URI: 
       # taz.de -- Rechtsextremer Terroranschlag in Halle: Höckes Enkeltrick
       
       > Während die Nachrichten aus Halle auf dem Smartphone unseres Autors
       > eintrudelten, war er bei einem AfD-Familienfest mit Björn Höcke.
       
   IMG Bild: AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke bei einer Wahlkapfveranstaltung in Thüringen
       
       Als Björn Höcke endlich die Bühne betritt, ist der Terroranschlag von Halle
       bereits vorbei. Zwei Menschen sind tot. [1][Eine Holztür hat das große
       Massaker verhindert].
       
       Ich weiß nicht, ob die durchnässten Menschen im thüringischen Mühlhausen
       von dem Attentat wissen. Während ich alle zwei Minuten mein Handy zittrig
       aus der Tasche krame, mich dabei frage, warum ich Jom Kippur an so einem
       beschissenen Ort verbringe und nicht bei meiner Familie bin, stehen die
       Leute um mich herum ganz friedselig beisammen.
       
       Es sind vor allem gutgelaunte Rentner und Kleinbürger, dazwischen ein paar
       fröhliche Neonazis, die das AfD-Familienfest besuchen. Geduldig wartet man
       hier auf Björn Höckes Auftritt, trinkt Bier und Glühwein, schunkelt sanft
       zu volkstümlicher Schlagermusik, vorgetragen von zwei dauergrinsenden
       Musikern in Trachten, und wann immer ein neuer Regenschauer herabschüttet,
       flüchtet man unter die Zelte.
       
       Und die grinsende Kapelle greift beherzt in die Schlagerkiste: „Tiefe
       Spuren in unsren Herzen, tausend Sünden im Gesicht / Die nächsten hundert
       Jahre, die liegen noch vor uns / Wir sind alle noch am Leben!“
       
       ## Halb so schlimm
       
       Der jung ergraute Kerl knurrt genervt auf, als ich ihn nach dem Attentat in
       Halle frage. „Waren sicher wieder die Goldstücke“, sagt er und meint damit
       Geflüchtete. „Aber eine Dönerbude wurde auch zusammengeschossen.“ Der graue
       Kerl zuckt mit den breiten Schultern: „Kennen wir doch schon alles.“
       
       Es ist gar nicht so einfach Menschen mit Terroranschlägen noch zu
       beeindrucken. Sicherlich, in der Welt meines Smartphones, bevölkert von
       linksliberalen, antirassistischen und nicht zuletzt jüdischen Stimmen, da
       sitzt der Schock tief. Da erkennt man die Zäsur: Ein Nazi hat in
       Deutschland versucht, ein Blutbad in einer Synagoge anzurichten. Aber hier
       auf dem Mühlhäuser Untermarkt, gleich vor der schönen gotischen Kirche, da
       klingt das alles nur halb so schlimm.
       
       „Wie viele Tote denn?“, fragt mich die alte Frau mit Bratwurst, als ich sie
       anspreche. „Mindestens zwei“, antworte ich. „Ah, ah ja“, sagt sie, nickt
       freundlich, und wir wissen beide nicht, wie wir das Gespräch noch
       fortsetzen können. Was kann man dieser Frau sagen? [2][Was kann man sagen],
       was tun nach so einer Tat?
       
       Gut, da sind zunächst die Floskeln. Wir müssen gegen rechts sein. Noch
       mehr! Und gegen jeden Antisemitismus! Wir stehen unteilbar! Wir sind mehr!
       Nie wieder! Keinen Millimeter nach rechts! Rassismus, pfui Spinne! Und so
       fort.
       
       ## Anständige Floskeln
       
       Gefordert wird das von den Anständigen, gehört von anderen Anständigen. Die
       Unanständigen lesen derweil unanständige Texte, in denen abgefuckte
       AfD-Politiker den Mörder als unpolitischen Geisteskranken darstellen. Und
       dann sind da noch all jene, die einfach nur weiterhin auf Familienfesten in
       ihre Bratwurst beißen wollen. Die einen Scheiß auf gutgemeinte Floskeln
       geben. Sich nicht angesprochen fühlen.
       
       Klar erfüllen die Floskeln trotzdem einen Zweck. Sie sind beruhigende,
       kollektive Mantras: Die offene, pluralistische Gesellschaft ist noch lange
       nicht verloren. Und es liegt in der Natur des Mantras, dass man es
       wiederholt – und in der Natur des Menschen, sich im Moment der
       Hilflosigkeit Mut zuzusprechen. Sicher, man kann auch zusätzlich noch ein
       [3][konsequentes Vorgehen gegen die rechte Szene] verlangen.
       
