URI: 
       # taz.de -- Regisseurin über Frauen in der Filmwelt: „Die Filmwelt ist ungerecht“
       
       > Regisseurin Jane Campion hat mit „The Power of the Dog“ einen Silbernen
       > Löwen gewonnen. Frauen seien in Wettbewerben immer noch
       > unterrepräsentiert, sagt sie.
       
   IMG Bild: Cowboys in bürgerlich: George (Jesse Plemons) und Rose Burbank (Kirsten Dunst)
       
       Montana, 1925. Als George Burbank (Jesse Plemons) heimlich die Witwe Rose
       (Kirsten Dunst) heiratet, beginnt dessen brutaler Bruder Phil (Benedict
       Cumberbatch), mit dem er die gemeinsame Ranch führt, einen Psychoterror
       gegen die Frau, bei dem er versucht, deren jugendlichen Sohn Peter (Kodi
       Smit-McPhee) für seine Zwecke einzuspannen. Die neuseeländische
       Filmemacherin Jane Campion, 67, mit „The Piano“ und „Top of the Lake“
       bislang vor allem für komplexe Frauenporträts bekannt, adaptiert mit dem
       Roman „Die Gewalt der Hunde“ von Thomas Savage einen komplexen Spätwestern
       über männlichen Selbsthass und queere Selbstfindung. 
       
       Nach seiner [1][Weltpremiere auf dem Filmfest von Venedig im September, wo
       Jane Campion mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet]
       wurde, ist „The Power of the Dog“ jetzt auf Netflix zu sehen. 
       
       taz: Mrs. Campion, Sie ließen uns lange warten. „The Power of the Dog“ ist
       Ihr erster Spielfilm in elf Jahren … 
       
       Jane Campion: Na ja, ich war alles andere als untätig in der Zeit.
       
       Nach „Bright Star“ 2009 drehten Sie zwei Staffeln der [2][Serie „Top of the
       Lake“]. Wollten Sie jetzt bewusst zurück zur kürzeren Form? 
       
       Ich habe sehr genossen, dass im Fernsehen eine größere Freiheit herrscht
       für gewagtere, anspruchsvollere Stoffe, an die sich viele Filmstudios nicht
       mehr wagen. Heute ist es kaum noch möglich, eine Geschichte fürs Kino zu
       verfilmen, die komplex ist und viele Figuren mit widersprüchlichen
       Standpunkten hat. Bei Serien ist das kein Problem, im Gegenteil, die
       Streamingdienste und Sender gieren geradezu danach. Aber ich war das lange
       Erzählen auch etwas satt, es ist ermüdend, eine ganze Serie zu inszenieren.
       Hier wurde ich wieder daran erinnert, wie wundervoll eine Zeitspanne von
       zwei Stunden sein kann.
       
       Der Roman „Die Gewalt der Hunde“ von Thomas Savage ist ein überraschender
       Stoff für Sie. Was hat Sie daran interessiert? 
       
       Es war wie ein Energieschub, den ich beim Lesen spürte, der mich in
       Bewegung versetzte. Und eine gehörige Portion Angst. Weil die Geschichte so
       komplex ist, hatte ich lange Zeit das Gefühl, wie am Rand einer Klippe zu
       stehen. Eine Weile hatte ich sehr verstörende Träume. Es hat mich
       buchstäblich verfolgt, noch lange nach der Lektüre. Thomas Savage ist
       selbst im Südwesten Montanas aufgewachsen und seine Vertrautheit mit der
       Gegend und dem Menschenschlag ist auf jeder Seite spürbar, da ist nichts
       bloß behauptet. Gleichzeitig sind die Charaktere sehr komplex und
       ambivalent.
       
       Es ist das Land der Pioniere, Cowboys und Goldgräber … 
       
       Aber es ist kein Western! Zumindest kein klassischer, vielleicht ein
       Post-Western. Sogar die Cowboys, in ihrer Art sich zu kleiden, in ihren
       Gesten und ihrer Attitüde, zitieren bereits Bilder vom Cowboysein, die sie
       aus der Folklore und dem Kino kennen. Sie bestellen ihre Outfits aus dem
       Katalog.
       
       Haben Sie die Vorlage genutzt, um Ihre Sicht auf bestimmte Themen zu
       reflektieren? Oder hat umgekehrt der Roman Ihren Ansatz geprägt? 
       
