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       # taz.de -- Reisereportagen aus Ostafrika: Die Welt sehen, wie sie ist
       
       > Navid Kermani hat den Osten Afrikas bereist und dabei viel Leid gesehen.
       > Seine Reportagen faszinieren und überfordern beim Lesen auf gute Art.
       
   IMG Bild: Eine halbe Million Tote hat der Krieg in der nordäthiopischen Region Tigray bereits gefordert
       
       Navid Kermani zieht es immer wieder zu Brennpunkten des Weltgeschehens. Er
       war im Nahen Osten, in Zentralasien und in Osteuropa unterwegs. Mit Neugier
       und Empathie schaut dieser Reporter auf die Wirklichkeit in all ihrer
       Widersprüchlichkeit. Nun ist er wieder aufgebrochen. Zwischen dem Sommer
       2022 und dem Frühjahr 2024 war [1][Navid Kerman]i in Ostafrika. „Es ist für
       mich elementar, dass ich aus meiner eigenen kleinen Welt herauskomme und
       die Welt sehe, wie sie ist“, sagt er am Telefon.
       
       Die Welt zu sehen, wie sie ist, das bedeutet in den Ländern Ostafrikas, mit
       gewaltigen Problemen und großer Not konfrontiert zu werden. Navid Kermani
       ist überzeugt, dass sich hier globale Problemlagen verdichten und dass es
       sich rächen wird, wenn wir der Region zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Das
       Buch folgt nicht der zeitlichen Abfolge von Navid Kermanis Reisen, sondern
       der Geografie: von Madagaskar im Süden über die Komoren, Mosambik, Kenia,
       Tansania, Äthiopien bis zum Sudan im Norden. Der Autor widmet den einzelnen
       Ländern teils mehrere Kapitel und konzentriert sich dabei auf
       unterschiedliche Aspekte der Lebenswirklichkeit.
       
       Im Süden Madagaskars blickt er auf die dramatischen Auswirkungen der ersten
       klimabedingten Hungersnot. Das Land, das eigentlich fruchtbar ist,
       erscheint dem Reporter aus der Luft wie eine aufgegebene Mine. Viele Wälder
       sind verschwunden, geblieben sind Baumstümpfe. Auch die restlichen Bäume
       werden abgeholzt, weil Holzkohle der letzte Verdienst ist.
       
       Navid Kermani berichtet von apathischen Menschen, die der Hunger
       beherrscht, von Kindern, die nicht mehr spielen, von Menschen, die in
       Kolonnen schwere Wasserkanister kilometerweit schleppen. Er habe vorgehabt,
       auch über das Leben zu schreiben, aber die Not sei dringlicher gewesen,
       notiert der Autor mit Blick nicht nur auf Madagaskar. „Was sich
       einigermaßen behauptet hat, war die Musik“, berichtet er. „Aber wenn man
       ein Kind sieht, das vor Hunger stirbt, erschlägt das alle anderen
       Erfahrungen erst mal für lange Zeit.“
       
       Kermani erzählt auch von der Musik. Aber es ergeht dem Leser wie dem Autor:
       Die Begegnungen mit Musikern verblassen vor der Wucht anderer,
       existenzieller Eindrücke und Erfahrungen. Im Norden Äthiopiens in der
       [2][Region Tigray] trifft der Reporter eine vorzeitig gealterte Frau, die
       von Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Ein fünfjähriges Mädchen zeigt
       die Narbe, die ein Messer hinterlassen hat: Jemand hat ihr Bein der Länge
       nach aufgeschlitzt. „Wer macht so etwas?“, fragt der Autor. Er spricht mit
       Kämpfern der Volksbefreiungsfront von Tigray, die „zu viel erlebt haben, um
       noch von dieser Welt zu sein“. Ein Soldat gibt zu Protokoll: „War is shit,
       total shit.“
       
       Kermani verbirgt nicht, wie ihn all das mitnimmt. Eine halbe Million Tote
       hat dieser „nicht nur grausamste, sondern auch sinnloseste Krieg unserer
       Zeit“ gefordert. Fragt er nach den Gründen für die Kämpfe, erntet er auf
       beiden Seiten nur Schulterzucken.
       
       Seine Reisen veranlassen Navid Kermani dazu, grundsätzlich über Krieg und
       Frieden, über Klima und Umweltzerstörung nachzudenken, weil die Probleme,
       die sich in Ostafrika auf besonders drastische Weise abzeichnen, die ganze
       Welt betreffen. Einfache Rezepte hat er nicht im Angebot. Vielmehr folgt
       man diesem Autor immer wieder fasziniert bei seinem Nachdenken und
       Nachforschen, dabei, wie er unterschiedliche Antworten ausprobiert – und
       oft zu neuen Fragen kommt.
       
       ## Die Kompliziertheit fassbar machen
       
       Seine Schreibhaltung charakterisiert er so: „Ich will nicht am Ende das
       Gefühl erzeugen, dies oder jenes ist die Lösung, nach dem Motto: So ist
       Afrika – beziehungsweise so ist [3][Ostafrika]. Sondern im Gegenteil: Wer
       reist, der wird verwirrt, der merkt, dass all das, was er im Kopf hatte,
       gar nicht stimmt. Und das Ziel wäre eher, die Leserinnen und Leser an
       dieser Verwirrung teilnehmen zu lassen, diese faszinierende Kompliziertheit
       fassbar zu machen, so dass man am Ende nicht besser Bescheid weiß, sondern
       viel mehr Fragen hat, also weniger Bescheid weiß.“
       
       Für Navid Kermani ist klar, dass die Hinterlassenschaften des Kolonialismus
       die Region bis heute stark prägen. Durch die Fremdherrschaft wurden
       natürliche Ökonomien zerrüttet, Kulturen zerstört, Institutionen
       ausgehöhlt. Auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit bestimmen koloniale
       Strukturen und Denkweisen den Alltag. Aber der Reporter macht hier nicht
       halt. Er spricht mit Politikern, Entwicklungshelfern und Diplomaten über
       frustrierende Erfahrungen, über gangbare Wege aus den Krisen und über
       Sackgassen. Dieser Autor reduziert Komplexität nicht auf eine gut
       verdauliche, aber realitätsferne Einfachheit. Sein Buch überfordert auf
       eine produktive Art.
       
       8 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Holger Heimann
       
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