       Aber haben wir das nicht schon nach den NSU-Morden verlangt? Nach der
       Nordkreuz-Todesliste, nach Franco A., nach dem Mord an Walter Lübcke? Oder
       nach 1945? Es ist gar nicht so einfach, sich nach so einer Tat wieder Mut
       zu machen.
       
       Höcke nun wiederum gelingt das Mutmachen ganz hervorragend. Er macht seinem
       begeistertem Publikum Mut im Kampf gegen das verlogene Establishment, gegen
       Zuwanderung und Multikulti. Mut, sich von Kollegen, Freunden, Enkelkindern
       als Rassist beschimpfen zu lassen. Mut, trotzdem die AfD zu wählen.
       
       ## Eine unappetitliche Aufzählung
       
       Und dann äußert er sich auch zu Halle. Das muss er auch. Es ist bereits 17
       Uhr, es nieselt, einige Zuschauer haben sich in Deutschlandflaggen mit dem
       Schriftzug „Wir sind das Volk“ gehüllt, im Hintergrund kreischen die
       Trillerpfeifen der Gegendemonstration. Die Bluttat liegt Stunden zurück,
       und die Pressemitteilungen laufen heiß.
       
       Höcke setzt den Anschlag in eine Reihe mit anderen Gewalttaten, die
       allesamt von Nichtdeutschen begangen wurden: Mit dem Jungen, der in
       Frankfurt vor einen ICE gestoßen wurde, mit dem Syrer, der zwei Tage zuvor
       in Limburg mit einem Lastwagen mehrere Autos gerammt hatte. „Und heute
       hören wir von einem Terroranschlag auf eine jüdische Gemeinde in Halle und
       wir fragen uns als AfD: Was ist in diesem Land los?“
       
       Eine unappetitliche Aufzählung, eine heuchlerische Frage, erst recht aus
       dem Mund von Höcke: einem Faschisten, der seine
       geschichtsrevisionistischen und rassistischen Verbalexzesse mit
       ritterhafter Mannhaftigkeit und dunkelbrauner Nostalgie performt. Aber
       dieser Höcke ist an diesem Tag nur bedingt anzutreffen. Wie schon am Vortag
       in Apolda steht vor mir ein taktierender Wahlkämpfer, ein schmalbrüstiger
       Kerl mit brav frisiertem Scheitel.
       
       Der, so scheint es, sich Mühe gibt, nicht allzu laut zu werden. Der sich
       als unschuldiges Opfer des Establishments geriert. Zwar hebt für ein paar
       Sätze zum Crescendo an und goebbelt herum, aber gleich darauf entschuldigt
       er sich artig dafür: „Entschuldigen Sie, an dieser Stelle werde ich einfach
       immer so emotional.“
       
       Und wann immer er seine Verschwörungstheorien kundtut – sei es über den
       organisierten Wahlbetrug der antideutschen Kartellparteien oder über den
       jüdischen Milliardär George Soros, der für Antisemiten schon lange als
       Oberbösewicht herhalten muss –, danach setzt Höcke einen harmlosen
       Hundeblick auf: „Ich will hier aber keine Verschwörungstheorien nähren.“
       
       Und nährt auch schon die nächste. Denn Halle und all die Gewalt auf
       deutschem Boden sei das Ergebnis eines „Verrohungszustandes“ und „dieser
       Zustand ist von Menschen, in Klammern: Politikern, gewollt und gemacht!“
       Teil eines düsteren Komplotts. Der Mörder von Halle glaubte sich auch im
       Krieg mit einer solchen Verschwörung. Höcke guckt jetzt wie ein niedlicher
       Schäferhundwelpe in sein applaudierendes Wahlvolk.
       
       Es ist eine Art Enkeltrick. Klar, die anwesenden Rassisten und Nazis
       bekommen all das zu hören, wofür sie gekommen sind, aber für die Rentner
       mimt Björn den netten Enkel. Und er bittet nicht einmal um Kreditkarte und
       Sicherheitscode, alles, was er will, ist ihre Stimme. „Wie kann man den
       Höcke nur als rechtsradikal hinstellen?“, fragte mich eine schwer
       indignierte Dame beim Bürgerabend in Apolda.
       
       Höcke hat seine Rede beendet und verabschiedet sich, zwei seiner Fans in
       Thor-Steinar-Hoodies mit Totenkopfprint folgen ihm. „Wo soll Höcke denn
       rechts sein?“ Man könnte lachen über die Apoldanerin, aber das wäre
       wohlfeil. Diese Frau versteht sich nicht als rechts oder rassistisch, denn
       durch die Mantras der Anständigen weiß sie bloß, dass Rechts- und
       Rassistischsein unanständig und moralisch falsch ist. Und sie nimmt sich
       weder als das eine noch als das andere wahr.
       
