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       # taz.de -- Prozess um Heimschließung: Haasenburg gewinnt
       
       > Der Heimfirma hätte 2013 nicht die Erlaubnis komplett entzogen werden
       > dürfen, sagt das Verwaltungsgericht. Das Ministerium prüft nun das
       > Urteil.
       
   IMG Bild: Eine unerwartete Wende im Prozess um die Haasenburg GmbH
       
       Hamburg taz | Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Cottbus hat am
       Donnerstag entschieden, dass die Schließung der drei Heime der Haasenburg
       GmbH durch das Brandenburgische Bildungsministerium im Jahr 2013
       rechtswidrig war. Damit gewinnt der Betreiber, der 2015 gegen den Entzug
       seiner Betriebserlaubnis geklagt hatte. Die Begründung des Gerichts: Die
       gesetzlichen Voraussetzungen hätten nicht vorgelegen. Es habe sich nicht
       feststellen lassen, dass das Wohl der Kinder gefährdet war und dass die
       Heimfirma nicht in der Lage gewesen sei, dies abzuwenden.
       
       Damit vollzog die Richterkammer eine 180-Grad-Wendung gegenüber jenem
       Urteil, dass ihre Kollegen der 1. Kammer im Januar 2014 fällten. Damals,
       als der Betreiber versuchte, im Eilverfahren die Heimschließung zu stoppen,
       befanden sowohl die erste Instanz als auch das Oberverwaltungsgericht
       Berlin-Brandenburg, dass Überwiegendes dafür spricht, dass das schematische
       Konzept der [1][Haasenburg-Heime] die Eskalationen mit verursachte. Der
       unbedingte Wille, auf jede auch unbedeutende Regelverletzung konsequent zu
       reagieren, führte am Ende zum Einsatz von körperlichem Zwang gegen die
       Kinder und Jugendlichen. Die Rede ist von Handgriffen der Betreuer, die
       auch [2][Schmerzen und Verletzungen] verursachten.
       
       Der Vorsitzende Richter Thomas Hempen sagte gleich zu Beginn der
       Verhandlung: „Die Kammer wird hier nicht über Sinn und Wert von
       fachpädagogischen Konzepten entscheiden“. Er trug – dieselben 24
       Aktenordner des alten Eilverfahrens im Rücken – einen „Sachbericht“ vor,
       der mit den Worten endete, die drei Berufsrichter kämen zu dem Standpunkt,
       „dass der komplette Entzug der Betriebserlaubnis nicht rechtens war“.
       
       Die Haasenburg, die 2001 das erste Heim in Neuendorf, dann 2005 eines in
       Jessern und schließlich 2008 ein drittes in Müncheberg eröffnete und 114
       Heimplätze hatte, habe zuletzt im März 2013 für alle drei Einrichtungen
       durch das Landesjugendamt Brandenburg eine neue Betriebserlaubnis bekommen.
       Der Kläger hatte argumentiert, in dem halben Jahr bis zur Schließung im
       November 2013 habe sich nichts geändert. Jugendämter von elf Behörden
       anderer Bundesländer hätten im August 2013 bei einer Fachdiskussion
       zurückgemeldet, bei 50 Prozent der Untergebrachten führe dies zum Erfolg in
       Form einer Stärkung der Lebenskompetenz.
       
       ## Keine Anhörung von Zeugen
       
       Über die Zustände der Haasenburg hatte [3][die taz damals berichtet]. Bei
       einer vom Jugendministerium daraufhin eingesetzten Untersuchungskommission
       hatten sich im Sommer 2013 zahlreiche junge Betroffene gemeldet, die von
       2003 bis 2013 in den Heimen waren und sich tief geschädigt sahen. Vor allem
       in der sogenannten „Phase rot“ erlebten sie eine harte Einschränkung ihrer
       persönlichen Autonomie.
       
       Hempen sagte nun, es stelle sich die Frage, ob die vor Erteilung der
       jüngsten Betriebserlaubnis liegenden Vorfälle „verbraucht“ seien. Die
       Kammer neige zwar dazu, dies nicht ganz so eng zu sehen, aber Vorgänge aus
       2005 oder 2009 lägen schon „so weit zurück“.
       
