URI: 
       # taz.de -- Putins Nazi-Definition: Ausgelöschte Geschichte
       
       > Putin deutet „Nazismus“ zu einem Kampf- und Feindbegriff um.
       > NS-Gedenkinitiativen und Überlebende des Naziterrors sollten sich dagegen
       > wehren.
       
   IMG Bild: Für Putin gehört der jüdischstämmige Präsident Selenski zu den Nazis der Ukraine
       
       Mit dem Angriffskrieg Russlands ist nicht nur ein System der Sicherheit und
       Zusammenarbeit in Europa zerstört worden, das uns über Jahrzehnte halbwegs
       friedliche Verhältnisse beschert hat. Auch eine noch viel ältere
       Übereinkunft ist geplatzt: [1][die gemeinsame Erinnerung an die
       NS-Terrorherrschaft]. 80 Jahre bestand dieser Konsens. 80 Jahre lang waren
       sich Europas Regierungen darin einig, dass der Nazismus nie wieder eine
       Chance zur Entfaltung haben dürfe. Über 80 Jahre verband man mit der
       Niederschlagung der nationalsozialistischen Herrschaft die Hoffnung darauf,
       dass aus den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs eine andere, bessere
       Gesellschaft erwachsen würde.
       
       Dieser Konsens ist dahin. Wladimir Putin hat mit seiner wiederholten
       Behauptung, die Ukraine sei von „Nazis“ gelenkt und müsse „entnazifiziert“
       werden, den Kampf gegen den Faschismus in sein Gegenteil verkehrt: als
       Begründung dafür, selbst zu Methoden zu greifen, die nicht weit vom
       Faschismus entfernt liegen. Das russische Regime hat den Begriff des
       Nazismus damit pervertiert.
       
       Es verhöhnt die Opfer von damals, indem sie sie mit der Regierung eines
       unabhängigen Staates gleichsetzt, der [2][von einem Mann mit jüdischen
       Wurzeln angeführt wird]. Es trampelt [3][auf den Gräbern von Millionen
       Toten herum] und erklärt diese umstandslos zu Vorboten seiner Verbrechen.
       Sinnbildlich macht das Regime so aus Ermordeten Mörder.
       
       Russland funktionalisiert Nazismus zu einem Kampf- und Feindbegriff, dessen
       einzige Bedeutung darin besteht, einen unabhängigen Staat und seine
       Bewohner zu delegitimieren – damit in der eigenen Bevölkerung bei
       gleichgeschalteten Medien eine uneingeschränkte Unterstützung für das
       eigene Vorgehen zu erhalten. Dabei ist es genau andersherum. In der Ukraine
       konnte der Einfluss von Rechtsextremen (die es selbstverständlich auch dort
       gibt) in den letzten Jahren minimiert werden. Putins Russland dagegen hat
       auf mannigfaltige Weise rechtsradikale Bewegungen in Europa unterstützt, um
       die westliche Politik zu schwächen.
       
       ## Beiwerk im Konsens
       
       Nun sind Lügen und Verdrehungen bei der Nutzung der Begriffe Nazismus und
       Faschismus kein neues Phänomen. Beide Machtblöcke hatten sich im Kalten
       Krieg damit munitioniert. Im Westen war von „rot lackierten Nazis“ – so der
       SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher – die Rede, wenn es um den Osten ging,
       umgekehrt stellte man westliche Regierungsmitglieder gerne als Handlanger
       alter Nazis dar. Manches davon stimmte sogar.
       
       Aber diese Propagandaaktionen waren nur Beiwerk in einem übergeordneten
       Konsens, der sich in gemeinsamen Erinnerungsfeiern der Siegermächte
       manifestierte, an denen später auch die Verlierer als geläuterte Demokraten
       teilnehmen durften. Ja, da war viel Lametta im Spiel, nebst Militärmusik
       und kraftstrotzender Reden. Aber dahinter stand eine gemeinsame Sache.
       Selbst bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956 und dem
       Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 beschränkten sich die
       Ostblock-Lenker darauf, von einer „konterrevolutionären Gefahr“ zu
       schwadronieren – nicht aber von Nazis.
       
       Wladimir Putins Regime schreckt davor nicht zurück. Die vollständige
       Beliebigkeit, mit der Moskau [4][den Begriff des Nazismus verwendet], wird,
       so steht es zu befürchten, zum gerne kopierten Abziehbild werden, wenn es
       darum geht, den jeweiligen Feind in Grund und Boden zu verwünschen. Damit
       droht die Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und seine
       Massenmorde zur bloßen Propaganda zu verkommen, beliebig einsetzbar und,
       wie wir in der Ukraine sehen, im Zweifelsfall tödlich.
       
