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       # taz.de -- Räumung Liebigstraße 14 in Berlin: Das Ende der Besetzung
       
       > 2.500 Polizisten räumten das von Alternativen verbarrikadierte Haus
       > innerhalb von vier Stunden. Die Bilanz bis zum Abend: über dreißig
       > Festnahmen und acht verletzte Polizisten.
       
   IMG Bild: Vom Traum des "Anders leben" bleibt nur noch die bunte Hausfassade übrig.
       
       BERLIN taz | Franz Schulz ist ein Bürgermeister, der meist ernst
       dreinblickt. Am Mittwoch aber scheint sein Blick noch etwas ernster. Der
       Grünen-Politiker und Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg
       steht vor dem Haus Liebigstraße 14, die schwarze Wollmütze tief im Gesicht,
       Hände in den Manteltaschen. Ein schwerer Verlust sei das, was hier
       passiere, sagt der 62-Jährige. "Die Angst ist da, dass jetzt ein
       Dominoeffekt eintritt." Ein Effekt, der die alternative Wohnstruktur im
       Bezirk wegbrechen lässt. Nicht nur in diesem Bezirk.
       
       Seit sieben Uhr früh steht Schulz in der kleinen Kopfsteinpflasterstraße im
       Alternativ-Bezirk Friedrichshain. Die vielen Polizisten, die neben dem
       Bürgermeister patrouillieren, sind noch etwas früher angekommen. Ab 4 Uhr
       haben sie den Kiez abgeriegelt und die Dächer um das orangefarben
       angestrichene Haus mit den vielen Antifa-Postern und Graffitis besetzt. Um
       8 Uhr rückte der Gerichtsvollzieher an. Er wird heute dieses Wohnprojekt
       beenden: Das Haus Liebigstraße 14 wurde 1990 besetzt und zwei Jahre später
       legalisiert. [1][Nun wird es geräumt.] 
       
       Jahrelang hatten sich die 25 Bewohner dagegen vor Gericht gewehrt, an
       runden Tischen um Lösungen gerungen. Vergebens. Die Eigentümer waren zu
       keinen Gesprächen bereit, der Senat regte sich nicht, ein Alternativhaus zu
       finden. Im November 2009 wurde den zumeist jungen Bewohnern, darunter
       Italiener, Spanier und Engländer, gekündigt. Anfang Januar 2011 erreichte
       sie der Räumungsbescheid.
       
       Szene mobilisiert seit Wochen 
       
       Seit Wochen mobilisierte die autonome Szene - mit Erfolg: Hunderte,
       vielleicht Tausende, auch aus anderen Städten und Nachbarländern, kommen am
       Mittwoch, um gegen die Räumung zu protestieren. Und um noch einmal den
       eigentlich seit Jahren erledigten Widerstand der Berliner Hausbesetzerszene
       aufleben zu lassen.
       
       Schon in den frühen Morgenstunden muss die Polizei Sympathisanten vorm Haus
       vertreiben. Zuvor hatten bis in die Nacht die Bewohner ihr Haus noch
       verbarrikadiert, die Fenster vernagelt, die Balkone vergittert. Als sich
       die Polizei ins Haus hämmert, steht sie vor einem großen Sperrmüllhaufen,
       Wasser läuft die Stufen hinab - das Treppenhaus ist blockiert.
       
       Mehr als vier Stunden brauchen die Beamten, um am Mittag über einen
       Mauerdurchbruch im Dach bis in die dritte Etage vorzudringen. Sechs junge
       Männer und drei Frauen, die letzten Bewohner, haben sich hier
       eingeschlossen. Sie wehren sich mit Feuerlöschern, dann werden sie
       abgeführt.
       
       Unterdessen ziehen Schwarzgekleidete in Kleingruppen durch die
       Nachbarschaft und zetteln "dezentrale Aktionen" an. Mülltonnen werden
       umgeworfen, Kreuzungen blockiert, Straßenbahnen gestoppt, Steine fliegen in
       eine Bank, Farbbeutel an Fassaden. So schnell sich die Akteure
       zusammenfinden, so schnell stieben sie wieder auseinander.
       
       Insgesamt 32 Festnahmen, unter anderem wegen Landfriedensbruchs und
       Körperverletzung, und acht verletzte Beamte meldet die Polizei bis zum
       frühen Abend. Ein Polizist musste im Krankenhaus behandelt werden. Bei
       einer Spontandemonstration auf der Frankfurter Allee mit rund 500
       Teilnehmern wurden Flaschen und Steine in Richtung von Polizeibeamten
       geworfen, sagte ein Polizeisprecher. Die Polizei habe zeitweise rund 1.000
       Demonstranten beobachtet.
       
