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       # taz.de -- Prozess um Pyrotechnik mit Verletzten: Zur Aussage verpflichtet
       
       > Drei Sozialarbeiter:innen droht Haft, wenn sie nicht preisgeben,
       > was Klient:innen ihnen anvertraut haben. Ein Bündnis fordert Reformen.
       
   IMG Bild: Pyros im Fritz-Walter-Stadion im November 2022
       
       Berlin taz | Diese Woche müssen drei Sozialarbeiter:innen vor der
       Staatsanwaltschaft in Karlsruhe aussagen. Ihnen droht eine Strafe, weil sie
       nicht preisgeben wollen, was ihnen Klient:innen im Vertrauen gesagt
       haben. Rechtsanwältin Angela Furmaniak bestätigt den Vorgang gegenüber der
       taz: „Wenn die Staatsanwaltschaft auf eine Aussage besteht und die
       Betroffenen sich weigern, droht ein Ordnungsgeld oder sogar bis zu sechs
       Monate Beugehaft.“
       
       Im konkreten Fall geht es um Karlsruher Fußballfans, die im April im
       Stadion Brandsätze zündeten. Es gab elf Verletzte. Die Staatsanwaltschaft
       ermittelt unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstößen
       gegen das Sprengstoffgesetz. Die drei Sozialarbeiter:innen arbeiten
       mit ebenjenen Fußballfans im Karlsruher Fanprojekt. Sie begleiten die Fans
       zu Spielen, vermitteln [1][zwischen Ultras und Polizei] und beraten in
       allen erdenklichen Lebenslagen.
       
       Sozialarbeiter:innen in Deutschland müssen zwar grundsätzlich für
       sich behalten, was Klient:innen ihnen anvertrauen. Lädt sie aber ein
       Gericht vor, sind sie gesetzlich zur Aussage verpflichtet. Denn im
       Gegensatz etwa zu Geistlichen, Hebammen oder Psychotherapeut:innen, schützt
       das sogenannte Zeugnisverweigerungsrecht der [2][Berufsgeheimnisträger (§
       53 StPO)] Sozialarbeiter:innen nicht. Ausnahmen bilden lediglich die
       Schwangerschaftskonflikt- und die Drogenberatung.
       
       Nach den Pyrotechnikvorfällen im April organisierten die
       Sozialarbeiter:innen in Karlsruhe Versöhnungsgespräche zwischen den
       Fans, die gezündet hatten und den Verletzten. Als die Staatsanwaltschaft
       von den Versöhnungsgesprächen erfuhr, lud sie die drei
       Sozialarbeiter:innen vor. Ihr Vorgesetzter Wilfried Grüßinger findet
       das Vorgehen falsch, hat aber Verständnis für die Staatsanwaltschaft, die
       eben ihre Arbeit mache. „Die Politik muss das lösen“, fordert Grüßinger.
       „Aktuell wird der Konflikt auf Einzelpersonen verlagert.“
       
       ## Die letzte Grundsatzentscheidung ist 50 Jahre alt
       
       Die aktuell betroffenen Sozialarbeiter:innen aus dem Fanprojekt
       Karlsruhe sollen selbst nicht mit der taz sprechen. Ihr Vorgesetzter
       Grüßinger will sie aus der Öffentlichkeit raushalten – um die Kommunikation
       mit der Staatsanwaltschaft nicht zu belasten. Er gibt aber zu bedenken:
       „Wir arbeiten vor allem präventiv und deeskalierend. Dabei sind wir auf die
       vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Fans angewiesen“, so Grüßinger.
       „Wenn wir das Vertrauen verspielen, können wir unseren Arbeitsauftrag nicht
       mehr erfüllen. Die Fans werden uns dann auf Abstand halten.“
       
       Die letzte Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine
       Ausweitung des Rechts auf die Soziale Arbeit liegt über 50 Jahre zurück.
       Das Gericht versagte es der Berufsgruppe damals mit der Begründung, die
       Soziale Arbeit sei kein Beruf, „für dessen Gesamtbild die Begründung
       höchstpersönlicher, grundsätzlich keine Offenbarung duldender
       Vertrauensverhältnisse kennzeichnend wäre“.
       
