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       # taz.de -- Rebellenbastion Idlib im Syrien-Krieg: Warten auf Assads letzte Offensive
       
       > Am Freitag beraten Iran, Russland und die Türkei über den Krieg in
       > Syrien. Das Assad-Regime will die verbliebenen Rebellen aus Idlib
       > vertreiben.
       
   IMG Bild: Eine Mauer zwischen der Türkei und der syrischen Provinz Idlib, aufgenommen im Oktober 2017
       
       Von einem „perfekten Sturm“ spricht der UN-Syrienbeauftragte Staffan de
       Mistura. Der Begriff bezeichnet das Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die
       eine maximale Katastrophe herbeiführen – eine Katastrophe, die den Menschen
       im syrischen Idlib bevorstehen könnte. Über andere Themen wollte de Mistura
       nicht sprechen. „Wenn ein perfekter Sturm direkt vor unseren Augen
       aufzieht“, dann gebe es nur ein Thema: Idlib.
       
       Die Region im Nordwesten Syriens ist neben den kurdischen Gebieten das
       letzte Stück Land in Händen von Rebellen. Seit Wochen verdichten sich die
       Hinweise, dass das Assad-Regime Idlib mit russischer Unterstützung in einer
       blutigen Luft- und Bodenoffensive zurückerobern wird.
       
       Am Freitag wollen die Präsidenten Russlands, Irans und der Türkei über ihr
       Vorgehen in Idlib beraten. Bei dem Gipfel in Teheran könnte der Startschuss
       für die erwartete Offensive fallen, [1][der die Türkei allerdings kritisch
       gegenübersteht.] Nach dem Treffen werde Klarheit über die militärische Lage
       herrschen, sagte der russische Vizeaußenminister Sergei Rjabkow am
       Mittwoch. Die drei Mächte hatten sich Ende 2016 im Astana-Format
       zusammengeschlossen und schaffen seither Fakten. Die UN-Friedensbemühungen
       haben sie weitgehend zum Nebenschauplatz werden lassen. Ebenfalls am
       Freitag will sich der UN-Sicherheitsrat mit Idlib befassen.
       
       Für Syrien und seine Schutzmacht Russland wäre der Krieg mit der Eroberung
       Idlibs weitgehend beendet. Abgesehen von den kurdischen Gebieten würde
       Assad wieder über alle wichtigen Teile des Landes herrschen. Von Frieden
       allerdings wäre Syrien noch weit entfernt. Die Pazifizierung wäre eine mit
       Bomben erzwungene Friedhofsruhe. Zentrale Forderungen der Opposition sind
       unter den Verhandlungstisch gekehrt worden, an dem schon lange keine
       Kritiker der Assad-Diktatur mehr Platz nehmen.
       
       ## Völlige Unsicherheit
       
       Zehntausende Menschen sitzen in syrischen Kerkern oder werden vermisst.
       „Mindestens 82.000 Menschen sind seit Beginn des Konflikts verschwunden“,
       sagt Diana Semaan von Amnesty International. Das Regime hat begonnen,
       Totenscheine auszustellen – offenbar in der Hoffnung, auf diese Weise einen
       Schlussstrich unter das Thema zu setzen. Etliche Familien haben von den
       Behörden erfahren, dass ihre vermissten Angehörigen teils seit Jahren tot
       sind.
       
       „Die Gefangenen sind für uns das Thema Nummer eins“, sagt Bissan Fakih von
       der Initiative „The Syria Campaign“. „Fast jede Familie ist davon
       betroffen, es zerreißt die syrische Gesellschaft.“ Erst wenn dieses Thema
       aufgearbeitet werde, könne über eine Normalisierung und den Wiederaufbau
       Syriens gesprochen werden.
       
       Normalisierung wollen Damaskus und Moskau auch signalisieren, indem sie auf
       die Rückkehr von Flüchtlingen drängen. Neben 6 Millionen Binnenvertriebenen
       haben fast genauso viele Syrerinnen und Syrer im Ausland Schutz gesucht.
       Tatsächlich konnten Geflüchtete nach Syrien zurückkehren.
       