       ## Vergessen, was die Großeltern geglaubt haben
       
       Nur dann kann der AfD-Enkeltrick gelingen. Wenn man vergisst, an was genau
       die Großeltern vor 1945 so geglaubt haben. Und man vergisst das nicht nur
       in der thüringischen Provinz.
       
       Seit anderthalb Jahren reise ich als Referent zu Rechtsextremismus und
       Antisemitismus durch Deutschland. Und egal wo ich bin – in der Hauptschule
       oder im Uni-Hörsaal, im hinterletzten sächsischen Dörfchen oder im hippen
       Großstadtviertel –, die Grundlagen rechtsextremen Denkens sind den meisten
       völlig fremd.
       
       Wie sollte es auch anders sein? In der Schule liest man „Die Welle“, schaut
       einen kitschig-schaurigen KZ-Film, lernt Jahreszahlen – und beschwert sich
       hinterher, dass dieses doofe Dritte Reich und die lästige Ermordung der
       europäischen Juden viel zu viel durchgekaut wurde. Aber wie ein Rassist
       seinen Rassismus begründet, wie der Antisemit seinen Judenhass legitimiert,
       wo die Attraktivität solcher Vorstellungen liegt, damit beschäftigt man
       sich nicht.
       
       Und Verschwörungstheorien findet man kurios und ein bisschen putzig. Die
       kennt man aus Fernsehbeiträgen, bei denen man sich vor armen Irren und
       wirren Esoterikern gruseln kann. Dass dieselben Verschwörungstheorien in
       Deutschland mal Konsens waren, dass sie in der rechtsextremen Szene mit
       religiösem Eifer geglaubt werden, dass sie Terroristen zu ihren Anschlägen
       verleiten – das weiß man wiederum nicht.
       
       ## Kein kruder Mix
       
       Der Mörder von Halle hatte sich zunächst überlegt, ein Massaker in einer
       Moschee oder einem Antifa-Kulturzentrum anzurichten, aber die Juden, wusste
       er, stehen eben an der Spitze der großen Verschwörung. Sind verantwortlich
       für den Niedergang des deutschen Volkes, für den Feminismus, die sinkenden
       Geburtenraten, den „großen Austausch“. [4][Das sagt er in seinem Video,]
       schreibt es in seinem Anschlagsplan.
       
       „Ein schlecht durchdachter, kruder Mix aus Verschwörungstheorien“, schreibt
       ein ganz verwunderter Redakteur auf Spiegel Online. Was würde der sich erst
       wundern, wenn er Hitlers „Mein Kampf“ in die Hände bekäme.
       
       Nein, Nazis haben sich noch nie durch Originalität ausgezeichnet. Das alles
       ist weder neu noch ein kruder Mix. Es ist schlicht rechtsextreme Ideologie.
       Und auf dem AfD-Familienfest in Mühlhausen warnt Höcke vor den sinkenden
       Geburtenraten und dem zerstörten Familienbild, den Linksextremisten und den
       vielen jungen Afrikanern und Arabern. Gegen die er aber natürlich nichts
       persönlich hat. Er ist ja kein Rassist.
       
       Er ist nur ein Enkel.
       
       23 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Das-Attentat-von-Halle/!5628896
   DIR [2] /Rechtsextremer-Anschlag-in-Halle/!5632505
   DIR [3] /Forderungen-nach-dem-Anschlag-von-Halle/!5629925
   DIR [4] /Ermittlungen-nach-dem-Halle-Anschlag/!5629674
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Ginsburg
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt AfD
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Björn Höcke
   DIR Terrorismus
   DIR Halle
   DIR Schwerpunkt Landtagswahl Thüringen
   DIR Rechte Szene
   DIR Halle
   DIR Terroranschlag
   DIR Schwerpunkt AfD
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Tobias Ginsburg über rechte Ideologie: „Diese Angst ist eine Waffe“
       
       Antifeminismus und Kampf gegen die Demokratie strahlen bis in den
       Mainstream hinein, sagt Tobias Ginsburg. Er hatte sich undercover unter
       Rechte gemischt.
       
   DIR Berlin nach dem Attentat in Halle: Große Verantwortung
       
       Das Attentat in Halle verunsichert die Berliner jüdischen Glaubens.
       Jüdische Einrichtungen unter stärkerer Bewachung als zuvor. Eine
       Bestandsaufnahme.
       
   DIR Trauer um die Opfer von Halle: Kevin und seine Freunde
       
       In Halle wurde Kevin S. erschossen, der zur eher rechten „Saalefront“
       gehörte. Seine Kumpels schließen sich dem antirassistischen Trauerzug an.
       
   DIR Streit um „Landolf Ladig“: Junge Gemeinde Jena verklagt Höcke
       
       Björn Höcke schrieb wohl als „Landolf Ladig“ für NPD-Blätter. Er aber
       behauptet, Ladig sei aus der Jungen Gemeinde Jena. Die klagt jetzt.