       Auch sei der vollständige Entzug der Betriebserlaubnis die „schärfste
       Maßnahme“. Denn nur 56 der 114 Heimplätze waren Teil der geschlossenen
       Unterbringung. Deshalb hätten sich die Richter gefragt, ob es nicht möglich
       gewesen wäre, die freien Plätze und bestimmte Projektgruppen dort
       fortbestehen zu lassen. Auch wären erneute Auflagen das mildere Mittel
       gewesen.
       
       Hempen übernahm damit offenbar in weiten Teilen die Argumentation des
       Klägers. Zeugen, etwa Betroffene, wurden nicht angehört. Bei den
       untergebrachten Kindern und Jugendlichen handle es sich um eine „schwierige
       Klientel“, sagte er, die schon die vorherigen Stufen der Kinder- und
       Jugendhilfe ohne Erfolg durchlaufen hätten. So schlimm manche Einzelfälle
       seien, müsse man das Wohlergehen der Bewohner in Gesamtheit betrachten.
       
       Der Richter, dem dieser Fall übertragen wurde, nachdem er acht Jahre in der
       Schublade lag, schien sich nicht allzu tief in die Materie einlassen zu
       wollen. Ob das pädagogische Konzept als solches das Kindeswohl gefährde,
       könne sein Gericht nur eingeschränkt überprüfen. Ein Konzept, das darauf
       angelegt wäre, den Willen der Minderjährigen mit allen Mitteln zu brechen,
       wäre nicht vom Landesjugendamt genehmigt worden.
       
       Das Gericht könne auch nicht feststellen, dass überdurchschnittlich häufig
       Zwangsmaßnahmen angewendet wurden. Auch wenn man in Einzelfällen
       unterschiedlich bewerten könne, ob so eine „Anti-Aggressionsmaßnahme“ nicht
       angemessen war oder nicht früh genug eingestellt wurde, müsse eine
       Gefährdung durch das Konzept herbeigeführt worden sein.
       
       ## „Das kann nicht der Kinderschutz der Zukunft sein“
       
       Eben das las sich in dem nun für rechtswidrig erklärten Widerrufsbescheid
       des Jugendministeriums vom Dezember 2013, der der taz vorliegt, ganz
       anders. „Die festgestellten Anti-Aggressionsmaßnahmen (AAM) begründen eine
       erhebliche Gefahr für das körperliche, geistige und seelische Wohl der
       Jugendlichen in allen Einrichtungen“, heißt es dort. Der Amtsleiter führte
       aus, dass er immer wieder Auflagen mit dem Ziel der Reduzierung von
       Anti-Aggressionsmaßnahmen erteilte, von 2005 bis 2011 nannte er elf solcher
       Vorgänge.
       
       Und doch kam es auch im Mai 2013, also unter der neusten Betriebserlaubnis,
       bei einer Jugendlichen zu acht Anti-Aggressionsmaßnahmen. Als Auslöser war
       notiert, das Mädchen habe provokantes Auftreten gezeigt und alle Punkte des
       Tagesstrukturplans verweigert. Die Maßnahmen hätten phasenweise als
       Standardprogramm immer wieder stattgefunden, schrieb das Ministerium in
       diesem Widerruf. In den Teams hätten Hinweise auf Vermeidungsstrategien der
       Eskalation gefehlt.
       
       Der Anwalt des Jugendministeriums, Thomas Mörsberger, hatte offenbar mit
       der Wendung des Gerichts nicht gerechnet und zeigte sich in der
       Verhandlungspause entsetzt: „Das kann nicht der Kinderschutz der Zukunft
       sein“. In der Verhandlung sagte er, es sei 2013 aus Sicht der
       Aufsichtsbehörde eine „Gesamtschau“ notwendig gewesen, ob der Träger
       zuverlässig in der Lage ist, das Kindeswohl zu gewährleisten. Dabei gehe um
       einen spezifischen Kindeswohlbegriff für die Heimerziehung. Auch nach einer
       erteilten Betriebserlaubnis müsse dies immer wieder überprüft werden, wenn
       es Hinweise gebe.
       
