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       # taz.de -- Prozess zum Nazi-Anschlag von Halle: Der dritte Tatort
       
       > Der rechte Attentäter von Halle schoss nicht nur vor der Synagoge und im
       > „Kiezdöner“. Am Dienstag und Mittwoch ging es vor Gericht um seine Flucht
       > – und vergessene Opfer.
       
   IMG Bild: Schußbeschädigung in der Fensterscheibe des Kiezdöner
       
       Magdeburg epd | Im Prozess gegen den rechstextremen Synagogen-Attentäter
       von Halle ist am Mittwoch dessen Flucht aus der Stadt nach dem Anschlag
       aufgerollt worden. Dazu sagten ein 52-jähriger Zeuge und seine 51-jährige
       Lebensgefährtin aus, auf die der Angeklagte in Wiedersdorf schwer verletzt
       hat. Der 52-Jährige berichtete, es habe an diesem Tag am Hoftor geklopft,
       er habe geöffnet und direkt in eine Pistole geblickt, die auf sein Gesicht
       zielte. Der Angeklagte habe ihn mehrfach nach dem Autoschlüssel gefragt und
       an seiner Waffe gespielt.
       
       Zuvor hatte der Angeklagt aus seiner antisemitischen und rassistischen
       Motivation heraus einen Anschlag auf die [1][Synagoge in Halle] verübt.
       Weil es ihm nicht gelang, mit Sprengsätzen und Schusswaffen in die Synagoge
       zu gelangen, erschoss er zunächst eine 40 Jahre alte Passantin und dann in
       einem nahe gelegenen Döner-Imbiss [2][einen 20-jährigen Mann].
       
       Auch auf den Zeugen und sein Lebensgefährtin, die Mittwoch vor Gericht
       aussagten, schoss der Angeklagte schließlich. Sie sei im Rücken getroffen
       worden, sagte die Zeugin. Der Angeklagte habe „rumgejammert wie ein
       Weichei, wie ein Muttersöhnchen“, dass er ein Auto brauche, weil er
       verletzt sei. Der Angeklagte war zuvor bei einem Schusswechsel mit der
       Polizei in Halle am Hals verletzt worden. Dabei war auch sein Fluchtauto
       beschädigt worden.
       
       Als der Angeklagte den Hof verließ, hätten sie alle Türen abgeschlossen und
       die Polizei alarmiert, die sie aber erst nicht ernst genommen habe und erst
       nach 20 oder 25 Minuten gekommen sei, erklärte das Paar. Dann sei zunächst
       auch nur ein Polizist gekommen. Den Zeugen fiel es sichtlich schwer über
       die Ereignisse zu sprechen. Noch heute habe er ständige Kopfschmerzen,
       neben den körperlichen auch psychische Beschwerden, sagte der 52-Jährige:
       „Es ist ein komplett anderes Leben jetzt.“ Beide sind seit dem 9. Oktober
       2019 arbeitsunfähig.
       
       Unterstützung hätten sie bisher nur durch den Weißen Ring erhalten, sagte
       die 51-Jährige. Zudem habe ihnen jemand aus der Synagoge, der anonym
       bleiben wollte, einen Gutschein geschenkt: „Sie haben gemerkt, dass es uns
       gibt.“ Ansonsten seien die Verletzten irgendwie „hinten runtergefallen“. Es
       habe drei Tatorte gegeben habe, nicht nur zwei. Auch weitere Anwohner aus
       dem von Halle etwa zehn Kilometer entfernten Wiedersdorf, die den
       Prozesstag als Zuschauer verfolgten, erläuterten, sie hätten den Eindruck,
       dass die Geschehnisse in ihrem 70 Einwohner zählenden Ort bisher immer in
       den Hintergrund gerückt worden seien.
       
       ## Gezielt Menschen angefahren
       
       Als weiterer Zeuge sagte ein 37-jähriger KfZ-Meister aus, den der
       Attentäter aufsuchte, nachdem er den Hof in Wiedersdorf verlassen hatte.
       Der Angeklagte erpresste sich dort ein Taxi. Er soll zu den drei Männern in
       der Werkstatt gesagt haben: „Ich bin ein gesuchter Schwerverbrecher. Ich
       habe da drüben schon zwei Menschen erschossen. Das will ich bei euch nicht
       machen.“
       
       Der Attentäter hat auf seiner Flucht noch in Halle offenbar auch gezielt
       einen Somalier angefahren. Bereits am Dienstag hatte der 24-jährige
       Somalier vor Gericht ausgesagt. Der junge Mann, der auch Nebenkläger in dem
       Mordprozess ist, berichtete, er sei gemeinsam mit einem Freund aus einer
       Straßenbahn gestiegen, als er von dem Attentäter angefahren wurde.
       
       Der Somalier gab an, zu Boden gefallen und kurz ohnmächtig gewesen zu sein.
       Er erlitt Verletzungen an Knie und Arm. Ein weiterer Zeuge des Vorfalls
       schätzte die Geschwindigkeit des Fluchtautos auf 70 bis 80 Kilometer pro
       Stunde. Nach seiner Beobachtung war das Fahrzeug gezielt auf die Personen
       zugefahren. Der Somalier gab an, noch immer unter den psychischen Folgen zu
       leiden. Er wolle nicht mehr in Halle leben, sagte er. Mit Halle verbinde er
       viele schlechte Erinnerungen, immer wieder Diskriminierungen und
       Beleidigungen. Nach dem Vorfall am 9. Oktober 2019 sei er dünnhäutiger
       geworden.
       
       Ein Kollege des getöteten Kevin S., der mit dem 20-Jährigen in der
       Mittagspause im Döner-Imbiss war, konnte am Dienstag nicht als Zeuge vor
       Gericht aussagen. Es wurden Atteste verlesen, die deutlich machten, dass er
       durch den Anschlag schwer gesundheitlich beeinträchtigt ist. Seine Anwältin
       erklärte, ihr Mandant, ein Mann Mitte 40, sei durch diese abscheuliche und
       feige Tat mitten aus seinem Leben gerissen worden. Er sei seit dem 9.
       Oktober 2019 nicht mehr arbeitsfähig und kaum in der Lage, seine Wohnung zu
       verlassen. Zudem mache er sich Vorwürfe: Er hatte an dem Tag sein
       Mittagessen vergessen und sei daraufhin mit Kevin S. in den Döner-Imbiss
       gegangen, was er vorgeschlagen hatte.
       
       Vor Gericht wurde seine Aussage verlesen, die er bei der Polizei gemacht
       hatte. Er war gemeinsam mit Kevin S. auf einer Baustelle etwa zwei Minuten
       vom Döner-Imbiss entfernt im Einsatz. Zum Tatzeitpunkt hatte er mit seiner
       Freundin telefoniert, die am Telefon alles mitbekam. Bei dem Angriff sei er
       sofort aufgesprungen, habe sich zunächst hinter einem Kühlschrank
       versteckt. Er habe furchtbare Angst gehabt, sagte er der Polizei: „Ich
       wollte einfach nur überleben.“ Schließlich sei er in Panik in einen
       hinteren Raum geflüchtet.
       
       23 Sep 2020
       
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