       Doch es sind nicht wie einst die großen Straßenschlachten, die diese
       Räumung begleiten, es sind kurze, beständige Unruhestiftungen, dazu kommt
       die Verbarrikadierung des Hauses. Mehr war nicht drin. Und doch ist es
       mehr, als viele Politiker der Hausbewegung noch zugetraut hätten.
       
       Über 200 besetzte Häuser 
       
       Mehr als 200 Häuser waren nach 1990 in Berlin besetzt. Erfolgreiche
       Neubesetzungen hat es seit Jahren nicht gegeben. In der Innenstadt schwinde
       der Platz für Freiräume, hatten die Liebig-Bewohner immer wieder öffentlich
       kritisiert. Sie sind mit dieser Einschätzung nicht allein. Längst ist
       Gentrifizierung für viele Berliner kein Fremdwort mehr. Die Forderung nach
       sozialverträglichen Mieten, so versprechen fast alle Parteien, werde ein
       Hauptthema vor und nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Herbst.
       
       Den einst besetzten Alternativhäusern aber zeigt die Politik die kalte
       Schulter. Für die Liebig 14 gibt es am Mittwoch keine Solidaritätsnote der
       rot-roten Regierung. Auch die an die Macht strebende Landesspitze der
       Grünen fordert die Bewohner auf, "friedlich das Haus zu verlassen".
       
       In Friedrichshain-Kreuzberg sieht man das anders. Außer
       Bezirksbürgermeister Schulz fährt von den Grünen/Bündnis 90 auch
       Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele mit dem Fahrrad vor. Aus
       vielen einst besetzten Häusern sei heute "etwas Vorzeigbares" geworden,
       sagt Ströbele. "Deshalb ist es absurd, dass die Liebig nicht weitermachen
       durfte. Wir verlieren immer mehr alternative Flecken."
       
       Ein Autonomer mit schwarzer Kapuze drückt das später kaum anders aus: Immer
       mehr linke Freiräume gingen heute verloren. Eigens aus Leipzig sei er mit
       vier Bekannten angereist, erzählt der 30-Jährige, um "Widerstand zu
       leisten". Weil die Liebig 14 kein Einzelfall sei.
       
       Auch in der Nachbarschaft regt sich offen Unmut. "Eine Niederlage für alle"
       sei der heutige Tag, sagt ein junges Pärchen. Mit Brötchenbeutel stehen sie
       vor der Polizeikette. "Ich könnte heulen, wenn ich diese Bilder sehe", sagt
       die Frau. Es sei ein Armutszeugnis, dass es dem Senat nicht gelungen sei,
       die Eigentümer an den Tisch zu holen, um zu verhandeln. Auch beim Bäcker
       nebenan ist man betrübt. "Die Linken waren immer nett und freundlich", sagt
       die Verkäuferin. Sie würden ihr fehlen.
       
       Doch nicht alle sehen das so. Ein 70-Jähriger beugt sich in einer
       Nebenstraße aus dem Fenster. "Wird Zeit, dass diese Dreckecke aufgeräumt
       wird", grummelt er. Später parkt er sicherheitshalber seinen Skoda um. Auch
       die Kitas haben vorsorglich geschlossen. Zumindest äußerlich steht die
       Nachbarschaft hinter den Alternativen. "Solidarität mit Liebig 14",
       flattern Banner an den Balkonen. Und die Bäckersfrau schmeißt Polizisten
       aus dem Laden.
       
       Noch ein paar Tage Ärger 
       
       2.500 Polizisten waren im Einsatz. Heftige Ausschreitungen erwartet die
       Polizei jedoch erst für den Abend. Dann, wenn sich die vielen in einer
       "Wut"-Demonstration zusammenfinden sollen. Eine Demonstration am Samstag
       hat so krawallig geendet wie seit Jahren nicht mehr. Steine verletzten 40
       Polizisten.
       
       Noch ein paar Tage lang dürfte es nachts Ärger geben. Farbbeutelwürfe auf
       Senatsgebäude, Polizeidirektionen oder Immobilienbüros. Wie schon in den
       Tagen zuvor. Danach dürfte wieder Ruhe einkehren, auch in Friedrichshain.
       Etwas weiter nördlich dominieren bereits rote Townhouses mit grünen Gärten.
       Dem aktuellen Berliner Sozialbericht nach gibt es hier die geringste
       Arbeitslosigkeit der Stadt.
       
       Bürgermeister Schulz findet das nicht schlecht. Doch es müsse auch Platz
       für Alternatives geben, sagt der studierte Physiker. Bis zum Nachmittag
       bleibt er und stellt sich als Vermittler zur Verfügung, "falls sich doch
       noch ein Ersatzhaus findet". Immerhin hätten viele am Mittwoch ihren Unmut
       gezeigt, sagt Schulz. "Ich hatte schon befürchtet, dass kaum einer kommt."
       
       2 Feb 2011
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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