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       # taz.de -- Prozess um NSU 2.0-Drohschreiben: Die Angst bleibt
       
       > Drei Jahre lang erhielt die NSU-Opferanwältin Seda Başay-Yıldız
       > rassistische Drohbriefe. Vor Gericht sagte sie aus, wie das ihren Alltag
       > veränderte.
       
   IMG Bild: Schnell gereizt von der Aussagen: der Angeklagte im „NSU 2.0“-Verfahren und sein Anwalt
       
       Frankfurt am Main taz | [1][Seda Başay-Yıldız] redet ruhig, faltet die
       Hände vor sich auf dem Zeugentisch. Aber immer wieder stockt sie, überlegt
       lange, was sie auf Fragen antwortet. Man merkt ihr die Belastung an, die
       Ängste, bis heute. Sie habe im Sommer 2018 viele Drohschreiben bekommen,
       weil sie damals einen Islamisten vertreten habe, berichtet die Anwältin am
       Montag vor dem Landgericht Frankfurt am Main. Das Fax aber, das sie am
       Nachmittag des 2. August 2018 erreichte, [2][unterzeichnet mit „NSU 2.0“,
       war besonders.] Sie solle Deutschland verlassen, „solange du hier lebend
       rauskommst“, stand dort. Dann wurde ihre Meldeadresse benannt und der Name
       ihrer Tochter, damals 22 Monate alt – mit der Ankündigung, sie zu
       „schlachten“.
       
       „Das war das erste Mal, dass ich Anzeige erstattet habe“, sagt
       Başay-Yıldız, im Prozess gegen den Berliner Alexander M., der Verfasser der
       „NSU 2.0“-Drohserie sein soll. Die privaten Daten, der Name ihrer Tochter,
       sie habe sich das nicht erklären können und es habe etwas in ihr ausgelöst.
       Sie habe sofort ihren Mann angerufen, am nächsten Tag die Polizei
       informiert.
       
       Und die Serie ging weiter, fast drei Jahre lang. Die „NSU 2.0“-Schreiben
       gingen auch an weitere Personen, immer wieder aber an Başay-Yıldız. Mehr
       als ein dutzend Schreiben erreichten die NSU-Opferanwältin, fast durchweg
       mit expliziten Todesdrohungen. Nun auch mit Nennung ihrer Eltern und deren
       Geburtsdaten, dann mit ihrer neuen, als geheim eingestuften Adresse, die
       auch offen ins Internet gestellt wurde – samt Aufruf, sie zu töten. Am Ende
       liefen Unbekannte um ihr Haus, die Fotos machten. Başay-Yıldız weiß bis
       heute nicht, wer sie waren.
       
       ## Rückzugsort wird zur Festung
       
       Der ganze Alltag der 46-Jährigen wurde seitdem auf den Kopf gestellt. Sie
       musste vorübergehend von zu Hause aus arbeiten, sagte Mandate und
       öffentliche Termine ab, bekam Polizeischutz. Sie lässt ihr Haus für 50.000
       Euro absichern, bis heute ist es eine Baustelle – der Rückzugsort wird zur
       Festung. Die Familie diskutierte, ob sie ihren Anwaltsjob noch weitermachen
       könne. Sie musste ihre Eltern beruhigen, ihre Tochter abgeschirmt zur Kita
       bringen, die bis heute nichts von den Drohungen erfahren hat. Und der
       Schrecken ist nicht vorbei. „Wir lassen unsere Tochter nach wie vor keine
       Sekunde aus den Augen“, sagt Başay-Yıldız.
       
       Alexander M. [3][verfolgt die Aussage mit verschränkten Armen], weicht den
       Blicken von Başay-Yıldız aus. Schon zu Prozessbeginn hatte der 54-jährige,
       erwerbslose Informatiker behauptet, nichts mit der Drohserie zu tun haben.
       Die Schreiben seien vielmehr von einer Darknetgruppe versendet worden, der
       auch Polizisten angehört hätten und zeitweilig auch er selbst. Und
       tatsächlich wurden die Daten von Başay-Yıldız und ihrer gesamten Familie am
       2. August 2018 auf dem 1. Revier in Frankfurt am Main abgefragt, mit gleich
       17 Abfragen, anderthalb Stunden vor dem ersten Drohfax.
       
       ## Ungehaltener Angeklagter
       
       Laut Anklage besorgte sich Alexander M. die Daten über Anrufe bei der
       Polizei, in denen er sich als Behördenmitarbeiter ausgab. Auf seinem PC
       fanden sich einige der Drohschreiben. Başay-Yıldız aber glaubt, dass
       zumindest an dem ersten Drohfax Polizisten beteiligt waren. Anders sei die
       akribische Abfrage nicht zu erklären.
       
       Und sie verweist auch darauf, dass in früheren Verfahren von ihr, zu
       Abschiebefällen, auch Polizisten des 1. Reviers saßen. Hatte einer von
       ihnen sie dort ins Visier genommen? Başay-Yıldız jedenfalls beklagt, dass
       sie von der Polizei lange nicht informiert und allein gelassen wurde. Auch
       von den Abrufen ihrer Daten im Revier habe sie aus der Presse erfahren.
       
       Am Montag sagt auch noch Mehmet Daimagüler aus, auch er NSU-Opferanwalt und
       Betroffener der Drohserie. Daimagüler sagt, der Fall habe ihn damals „schon
       beunruhigt“, als bekannt wurde, dass Polizisten beteiligt gewesen sein
       könnten. Angst aber habe er nicht gehabt, weil er seit Jahren Drohschreiben
       erhalte. Aber es mache etwas mit der Psyche, man werde misstrauisch und
       zynisch.
       
       Der Angeklagte in diesem Prozess sei für ihn bedeutungslos, sagt
       Daimagüler. Generell aber sehe er solche Drohschreiber als „kleine feige
       Würstchen“. Hier nun schießt Alexander M. nach vorne. „Der spinnt doch“,
       ruft er. Er wolle Daimagüler anzeigen. Die Richterin ermahnt ihn, sich
       zurückzuhalten, die Aussage sei allgemein gemeint gewesen. Alexander M.
       aber zischt: „Der Zeuge sollte es trotzdem nicht auf die Spitze treiben.“
       Es klingt wie eine der Drohungen aus den Schreiben.
       
       21 Feb 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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