       Ich wollte dem Roman gerecht werden und brauchte dazu eine gebührende
       Vorbereitung. Mir war schnell klar, dass es vor allem auf eine psychische
       Auseinandersetzung hinauslaufen musste, und ich beschloss, im Vorfeld mit
       einer Traumexpertin zusammenzuarbeiten. Früher hätte ich für so etwas keine
       Nerven gehabt. Ich wollte, wie so viele Künstler, nicht in meinem
       Unbewussten rumpfuschen. Aber dann wurde mir eine Frau empfohlen, Kim
       Gillingham, die sich intensiv mit C. G. Jungs Traumtheorien beschäftigt hat
       und diese für kreatives Coaching einsetzt. Ich ließ es darauf ankommen.
       
       Was passierte da konkret? 
       
       Ich erinnere mich etwa an ein Rollenspiel, bei dem ich in einzelne
       Charaktere schlüpfte und sie mich fragte, was diese oder jene Figur zu mir
       als Regisseurin sagen würde, wie ich zu handeln habe. Und dann war ich zum
       Beispiel Phil und sagte über mich, als die Regisseurin Jane, dass ich einen
       weißen Klinikkittel anhätte und besser mal ein bisschen in der Erde wühlen
       und mir die Hände schmutzig machen sollte. Solche Dinge. Klingt vielleicht
       banal, hat mir aber immens geholfen.
       
       Viele Details lassen Sie im Film nur angedeutet … 
       
       Und ich werde den Teufel tun und sie jetzt aufdröseln. Schon der Roman
       liefert keine eindeutige Lesart und wir haben im Film sogar noch einige
       Details weggelassen, weil sie uns zu offensichtlich erschienen. Film ist da
       unerbittlicher als das geschriebene Wort.
       
       Sie benutzen zum Beispiel Texturen und Stoffe, die mit Bedeutung aufgeladen
       sind, etwa Phils Cowboymontur aus Leder und Schaffellen, die als mehr
       erscheint denn bloße Nutz- und Arbeitskleidung. 
       
       In Montana und anderen Bundesstaaten tragen Cowboys diese Chaps, Überhosen
       aus Leder, im Winter auch in einer Variante aus Schaffell, sogenannte
       Woolies, um sich vor der Kälte zu schützen. Mich fasziniert diese Kleidung,
       weil die Männer damit wie Zentauren oder Chimären wirken, halb Mensch, halb
       Tier. Das passte für mich gut zu den animalischen Aspekten der Geschichte
       und der Auseinandersetzung mit männlicher Sexualität. Phil fühlt sich wie
       ein Tier, wäscht sich nicht, ist der Natur näher als der Zivilisation, die
       er verachtet. Diese Kleidung bietet den Cowboys Schutz, aber jemand wie
       Phil kann darin auch viel von seinen Gefühlen und seiner Verletzlichkeit
       verstecken. Sie sind Rüstungen im doppelten Sinne.
       
       Auch Kelly Reichardt hat mit „Meek’s Cutoff – Auf dem Weg nach Oregon“ und
       zuletzt [3][„First Cow“ Western] gedreht. Ist es höchste Zeit, das Genre
       durch weibliche Perspektiven zu hinterfragen? 
       
       Ich glaube, es ist vor allem ein glücklicher Zufall. Mir ging es konkret um
       diesen Roman. Ist es ein Western? Ich würde es eher ein intensives
       Kammerspiel nennen. Es hat Elemente des Western, aber fasst das Genre ganz
       anders auf. Es reflektiert im Grunde das Gegenteil dessen, was der Western
       üblicherweise propagiert, wie männlichen Mut, Pioniergeist und die
       Gesinnung, jeden Konflikt durch Schusswaffen zu regeln. Ich denke doch,
       dass meine Figuren etwas komplexer sind, Männer wie Frauen.
       
       Sie waren 1993 die erste Regisseurin, die in Cannes mit der Goldenen Palme
       ausgezeichnet wurde für Ihr Kostümdrama „The Piano“ und blieben lange die
       einzige Frau, der diese Ehre zuteil wurde… 
       
       Nicht mehr!
       
       Im Juli gewann [4][Julia Ducournau mit „Titane“], 28 Jahre nach Ihnen, als
       zweite Frau den Hauptpreis des wichtigsten Filmfestivals. Sind Sie
       erleichtert? 
       
       Wie wohl wir alle, oder? Jedes Jahr, wenn die Regisseurinnen im Wettbewerb
       wieder übergangen wurden, stieß ich einen Seufzer aus. Und jetzt hat das
       endlich ein Ende und wirft noch einmal ein Schlaglicht darauf, wie
       unfassbar ungerecht die Filmwelt für Frauen ist. Das betrifft ja nicht nur
       Cannes und andere Preisverleihungen, sondern bereits die Produktionsebene,
       Aufträge, Berufsmöglichkeiten, Gagen, alles. Dieses Jahr konnten wir einige
       Veränderungen beobachten, mit den Oscars für [5][Chloé Zhaos „Nomadland“],
       dann die Hauptpreise für Frauen in Cannes, Venedig und anderswo. Ich sehe
       diese Welle in direktem Zusammenhang mit der #MeToo-Bewegung, sie hat
       vieles ins Rollen gebracht und Strukturen aufgebrochen, nicht nur im
       Zusammenhang mit Machtmissbrauch.
       