       Kurz: Das Gericht findet, die Soziale Arbeit sei in ihrer Arbeit nicht auf
       das gleiche Vertrauensverhältnis angewiesen, wie etwa
       Psychotherapeut:innen. Die Verfassungsrichter:innen befanden auch,
       das Berufsfeld sei unklar, besäße keine besondere Vorbildung, keinen
       gewachsenen Berufsethos.
       
       Dass dies bis heute gilt, kritisieren viele Berufsverbände. Neun von ihnen
       haben sich [3][in einem Bündnis zusammengeschlossen] – darunter der
       Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH), die
       Bundesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendhilfe sowie mehrere
       Fanprojekte. Sie setzen sich gemeinsam für ein Zeugnisverweigerungsrecht in
       der Sozialen Arbeit ein.
       
       ## Sozialarbeiter:innen in der Zwickmühle
       
       Matthias Stein ist Sprecher des Bündnisses für ein
       Zeugnisverweigerungsrecht. Er leitet selbst ein Fanprojekt in Jena.
       
       Stein sagt der taz: „Die Justiz riskiert, die Vertrauensverhältnisse zu
       zerstören, auf die wir angewiesen sind.“ Stein weiß, wovon er spricht: Auch
       ihn lud die Staatsanwaltschaft schon vor, um ihn über seine Klient:innen
       zu befragen. „Als Sozialarbeiter:in, ist man in einer Zwickmühle“, sagt
       Stein.
       
       Doch das fehlende Recht ist nicht nur für die [4][Fanprojekte] ein Problem.
       „Das Fehlen des Rechts auf Zeugnisverweigerung kann die Soziale Arbeit in
       vielen Feldern verunmöglichen“, sagt Matthias Stein. Das gelte nicht nur
       für konkrete Vorladungen. Allein die Möglichkeit zur Aussage gezwungen zu
       werden, könne dazu führen, dass die Klient:innen Wichtiges verschweigen
       und weniger Vertrauen aufbauen. „Es ist ein Thema für die ganze
       Profession“, sagt Stein.
       
       Das Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht bezieht sich auch auf ein
       Gutachten von 2018, das beweisen soll, dass die Rechtslage sich seit der
       Grundsatzentscheidung vor über 50 Jahren geändert hat. Die Professoren
       Peter Schruth und Titus Simon von der Hochschule Magdeburg Stendal
       schreiben darin, das Verfassungsgericht argumentiere wie ein „Erzählband
       aus dem vorigen Jahrhundert“.
       
       Die Gutachter verweisen auf 40 Jahre fachliche Entwicklung in der Sozialen
       Arbeit, mit methodischen Standards, gewachsener Berufsethik und
       vereinheitlichten Ausbildungsstandards. Ohne Schutz des Vertrauens ist
       zudem laut Gutachten die Soziale Arbeit mit Personen, die mit dem Gesetz in
       Konflikt kommen, kaum möglich.
       
       ## Sachsen stößt eine Bundesratsinitiative an
       
       Aktuell arbeitet das Bündnis an einem konkreten Vorschlag, wie das Recht
       auf Zeugnisverweigerung auf Sozialarbeiter:innen ausgeweitet werden
       kann. Außerdem rufen sie Kolleg:innen dazu auf, Fälle zu melden, in
       denen das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht die Arbeit behindert hat.
       Matthias Stein gibt sich optimistisch: „Ich sehe in Teilen der Politik
       durchaus Bereitschaft, etwas zu verändern“, sagt Stein.
       
       Im März beschlossen die sächsischen Regierungsfraktionen CDU, Grüne und SPD
       eine Bundesratsinitiative für ein Zeugnisverweigerungsrecht anzustoßen.
       Über Bundesratsinitiativen kann auch der Bundesrat gesetzgebend tätig
       werden.
       
