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       # taz.de -- Proteste von Geiselangehörigen in Israel: Zwischen Wut und Hoffnung
       
       > Soll Israels Militär im Gazakrieg noch Rücksicht nehmen auf die Geiseln
       > in der Hand der Hamas? Diese Frage spaltet die israelische Gesellschaft.
       
   IMG Bild: Demonstrierende fordern die Freilassung der Geiseln
       
       Jerusalem taz | Die Protestierenden tragen eine Sargattrappe über die
       Gaza-Straße in Jerusalem. Und ein Porträt des 23-jährigen Hersh
       Goldberg-Polin. Darunter steht: „Hersh wird nicht zurückkommen“.
       
       [1][Die Ermordung von sechs israelischen Geiseln durch die Hamas] am
       vergangenen Wochenende lässt seitdem jeden Abend Zehntausende in ganz
       Israel auf die Straße gehen.
       
       Wut und Hoffnung liegen am Montagabend in der Luft: „Exekutiert von der
       Hamas, aufgegeben von Netanjahu“ steht auf einem Schild. „Abkommen. Jetzt“,
       hat sich eine Demonstrantin auf die Arme geschrieben. „Das sind die größten
       Proteste seit Oktober, die Regierung muss auf uns reagieren“, sagt sie.
       
       Doch die Gewissheit unter Israelis, dass die Rückkehr der Geiseln oberste
       Priorität haben muss, bröckelt nach fast elf Monaten Krieg.
       
       Ein Stück die Straße hinauf streiten sich Demonstrierende mit einer Gruppe
       von vier jungen Männern mit weißen Hemden und schwarzen Kippas. Einer von
       ihnen ist der 21-jährige Mordechai Litwin. „Wir müssen die Hamas besiegen
       und die Geiseln mit Gewalt zurückholen, wenn überhaupt noch welche von
       ihnen am Leben sind“, sagt er. Seine Gefährten nicken.
       
       „Es hätte auch deine Familie treffen können“, schreit ihn eine
       Demonstrantin an. „Wenn sie jetzt in Gaza säßen, würdest du nicht so
       reden.“
       
       ## Streit über Zugeständnisse an die Hamas
       
       Dieser Zwiespalt spiegelt sich auch an den Häuserwänden in Jerusalem. Immer
       häufiger tauchen neben den überall aufgehängten Porträts der Entführten mit
       der Forderung „Bringt sie jetzt nach Hause“ neue Plakate auf. „Bis zum
       Sieg“ steht darauf unter Fotos von im Gazastreifen gefallenen Soldaten.
       Zunehmend wird in Israel die Frage diskutiert, ob im Gegenzug für ein
       Abkommen überhaupt Zugeständnisse an die Hamas gemacht werden sollten.
       
       Die Hamas ermordete die sechs Geiseln zwischen 23 und 40 Jahren offenbar
       direkt nach einer Entscheidung des Sicherheitskabinetts, die israelische
       Armee nicht aus dem Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten
       zurückzuziehen. Einer Umfrage des israelischen Senders KAN von Montag
       zufolge unterstützt dennoch eine knappe Mehrheit der jüdischen Bevölkerung
       Netanjahu in seiner Weigerung, die Kontrolle über die Grenze aufzugeben.
       Selbst wenn daran ein Abkommen für eine Freilassung der Geiseln scheitern
       sollte. Nur 43 Prozent der Befragten priorisieren eine Rückkehr der
       Geiseln.
       
       Süd-Jerusalem am Mittwochabend. Vor dem Haus der [2][Familie
       Goldberg-Polin] ist ein Pavillon aufgebaut. Gemäß der jüdischen
       Schiwa-Tradition empfangen die Eltern des ermordeten 23-Jährigen sieben
       Tage lang Trauergäste.
       
       Über den Hügeln Jerusalems geht schon die Sonne unter, vor dem Zelt warten
       noch immer mehr als hundert Menschen darauf, mit Hershs Eltern Jon und
       Rachel zu sprechen, die seit Oktober unermüdlich für einen Geiseldeal
       gekämpft haben. Vor zwei Wochen hielten sie eine Rede auf dem Parteitag der
       US-Demokraten. Hersh war damals noch am Leben.
       
       Bei der Beerdigung ihres Sohnes hatte Rachel vor Tausenden von Trauernden
       gesagt, sie sei sich „absolut sicher gewesen“, dass er lebend zurückkommen
       würde. „Ich bete, dass dein Tod eine Veränderung bringt in dieser
       furchtbaren Situation.“
       
       ## „Das Gerede vom totalen Sieg“
       
       Nun begleiten Freunde der Familie die Eltern bei ihren Gesprächen mit den
       Trauergästen. Fans von Hershs Fußballverein Hapoel Jerusalem in gelben
       Warnwesten versorgen die Wartenden mit Essen und Wasser.
       
