist von offizieller Seite nicht bestätigt worden.
       
       Jeden Tag nehmen die Belarussen an friedlichen Protesten teil. Dann kommen
       [4][Omon-Truppen] (Sicherheitskräfte, die vor allem bei Demonstrationen
       eingesetzt werden, Anm. d. Red.) und mit ihnen die gewaltsamen Festnahmen.
       Die Menschen laufen auseinander – wohl wissend, dass auf die Festnahmen
       Folter folgt. Doch nach einiger Zeit kommen sie wieder. Ich hoffe, dass das
       so bleibt. Bislang rühren die Omon-Leute Frauen und Kinder nicht an.
       
       Eine Demonstrantin hat mir erzählt: „Mein Mann hat zu mir gesagt, mach, was
       du willst! Dich kann sowieso keiner umstimmen. Er hat mich auf keine
       einzige Demonstration begleitet und ich habe auch nicht darauf bestanden.
       Wir haben Kinder, wenn etwas passiert, ist wenigstens noch ein Elternteil
       da. Soll er lieber zu Hause bleiben. Aber ich werde weiterprotestieren –
       für ihn, für mich, für die Freiheit des Landes und eine bessere Zukunft!“
       
       * Die Autorin schreibt aus Sicherheitsgründen unter einem Pseudonym.
       
       Aus dem Russischen von [5][Gaby Coldewey.]
       
       12 Sep 2020
       
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