       Völlige Unsicherheit herrscht jedoch für alle, die politisch aktiv waren
       oder Angehörige in der Opposition haben. Bevor über ihre Rückkehr
       gesprochen werden kann, müssten Verhandlungen über eine Amnestie geführt
       werden. Wer würde freiwillig zurückkehren, wenn er an der Grenze
       festgenommen würde? Eine Amnestie allerdings würde ein Mindestmaß an
       Rechtsstaatlichkeit in Syrien voraussetzen.
       
       ## Ein Hoffnungsanker
       
       Schließlich stellt sich die Frage nach dem Wiederaufbau. Kann er ohne ein
       Mindestmaß an politischem Wandel stattfinden? Assad und Putin wollen, dass
       sich die EU an den Kosten für die Instandsetzung der zerstörten
       Infrastruktur beteiligt. Dazu zeigen europäische Regierungen bislang aber
       wenig Bereitschaft: „Erst einmal ein politischer Friedensschluss“, hieß es
       aus Berlin. Welche Forderung könnten europäische Geberländer
       realistischerweise stellen?
       
       „Der Wiederaufbau“, sagt Fadwa Mahmoud von der Organisation „Families for
       Freedom“, darf nicht auf den Leichen unserer Angehörigen stattfinden.“ Sie
       will jeden Euro an politische Konditionen geknüpft sehen. Um zentrale
       Forderungen durchzusetzen, müssten diese allerdings zunächst in einer
       gemeinsamen Strategie formuliert werden. Nur dann könnten Regierungen von
       Berlin bis Washington Druck auf Russland ausüben.
       
       Bleibt die Frage: Werden all jene Syrer, die Kriegsverbrechen begangen
       haben, zur Rechenschaft gezogen? Die Fakten sprechen deutlich dagegen. Doch
       es gibt einen Hoffnungsanker: die Strafverfolgung von Verantwortlichen
       außerhalb Syriens. Hier kommt Deutschland eine zentrale Rolle zu. Aufgrund
       des Weltrechtsprinzips können nicht nur internationale Gerichte, sondern
       auch deutsche Staatsanwälte aktiv werden.
       
       Es war eine Sensation, als Generalbundesanwalt Peter Frank im Juni
       [2][einen internationalen Haftbefehl gegen Dschamil Hassan erwirkte.] Der
       Chef des Luftwaffengeheimdienstes hat Hunderte von Häftlingen foltern und
       töten lassen. Der Haftbefehl wurde an die 192 Mitgliedstaaten von Interpol
       geschickt. Sollte Hassan etwa eine EU-Grenze oder auch nur die Grenze zum
       benachbarten Libanon überschreiten, müssten die Behörden ihn sofort
       verhaften. Für die vielen Opfer des seit sieben Jahren währenden Kriegs
       wäre eine konsequente Strafverfolgung der syrischen Führungsriege zumindest
       ein kleiner Trost.
       
       * * *
       
       Milizen in Idlib: Vereint gegen syrische Armee 
       
       Seit Jahren hat die Regierung Rebellen und ihre Familien nach Idlib
       „evakuiert“. Dort sammeln sich verschiedenste Gruppen. Einige stehen der
       Türkei und der Freien Syrischen Armee nahe. Sollten sich diese Milizen
       verbünden, hätten sie – eigenen Angaben zufolge – 100.000 Kämpfer.
       Gleichzeitig werden weite Teile der Region von der dschihadistischen Hai’at
       Tahriral-Scham (HTS) kontrolliert. Die UN schätzen die Zahl ihrer Kämpfer
       auf 10.000. Sie dürften sich den Regierungstruppen entschieden
       entgegenstellen. Ein zweites Idlib, in das sie sich zurückziehen könnten,
       gibt es nicht.
       
