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       # taz.de -- Queere Partyreihe in Berlin: Eine Heimat der Nacht
       
       > Seit den 90ern ist „Gayhane“ im SO36 ein Treffpunkt im queeren
       > Unendlichen. Fotograf Nicolaus Schmidt hat der Partyreihe nun ein Denkmal
       > gesetzt.
       
   IMG Bild: Queeres Berlin: Showtime mit Cihangir im „Gayhane“
       
       Vielleicht ist es für dieses Haus nur gut, dass eine doch naheliegende Idee
       nie erwogen wurde. „Gayhane“ nämlich zum wenigstens Berliner Weltkulturerbe
       zu erklären, zum vermutlich wichtigsten Ausgehlokal der Stadt, nicht nur
       des Bezirks Kreuzbergs. Was vielleicht daran liegt, dass nicht jeder und
       jede hineinkommt: Das „Gayhane“, das [1][seine Türen im SO36] ohnehin nur
       einmal im Monat öffnet und dies auch nach den Corona-Lockdowns auch wieder
       tun wird, ist ein Tanz- und Performanceschuppen von Schwulen und Lesben und
       Trans*menschen und Drags, aber eben nicht von weißen Queers, sondern
       solchen „türkischer“ Herkunft.
       
       Das so zu beschreiben klingt viel zu formal, identitätsverschubladisiert,
       als sei das Benannte in wörtlichen Markierungen zu haben, und genau das ist
       es nicht: Herein kommt, wer überhaupt körperlich und vom Gemüt her Lust
       hat, sich auf die türkische, arabische, indische oder israelische Musik
       einzulassen, die wird nämlich aufgelegt zum gemeinsamen Move. Oder, aus der
       Perspektive des echten Lebens: Menschen, die in Clubs und Discos und
       Tanztempeln wegen ihrer als muslimisch gelesenen Körper nicht oder nur
       unter Verdacht hereingelassen werden.
       
       Nicolaus Schmidt, in Hamburg ausgebildeter Fotograf und dort unter anderem
       in den Siebzigern für die Underground-Zeitschrift rosa tätig, hat dem
       „Gayhane“ eine opulente Bekennerschrift gewidmet, ein schieres Bekenntnis
       zu dieser Partyreihe selbst. Aber das wiederum ist zu kühl umrissen: Ein
       wirklich schweres Coffee-Table-Book in schmuckem Einband ist es geworden,
       darin viele zwischen 2003 und 2006 aufgenommene Bilder von den
       Besucher:innen des „Gayhane“.
       
       Gäste zu fotografieren, war und ist verboten, wie ja auch im Berghain, aber
       während diese Institution der (Auch-)Promis diese Untersagung strikt nimmt,
       weil dessen Besucher:innen sich eben nicht wie auf einem Catwalk
       benehmen sollen, ist es beim „Gayhane“ ja so, dass die Nacht aller Nächte
       auch Menschen anzieht, für sie generell da ist, die als nichtheteromäßig
       begehrende Männer (und Frauen) weder geoutet sind noch es wollen,
       ängstlich, in ihren Familien, in ihren Umwelten als queer zu gelten.
       
       Fotograf Schmidt, dem nach seinem Lebensortwechsel nach Berlin das
       „Gayhane“ zum Sehnsuchtsort und er also dort Stammgast wurde, hat aber alle
       Erlaubnisse eingeholt, er kann mit den Betreiber:innen gut, auch mit
       der auf dem Cover präsentierten Fatma Souad.
       
       ## Aufleglegende Ipek
       
       Für sie war es okay, für die Fotografierten auch. Was wir, als Leute, die
       keinen näheren, historisch gewachsenen Kontakt in diese Szene haben,
       schließlich sehen, sind Menschen, die beseelt aussehen, glücklich, an genau
       diesem Ort zu sein, eben in einem Raum der prinzipiellen Unangefochtenheit.
       So sieht man Gesichter, Mimiken, Schnappschüsse aus einem utopisch
       anmutenden Miteinander, buschige Wimpern und akkurat gezeichnete
       Kajallinien, Bartstoppeln und dünne Linien vom Schweiß der Nächte, voller
       Spannung, so die Fantasie des Betrachtenden, was der spätere Abend, die
       Nacht noch bringen wird.
       
       Manchen Bildern sieht man das ältere Datum an, sie sind von grobkörnigerer
       Struktur, aber das erschließt sich erst beim Studium der Details. Unbedingt
       nötig, um sich dieses Werk zu erschließen, ist aber die Lektüre des
       Begleithefts, darin Texte von DJane Ipek, die in den frühen neunziger
       Jahren im „Gayhane“ zur Auflegelegende wurde, zunächst, was für eine schöne
       Information, mit Tapes wie für den Kassettenrecorder.
       
