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       # taz.de -- Requiem am Schauspielhaus Bochum: Am Ende von Schweiß und Schufterei
       
       > Kann die Totenmesse des arbeitenden Menschen schon gesungen werden? Am
       > Schauspielhaus Bochum wird mit „After Work“ schon mal geübt.
       
   IMG Bild: Assoziative Bilderkette, entschleunigt und malerisch
       
       Ein Affe schlendert im Renaissance-Kleid mit eleganter Halskrause über die
       Bühne. Sein Blick schweift hinüber zu zwei Herren, die nur Slips tragen und
       an Seilen baumeln, mit denen sie die Bondage-Performerin Dasniya Sommer
       gefesselt hat.
       
       Das ist eine Körperpraxis, die seit Jahrhunderten gepflegt wird: Shibari,
       das japanisches Bondage, mit dem sich einst Samurai-Krieger fesseln ließen.
       Heute lockt das Ritual als sinnliches Abenteuer, als erotisches Experiment
       oder als therapeutische Hoffnung in einer Zeit, in der alle Sinne heillos
       überfrachtet erscheinen.
       
       Und so blickt der Affe am Ende dieses 90-minütigen Abends sichtlich
       überrascht ins Publikum: Ist das der Gipfel der Zivilisationsgeschichte?
       Oder doch nur eine Metapher für die Fesseln, die sich der arbeitende Mensch
       selbst geschaffen hat, jetzt, wo digitale Technologien in unmittelbarer
       Zukunft die meisten Tätigkeiten ausführen werden?
       
       Dieses mögliche Ende von Schweiß und Schufterei – das zumindest [1][Autoren
       wie Paul Mason als postkapitalistischen Horizont malen] – bildet den
       Ausgangspunkt von „After Work. Ein Requiem für den arbeitenden Menschen“.
       An dieser Totenmesse haben als Regisseur Tobias Staab und der Choreograf
       Rob Fordeyn in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses mit
       tranceartigen Bildern gearbeitet, die durch die Ära der Arbeit springen.
       
       ## Die obligatorische rote Fahne
       
       Ihre Revue taucht in eine sakrale Atmosphäre, zu der auch eine Art
       Guckkasten (Bühne und Kostüme: Nadja Sofie Eller) beiträgt, als Theater im
       Theater. So flattert hinter einem durchsichtigen, milchigen Vorhang schnell
       die obligatorische rote Fahne, die ein Arbeiter in der Hand hält. Und Vera
       Lynn haucht im Song „We’ll meet again“ Verse über sonnige Tage des
       Wiedersehens, während der Malocher nun in seiner ikonischen
       Proletarierkluft erscheint, als wäre er direkt dem Sozialistischen
       Realismus entsprungen.
       
       Langsam und traurig fragt der Arbeiter eine Bäuerin: „Was gewesen ist,
       kannst du das begraben?“ Und sie antwortet: „Nein!“ Es bleibt einer der
       wenigen Dialoge. Tobias Staab, bisher eher als Verantwortlicher von
       installativer Kunst oder des Elektro-Festivals „Ritournelle“ in Erscheinung
       getreten, gibt in diesem Hybrid aus Tanz, Text, Musik und Bildern einen
       entschleunigenden, fast hypnotischen Takt vor. Da liegen sich die Akteure
       in einer Szene geduldig in den Armen, umschlingen sich, ikonisch wie in
       einer Pieta.
       
       Es ist eines von vielen Motiven, die in dieser Liturgie wie assoziative
       Bruchstücke verwoben werden: Egal, ob sowjetischer Realismus,
       surrealistische Traumbilder oder die Kunst der Renaissance, jene
       frühkapitalistische Epoche, mit der diese Inszenierung beginnt: mit einem
       Tableau vivant in Renaissance-Garderobe, als das Publikum noch in den Saal
       strömt. Erst als ein Affe auftaucht, löst sich die frühbürgerliche Runde
       auf.
       
       ## Kubricks Knochen
       
       Laut Friedrich Engels vollzog sich durch die Arbeit eine Menschwerdung des
       Affen; dadurch, dass der Primat Werkzeug in die Hand nahm und die
       stoffliche Natur bearbeitete, leitete er eine umwälzende und sich ständig
       weiter verändernde Kulturleistung ein.
       
       Berühmt geworden ist, wie Stanley Kubrick das in seinem Match Cut in „2001“
       visualisierte: ein in die Luft geworfener Knochen erscheint plötzlich als
       Raumschiff, neue Werkzeuge, neue Epochen. Das deutet auch Staab an: Durch
       neue Techniken verschwand der Handgriff zunehmend aus den
       Produktionsprozessen. Und anscheinend auch aus den Strafvollzügen, weswegen
       Darsteller Dominik Dos-Reis auf der Bühne eine lange Passage aus [2][Kafkas
       „Strafkolonie“] rezitieren darf, in dem Verurteilte durch einen Apparat
       minutiös gefoltert werden.
       
       Warum? Um es mit der mythischen Schuldfrage zu verschränken, die der
       Kapitalismus vom Christentum erbte?
       
       „After Work“ bietet das nur assoziativ an, lässt die Bezüge unvermittelt
       und verzichtet auf eine rationale Logik. Doch der Anspruch, die Totenmesse
       des arbeitenden Menschen mit surrealistischen Traumbilder aufzublättern,
       gelingt nur ganz selten an diesem Abend.
       
       Etwa wenn ein Laufband, Hanteln und ein Energiedrink wie Reliquien einer
       Leistungsära aufeinandergestapelt sind, während sich Angestellte von einem
       Schamanen coachen lassen: Einmal über heiße Glut laufen, um den
       Sinnesschwund zu überwinden. Natürlich gehören auch die Büroarbeiter zu
       einem historischen Typus, der danach aus den Kostümen, ihren grauen
       Anzügen, schlüpfen darf. Denn der Rest des Abends wird bekanntlich eine
       lange Bondage-Einlage.
       
       14 Jan 2020
       
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