       Das zuständige sächsische Justizministerium antwortet der taz: Die
       Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts sei ein wichtiges Anliegen. Das
       Ministerium werde sich „für eine Erweiterung des § 53 Strafprozessordnung
       einsetzen und einen entsprechenden Antrag im Bundesrat einbringen“. Einen
       konkreten Zeitplan gebe es aber noch nicht.
       
       Auch im Bundestag rühren sich Abgeordnete zu dem Thema. [5][Denise Loop],
       selbst Sozialarbeiterin und Obfrau der Grünen im Ausschuss für Familie,
       Senioren, Frauen und Jugend, fordert: „Eine Hilfeleistung durch Soziale
       Arbeit muss möglich sein, ohne dass die Betroffenen am Ende dafür bestraft
       werden.“ Es brauche ein Zeugnisverweigerungsrecht. Mit ihrer Partei setze
       sie sich deshalb für eine Reform der Strafprozessordnung ein.
       
       Philipp Hartewig, sportpolitischer Sprecher der FDP, klingt da etwas
       gedämpfter: Die Erfahrungen aus Fanprojekten ließen zwar Bedarf für ein
       Zeugnisverweigerungsrecht erkennen. Es müsse aber „Umfang und Reichweite
       auch im Interesse von Rechtssicherheit und Fallpraxis genau geprüft
       werden“, sagt Hartewig.
       
       ## Es drohen bis zu 2.000 Euro Ordnungsgeld
       
       Wie die Berufsverbände von Polizei und Richter:innen zu der Erweiterung
       des Zeugnisverweigerungsrechts stehen, bleibt unklar. Bis Redaktionsschluss
       äußern sie sich auf Anfrage nicht gegenüber der taz. Auch das
       Justizministerium gibt bis Redaktionsschluss keine Einschätzung ab, ob es
       die Erweiterung für umsetzbar und sinnvoll hält.
       
       Bis zu einer Gesetzesänderung kann es also noch dauern. Solange appelliert
       Matthias Stein an die Träger der sozialen Arbeit, ihre Mitarbeitenden im
       Falle einer Vorladung zu verteidigen. Als die Staatsanwaltschaft Stein
       selbst vorlud, hielt sein Träger zu ihm. Der Träger schickte einen Brief
       mit dem Rechtsgutachten an die Staatsanwaltschaft und stellte einen Anwalt.
       „Die Justiz verhielt sich dadurch zumindest verständnisvoller und in einem
       Fall hat ein Richter sogar eingelenkt“, berichtet Stein.
       
       Wilfried Grüßinger, der Vorgesetzte der drei vorgeladenen
       Sozialarbeiter:innen in Karlsruhe, versuchte bis zuletzt, die
       Vorladungen abzuwenden. Das scheiterte. Die drei Betroffenen mussten am
       Montag zur Vorladung erscheinen. Würden die drei sich weiterhin weigern,
       drohen ihnen bis zu 2.000 Euro Ordnungsgeld und final dann die
       sechsmonatige [6][Beugehaft]. Ob sie ausgesagt haben oder nicht, will
       Grüßinger aufgrund des laufenden Verfahrens nicht sagen. Der Sozialarbeiter
       seufzt nur und sagt: „Ich vermute, einfacher wird es erst mal nicht.“
       
       Bleibt abzuwarten, ob die Karlsruher Sozialarbeiter:innen eine
       Strafe riskieren oder das Vertrauen zu ihren Klient:innen verspielen.
       Die Entscheidung wird so oder so eine schlechte sein.
       
       Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die
       Sozialarbeiter:innen müssten vor Gericht aussagen. Das trifft nicht
       zu, sie müssen vor der Staatsanwaltschaft aussagen. Die entsprechende
       Stelle wurde korrigiert.
       
       19 May 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Werder-Bremen-gegen-Rechts/!5930561
   DIR [2] https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__53.html
   DIR [3] https://www.bag-fanprojekte.de/
   DIR [4] https://www.n-tv.de/sport/Sachsen-streicht-Beihilfen-article240343.html
   DIR [5] /Debatte-um-Prostitutionsgesetz/!5930763
   DIR [6] /Gebuehren-fuer-Rettungswageneinsatz/!5903948
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Moritz Müllender
       
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