       Türkei: Angst vor noch mehr syrischen Flüchtlingen 
       
       Ankara lehnt eine Großoffensive auf Idlib ab.Dies würde zu einem Massaker
       führen, zitierte die Zeitung Hürriyet den türkischen Präsidenten am
       Mittwoch. Erdoğan hofft, dass der Syriengipfel am Freitag Ergebnisse
       bringt. Ankara befürchtet eine Flüchtlingsbewegung, denn Idlib grenzt an
       die Türkei und die türkisch besetzte Zone in Nordsyrien. Ankara unterstützt
       Rebellen in Idlib und versucht, verschiedene Milizen unter einem Kommando
       zu vereinen. Die Dschihadistenmiliz Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) hat Ankara
       am Freitag dagegen zu einer Terrororganisation erklärt. Das Signal: Mit
       einer begrenzten Offensive gegen HTS ist Ankaraeinverstanden.
       
       Zivilisten in Idlib:Wohin fliehen? 
       
       Knapp 3 Millionen Menschen leben in Idlib und den Rändern der Regionen
       Aleppo, Hama und Latakia. Rund die Hälfte sind Binnenvertriebene. Viele
       flohen aus Gegenden wie Ost-Ghouta und Aleppo, die das Regime zurückerobert
       hat. Hunderttausende Menschen leben in überfüllten Flüchtlingslagern. „Die
       Panik in Idlib hat begonnen“, berichtet Bissan Fakih von der Initiative
       „The Syrian Campaign“. „Die Menschen ziehen um, machen sich Gedanken,wohin
       sie fliehen können.“ Die drohende Offensive beeinträchtige zudem die Arbeit
       von Hilfsorganisationen.
       
       Assad-Regime:Erste Luftangriffe auf Idlib 
       
       Damaskus will ganz Syrien wieder unter Kontrolle bringen. „Jetzt ist Idlib
       unser Ziel“, kündigte Baschar al-Assad an. Helikopter warfenFlugblätter
       über Idlib ab, um den Widerstand zu brechen. Von Süden her fliegen die
       syrische und russische Luftwaffe bereits Angriffe auf Idlib. Am Dienstag
       meldeten Aktivisten mehr als 30 Angriffe im Süden und Südwesten der Region,
       unter anderem in dem von HTS kontrollierten Dschisr al-Schughur und dem von
       an-deren Rebellen kontrollierten Ariha.
       
       USA und Europa: Warnung an Syrien und Russland 
       
       Die USA warnen vor einer humanitären Katastrophe und haben
       Vergeltungsschläge gegen das syrische Militär angekündigt, sollten erneut
       Chemiewaffen zum Einsatz kommen. „Assad darf Idlib nicht rücksichtslos
       angreifen“, schrieb US-Präsident Trump auf Twitter. Die Europäer äußerten
       sich gemäß ihrer Beobachterrolle, auf die sie im Syrienkonflikt reduziert
       worden sind, vor allem besorgt um die Zivilisten. Bundeskanzlerin Merkel
       rief Russland auf, mäßigend auf das syrische Regime einzuwirken. „Wir
       erwarten von Russland, das syrische Regime von einer Katastrophe
       abzuhalten“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer
       am Mittwoch in Berlin.Humanitäre Hilfsorganisationen müssten ungehinderten
       Zugang in die Region haben.
       
       Russland: Schnell Krieg beenden 
       
       Ende September ist es drei Jahre her, dass Russland die ersten Kampfjets in
       den syrischen Himmel schickte. Moskau hat ein Interesse daran, den Krieg zu
       beenden. Er ist kostspielig und nicht beliebt im eigenen Land. In der
       Idlib-Frage ist Moskau zwischen der Türkei und dem Assad-Regime hin und her
       gerissen. Vieles weist jedoch darauf hin, dass Moskau eine Großoffensive
       billigen und wohl auch unterstützen würde. Außenminister Lawrow bezeichnete
       Idlib als „Eiterbeule“, die beseitigt werden müsse. Im Mittelmeer hat
       Russland demonstrativ seine Seestreitkräfte zusammengezogen.
       
       6 Sep 2018
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Erwartete-Schlacht-um-syrische-Provinz/!5532752
   DIR [2] https://www.dw.com/de/deutsche-justiz-jagt-syrischen-geheimdienstchef-jamil-hassan/a-44199467
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jannis Hagmann
       
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