       Aber auf technische Perfektion kam es offenbar damals – wie heute – nicht
       an. Schmidt beschreibt dies so: „Gayhane ist seit zwanzig Jahren eine
       Partyreihe im legendären SO36 in Berlin, ursprünglich von Fatma Souad und
       Cihangir Gümüştürkmen als ‚Salon Oriental‘ begonnen. ‚Hane‘ steht im
       Arabischen und im Türkischen für Haus. Gayhane heißt damit so viel wie
       Schwulenhaus. […] Gayhane ist ein geschützter Raum. […] Ipek: ‚Erst mit
       Gayhane hat sich auch in Berlin das Bewusstsein entwickelt: Aha, es gibt da
       eine Community von Leuten, die einen Migrationshintergrund haben, aber auch
       LGBTQI sind.‘“
       
       Und genau das ist der Punkt, an dem Weltkulturpionierleistungen erwogen
       werden könnten: Das „Gayhane“, das für queere Menschen aus den muslimisch
       geprägten Einwanderercommunitys ein Ort der Selbstvergewisserung, der
       Leichtigkeit, der Lust, des Aufbruchs, der schlichten Stärkung in Berlin
       war. Eine Heimat der Nacht, ohne dass sie als Familie beschrieben werden
       sollte.
       
       ## Mehr queer als schwul
       
       „Gayhane“, mehr queer als schwul, ist auch ein Ort, an dem, wie es in einem
       extrem versierten Text von Kira Kosnick im Begleitheft zu lesen steht, es
       nicht um fixe Identitäten geht, sondern um die „Sozialität“ des
       Gemeinsamen, also um die Erfahrungen, die die Besucher:innen zusammen
       machen: Man kann frei und unangefochten sein, ohne Nachstellungen zu
       fürchten. Solch einen Ort gab es nirgends, weder damals noch heute
       ernsthaft.
       
       Im „Gayhane“, so gesehen, wuchs eine Community von Berliner:innen
       heran, die um Plätze jenseits des „weißen“ Metropolenlebens kämpften und so
       ins hauptstädtische Stimmenkonzert die ihren eintrugen: Aus dem
       „Gayhane“-Leben kam es zur Gründung von etlichen LGBTI*-Gruppen, in denen
       türkisch- und arabischstämmige Menschen sich wohlfühlen. Auch der
       Transgeniale Kreuzberger CSD wurde faktisch aus dem kulturellen Aufbruch,
       der aus diesen Nächten geboren wurde, erfunden.
       
       Nicolaus Schmidt hat die wichtigsten Autor:innen für das Booklet
       versammelt. Wir erfahren, dass die Türsteherpolitik geübt werden musste,
       weil es ja nicht nur galt, den rassistischen Feind außen vor zu lassen,
       sondern auch weiße Menschen, die in den gewöhnlichen Gästen des „Gayhane“
       allenfalls interessante, exotisch anmutende Menschen sahen. Doch ebenso,
       das steht nicht nur zwischen den Zeilen, die Heteromacker aus der
       türkischen Community, die erst zu lernen hatten, wie man sich respektvoll
       und nicht queerphob zu verhalten hat.
       
       Dominanzgebaren ist im „Gayhane“ in jeder Hinsicht unwillkommen.
       Platzhirschallüren heteronormativer Art haben dort keine Arena, gut so und
       erstaunlich erfolgreich.
       
       ## Glamouröses Werk
       
       Es ist alles in allem ein glamouröses Werk, als es dem echten Nachtleben
       von Drags, Tunten, Schwulen, Lesben, Trans* und ihren Freund:innen ein
       beeindruckendes Denkmal setzt, ein Zeugnis der Vitalität auch des modernen,
       auf Respekt und Liebe setzenden Berlins überhaupt. Gegen das, was im
       Berghain aufgeboten wurde, inklusive aller medialen Versuche, es zur
       ästhetischen Regierungszentrale Deutschlands aufzufönen, wirkt das
       Hingebungsvolle, das die Fotografien belegen, wie antiindustriell,
       handgemacht, frisch und kraftvoll.
       
       Dass Nicolaus Schmidt zwischen seinen Bildern arabisch anmutende
       Fantasiezeichen setzt, „stark reduzierte Zeichnungen menschlicher Körper“
       im Tanz, mag gefallen: Sie simulieren Versfragmente von Franz Schuberts
       „Winterreise“-Liedern – das kommt beinah einer „weißen“
       Überinterpretationslust gleich.
       
       Sie sind recht eigentlich unnötig: Das „Gayhane“, wie es DJane Ipek
       schreibt, möge leben, sie werde dem Haus als seine tonangebende
       Miterfinderin „von Herzen verbunden bleiben“. Und alle, die diese
       Partyreihe für ein Wunder in puncto Schönheit und Lust halten, auch.
       
       19 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Queeres-Jubilaeum-im-SO36/!5565083
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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