       Ein Angriffskrieg im Namen des Kampfs gegen den Nazismus macht das
       Verbrechen nicht weniger furchtbar. Aber so wird Geschichte zuerst
       ausgelöscht und kann dann neu geschrieben werden. Das kleine bisschen
       Konsens, über den wir uns bis vor Kurzem noch sicher waren, zerbröckelt
       zugunsten der Lüge.
       
       ## Völkischer Ultra-Nationalist
       
       Hüten wir uns davor, mit ähnlichen Mitteln zurückzuschlagen. Wladimir Putin
       ist nicht Adolf Hitler, auch wenn er einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen
       hat. Er ist ein im völkischen Denken verhafteter Ultra-Nationalist, der
       über Leichen geht. Er ist nicht der erste Machthaber dieser Kategorie, aber
       der erste, der über Atomwaffen verfügt.
       
       Es ist an der Zeit, dass sich NS-Gedenkstätten, Initiativen, die wenigen
       Überlebenden und ihre Nachkommen gemeinsam gegen diese Uminterpretation
       der Geschichte wehren. Dass sie erklären, wer hier lügt und betrügt. Knapp
       80 Jahre nach dem Ende den NS-Regimes ist dies ein Ratschlag, der an
       Bitterkeit kaum zu übertreffen ist.
       
       Es geht darum, furchtbare historische Erfahrungen vor der Usurpation zu
       bewahren. Es darf nicht sein, dass aus der Erinnerung an die NS-Gräueltaten
       und dem Versuch der historischen Aufarbeitung ein Label wird, das das
       genaue Gegenteil dessen propagiert, was wir als Lehre aus der Geschichte
       ziehen müssen.
       
       6 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gedenken-an-die-Toten-von-Babyn-Jar/!5803898
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolodymyr_Selenskyj
   DIR [3] http://xn--Gibt%20es%20Oligarchen,%20die%20%20und%20sei%20es%20nur,%20um%20ihre%20Privilegien%20zu%20retten%20%20Putin%20durch%20eine%20andere%20Person%20ersetzen,%20die%20den%20Krieg%20dann%20beendet-y173gmb
   DIR [4] /Putins-Motive/!5837546
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Holocaust
   DIR Wladimir Putin
   DIR Wolodymyr Selenskij
   DIR GNS
   DIR Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Lawrows Hitler-Vergleiche: Lunte an einem Pulverfass
       
       Die Kriegstreiber im Kreml scheuen nicht davor zurück, mit grotesken
       Behauptungen Rechtsradikale zu bedienen. Ihr Antisemitismus wird auf
       fruchtbaren Boden fallen.
       
   DIR Reflexion über den Ukrainekrieg: Raus aus der Einbahnstraße
       
       Kriege fordern schnelles Handeln und lassen wenig Raum zum Nachdenken.
       Dennoch braucht es ein Reflektieren, wie es zum Ukrainekrieg kommen konnte.
       
   DIR Millionen-Metropole Charkiw: Die vierte Schlacht
       
       Charkiw steht unter Beschuss. Erinnerungen an Kriege prägen die Stadt – und
       die vielen Studierenden aus aller Welt, die um ihr Leben bangen müssen.
       
   DIR Gespräche mit Russland: Putin bleibt unerbittlich
       
       Israels Regierungschef Naftali Bennett ist nach Moskau gereist. Doch bisher
       gelingt es ihm nicht, den Kremlchef vom Krieg gegen die Ukraine
       abzubringen.
       
   DIR Antikriegsproteste in Russland: Putins Lügengebäude wackelt
       
       So wenig, wie Putin die Ukrainer*innen kennt, die sich nicht „befreit“
       fühlen, so schlecht kennt er offensichtlich auch seine eigenen Landsleute.
       
   DIR Stimmungsbild aus Moskau: Die russische Parallelwelt
       
       Viele Menschen auf Moskauer Straßen wundern sich: „Krieg? Welcher Krieg
       denn?“ Putins Indoktrination wirkt, nur wenige scheinen entsetzt.
       
   DIR Putins Motive: Krieg gegen die Brüder
       
       Das Kriegsziel des Autokraten Putin ist vorerst die Ukraine. Dahinter
       verbirgt sich die Vision, Russland solle zur Größe der Sowjetunion
       zurückkehren.