       „Ich möchte in einem Land leben, das alles dafür tut, mich nach Hause zu
       holen, wenn mir das passieren würde“, sagt Judi, braune Locken, eine
       Freundin der Familie. 330 Tage hätten Hersh und die anderen in Geiselhaft
       überlebt und durchgehalten, nun sei es „für nichts gewesen“, sagt die
       33-Jährige.
       
       Ihr Mann Avinoam, Vollbart und kurz geschorene Haare, pflichtet ihr bei:
       „Ich kann das Gerede vom totalen Sieg nicht mehr hören.“ Er sei selbst als
       Reservist in Gaza gewesen, er habe Freunde und Kameraden verloren. „Wenn
       wir die Geiseln nicht zurückholen können, dann sind sie umsonst gestorben“,
       sagt der 30-Jährige. Ihren Familiennamen wollen die beiden für sich
       behalten.
       
       Ein paar Gehminuten entfernt spazieren Uriah und Jasmin mit ihrem
       einjährigen Sohn durch den Mesila-Park. Sie sind anderer Meinung. „Wir
       dürfen keine Zugeständnisse machen, die der Hamas militärisch nutzen“, sagt
       der 32-Jährige. Er trägt ein Poloshirt, in seinem Gürtel steckt eine
       Pistole. „Ich vertraue der Regierung nicht und klar möchte ich, dass die
       Geiseln freikommen, aber nicht auf Kosten der Sicherheit von allen
       anderen“, sagt Uriah.
       
       Dazu zähle auch, Palästinenser freizulassen, die an Anschlägen beteiligt
       waren. „Jahia Sinwar haben wir 2011 mit mehr als 1.000 anderen für den
       entführten Soldaten Gilad Shalit freigelassen, ohne ihn hätte es den 7.
       Oktober vielleicht nicht gegeben“, sagt Jasmin. Die Proteste würden der
       Hamas in die Karten spielen. „Wenn wir gespalten sind, sind wir
       angreifbar“, sagt sie. Ihren Nachnamen möchten auch diese beiden nicht
       nennen.
       
       Die Angst vor Spaltung stellt auch Netanjahu in den Mittelpunkt. Mehrfach
       unterstellte er den Demonstrierenden, im Interesse der Hamas zu handeln.
       
       Am Mittwochabend trat der Regierungschef vor die internationale Presse, in
       der Hand einen Zeigestock, hinter sich eine Karte der Region, auf der das
       palästinensische Westjordanland Teil von Israel zu sein schien. Im
       Gazastreifen zeigte die Karte Symbole vermummter Hamas-Kämpfer mit Raketen.
       Vier Pfeile sollten deutlich machen, woher deren Nachschub kommt: über die
       Grenze zu Ägypten. Den Philadelphi-Korridor müsse man kontrollieren, um
       mehr Druck in den Verhandlungen für eine Geiselfreilassung auszuüben.
       
       ## Auch aus Netanjahus Regierung gibt es Kritik am Chef
       
       Verteidigungsminister Joav Gallant und Oppositionsführer Benny Gantz werfen
       Netanjahu vor, mit der Philadelphi-Forderung ein Abkommen zu blockieren.
       Die Spitzen der Armee und der Geheimdienste haben wiederholt betont, dass
       ein Rückzug aus dem Korridor mit der Sicherheit Israels vereinbar sei.
       Dennoch zeigen Wahlumfragen den Premier und seine Regierungspartei Likud
       nach einem massiven Einbruch im vergangenen Jahr seit August wieder Kopf an
       Kopf oder sogar vor ihren politischen Gegnern.
       
       Dabei hat die Härte im Gazakrieg bisher vor allem tote Geiseln nach Israel
       zurückgebracht, insgesamt 37. Acht wurden lebend gerettet, 105 nach
       Verhandlungen freigelassen.
       
       Währenddessen versucht die Hamas tatsächlich, die Spaltung Israels
       voranzutreiben. Seit vergangenem Wochenende veröffentlichte sie eine Reihe
       von Videos, in denen die ermordeten Geiseln offenbar kurz vor ihrem Tod zu
       sehen sind. Die Hamas warnt: Es seien „neue Regeln“ für die Bewacher der
       übrigen Gefangenen erlassen worden, falls sich israelische Soldaten deren
       Verstecken nähern würden. Netanjahus Beharren auf militärischem Druck
       bedeute, „dass die Geiseln in Leichentüchern zu ihren Familien
       zurückgebracht werden“.
       
       Zugleich stellt die Gruppe nach einem Bericht der Webseite Axios nun selbst
       neue Forderungen: Israel solle für ein Abkommen mehr palästinensische
       Gefangene freilassen. [3][Ein Ausweg rückt damit in noch weitere Ferne].
       
       6 Sep 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sechs-Geiseln-aus-Gaza-tot-geborgen/!6030949
   DIR [2] /Von-der-Hamas-getoetet/!6033561
   DIR [3] /Nathan-Thrall-ueber-Israel-und-Palaestina/!6030836
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Wellisch
       
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