       Der Vorschlag, statt des Entzugs der Erlaubnis mit Auflagen zu agieren,
       wäre nicht praktikabel gewesen. Denn die im Sommer 2013 eingesetzte
       Untersuchungskommission zur Haasenburg habe so zahlreiche Empfehlungen
       gegeben, dass deren Umsetzung zwei Jahre gedauert hätte. „In den zwei
       Jahren habe ich Kinder und Jugendliche, die zu schützen sind“, so
       Mörsberger.
       
       Auch den Vorschlag, zwischen freien und geschlossenen Plätzen zu
       differenzieren, hielt der renommierte Jurist, der früher selbst ein
       Landesjugendamt leitete und einer der Kommentatoren des Sozialgesetzbuches
       (SGB) VIII ist, für nicht praktikabel. Es sei eine Gesamteinrichtung, in
       der sich Mitarbeiter auch gegenseitig vertreten. „Es ist eine Einrichtung,
       die einen Geist hat, die eine Kultur hat“, sagte er. Hier zu differenzieren
       sei nicht möglich.
       
       Mörsberger sagte, er sei vom Ergebnis überrascht. Das Gericht habe diesen
       und weitere Punkte neu in die Verhandlung eingebracht, die schon vorher im
       Schriftverkehr geführt wurde. Der Anwalt bat deshalb, einen neuen Termin zu
       machen. Nachdem das Verfahren schon so viele Jahre dauere, was nicht an ihm
       gelegen habe, komme es auf „ein paar Monate mehr nicht an“. Als der Richter
       sich nicht offen dafür zeigte, beantragte er einen verzögerten
       Verkündigungstermin des Urteils mit der Gelegenheit für ihn, noch einmal
       schriftlich Stellung zu nehmen.
       
       Doch dies lehnten der Anwalt der Haasenburg und das Gericht ab. Der
       Kläger-Anwalt musste überhaupt wenig sagen, weil der Richter auf seiner
       Linie war.
       
       ## Opfer reagierten entsetzt
       
       Verkündet wurde das Urteil am späten Nachmittag, als die Anwälte schon
       wieder abgereist waren. Das Gericht lässt nicht mal eine Berufung des
       Brandenburgischen Bildungsministeriums zu. Das müsste nun vor das
       Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ziehen, um dieses Berufungsrecht
       einzuklagen. Bildungsminister Steffen Freiberg (SPD) sagte, sein
       Ministerium werde „die Urteilsbegründung und weitere rechtliche Schritte
       prüfen“.
       
       Zwei ehemalige Haasenburg-Bewohner, die den Prozess verfolgten, reagierten
       entsetzt auf das Ende. „Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht für uns
       ehemalige Heimkinder“, sagte Renzo M. „Es zeigt, dass unsere Grundrechte
       weniger wert sind als die der Haasenburg GmbH“. Es bedeute auch, dass die
       Hoffnungen auf eine finanzielle Entschädigung schwinden. „Wir fordern das
       Brandenburgische Bildungsministerium auf, alle rechtlichen Schritte
       auszuschöpfen, um gegen das Urteil in Berufung zu gehen“.
       
       Der Betreiber klagt parallel auf Schadensersatz, dazu soll es ein Verfahren
       beim Landgericht Potsdam geben. Auf die Frage, ob die Haasenburg GmbH mit
       der alten Betriebserlaubnis wieder öffnen könnte, sagte Thomas Mörsberger:
       „Grundsätzlich schon.“ Aber nach seiner Erfahrung komme es sehr maßgeblich
       darauf an, dass die Umgebung und die Verantwortlichen dafür sorgen, dass
       sich gewisse Dinge nicht unbeobachtet entwickeln.
       
       Das Kinder- und Jugendhilferecht wurde 2021 reformiert, auch als Konsequenz
       aus dem Haasenburg-Fall. Es erleichtert fortan den Entzug einer
       Betriebserlaubnis, fordert Beschwerdemöglichkeiten zum Schutz vor Gewalt
       innerhalb und außerhalb einer Einrichtung und stellt explizit die
       Anforderung der Zuverlässigkeit von Trägern.
       
       24 Nov 2023
       
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