       Viele Kolleg*innen sehen vor allem auch Sie als großes Vorbild. 
       
       Wenn Sie das sagen. Ich weiß es nur, wenn mich jemand direkt anspricht wie
       Julia Ducournau, das freut mich sehr. Ich wünsche wirklich jeder und jedem,
       dass sie ihre eigene Stimme finden und gehört werden.
       
       1 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Filmfestspiele-von-Venedig/!5796018
   DIR [2] /Zweite-Staffel-Top-of-the-Lake-auf-Arte/!5464924
   DIR [3] /Feministischer-Western-First-Cow/!5782127
   DIR [4] /Regisseurin-Ducournau-ueber-Film-Titane/!5801700
   DIR [5] /Kinostart-von-Chloe-Zhaos-Nomadland/!5777994
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Abeltshauser
       
       ## TAGS
       
   DIR Western
   DIR Frauen im Film
   DIR Männlichkeit
   DIR Gleichberechtigung
   DIR Feminismus
   DIR Kino
   DIR Ukraine
   DIR Spielfilm
   DIR Gender Pay Gap
   DIR Oscars
   DIR Provenienz
   DIR Sky
   DIR Spielfilm
   DIR Familie
   DIR Filmfestival Venedig
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR 94. Oscar-Verleihung mit Ohrfeige: Die Crux des Heimglotzens
       
       Bei der 94. Oscar-Verleihung ging es handgreiflich auf der Bühne zu. Preise
       gingen vor allem an Filme von Streamingdiensten.
       
   DIR Deutsche Chefin in Cannes: Zeichen des Wandels
       
       Mit Iris Knobloch bekommen die Filmfestspiele von Cannes erstmalig eine
       Präsidentin. Sergei Loznitsa ist ein Kandidat für den Wettbewerb.
       
   DIR Almodóvar-Film „Parallele Mütter“: Frauen mit schwerem Gepäck
       
       In „Parallele Mütter“ erzählt Pedro Almodóvar von privaten Lügen und
       politischen Irrungen. Mit dabei: Penélope Cruz, die mit gehetzer Eleganz
       spielt.
       
   DIR Große Lohnlücke in Medienbranche: Bessere Noten, weniger Geld
       
       In der Medienbranche ist der Gender Pay Gap überdurchschnittlich hoch. So
       verdienen Kameramänner rund 25 Prozent mehr als Kamerafrauen.
       
   DIR Vor der Oscarverleihung 2022: Western zwölfmal nominiert
       
       Aussichtsreichster Oscarkandidat ist der Western „The Power of the Dog“,
       eng gefolgt von „Dune“. Streaming-Portale machen den etablierten Studios
       viel Konkurrenz.
       
   DIR Oscarpreisträger über neue Serie: „Nicht nur leerer Zeitvertreib“
       
       Alejandro Amenábars „La Fortuna“ ist auf Sky zu sehen. Mit der taz sprach
       der Oscarpreisträger über den Umgang mit Geschichte und kulturellem Erbe.
       
   DIR „Die Wespe“ auf Sky: Die brutalistische Serie
       
       Hype ums Dartspiel: Die neue Skyserie „Die Wespe“ mit Florian Lukas erzählt
       von kleinen Leuten und einer allseits beliebten Präzisionssportart.
       
   DIR Regisseurin Ducournau über Film „Titane“: „Der wandelnde Todestrieb“
       
       Die Regisseurin Julia Ducournau gewann mit ihrem Film „Titane“ die Goldene
       Palme in Cannes. Sie spricht über weibliche Filmteams und Emanzipation.
       
   DIR Politische Filme in Venedig: Höflichkeit als Waffe
       
       Die Filmfestspiele in Venedig erreichen die Zielgerade. Zum Abschluss geht
       es um einen Arbeitskampf sowie um Kritik am polnischen Staatsapparat.
       
   DIR Western auf den Filmfestpielen in Venedig: Was auf die Kuhhaut geht
       
       Lidokino 3: Jane Campion kehrt zurück mit einem hinterhältigen Western. In
       den Hauptrollen: Benedict Cumberbatch, Kirsten Dunst und Leder.