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       # taz.de -- Restitution von geraubten Körperteilen: Kein Objekt, kein Kunstwerk
       
       > In München wird der Leichnam eines Aborigines an sein Volk zurückgegeben.
       > Er lag fast hundert Jahre in einem Museumsdepot.
       
   IMG Bild: Hendrick Fourmile ist gekommen, um Yidindji Ancestral King nach Hause zu begleiten
       
       München taz | Die Holzkiste steht auf der Bühne, umhüllt von einem weißen
       Tuch, oben darauf die Flagge der Aborigines, der australischen Ureinwohner,
       aus Rot und Schwarz und einem gelben Kreis. Die Kiste ist klein, darin
       liegen die sterblichen Überreste eines Mannes. Er war Aborigine, jetzt wird
       er nach Australien zurückgebracht. Doch davor erhält er eine feierliche
       Rückgabezeremonie an dem Ort, an dem er vor knapp 100 Jahren letztmals vor
       Publikum ausgestellt wurde und seitdem im Depot eingelagert war: in München
       im heutigen Museum Fünf Kontinente, das früher Staatliches Museum für
       Völkerkunde hieß.
       
       Yidindji Ancestral King heißt er, er gehörte den Yidindji-Aborigines an,
       genauer gesagt den Gimuy Walubara Yidindji people, die als „tribe“, also
       Stamm oder Volksgruppe bezeichnet werden. Sechs Männer von ihnen sind nach
       München gekommen, um ihren Ahnen zu holen. Bevor jemand bei dieser Übergabe
       spricht, findet eine Zeremonie statt.
       
       Hendrick Fourmile, ein Yidindji-Angehöriger, klopft und scharrt mit zwei
       Hölzern, singt. Er geht nach draußen auf den Balkon zur Maximilianstraße
       und kommt mit einer größeren gebogenen Holzschale wieder hinein. Darin
       glühen und rauchen Blätter und Gewürze, Räucherzeremonie wird das Ritual
       genannt.
       
       Er geht von einem Teilnehmer – 50 Leute sind gekommen – zum nächsten, man
       weht sich den Rauch an die Nase, es riecht nach Kräutern, ein wenig scharf.
       Alle machen mit bei diesem Ereignis – Bayerns Wissenschaftsminister Bernd
       Sibler (CSU), die australische Botschafterin Lynette Wood, Museumsleiterin
       Uta Werlich und natürlich die Hauptperson, Gudju Gudju Fourmile, das
       Oberhaupt der Yidindji.
       
       ## „Er wurde gestohlen“
       
       Die Restitution, die Rückgabe von in der Kolonialzeit geraubten und
       abgepressten Kulturgütern, ist ein großes internationales Thema. Hier
       erlebt man sie konkret. Aber was ist der Leichnam von Yidindji Ancestral
       King? Ein völkerkundliches Objekt, ein Kunstwerk? Das war lange Zeit die
       Sichtweise der Kolonialisten und ihrer Nachfahren. Museumsleiterin Werlich
       sagt es ganz klar auf Englisch: „Er wurde gestohlen.“ Dass der Leichnam
       nach München kam, „erfüllt mich mit Trauer und Scham“. Minister Sibler
       spricht nun von einem „großen Tag der Gerechtigkeit“.
       
       Dann tritt Gudju Gudju Fourmile ans Rednerpult: „Jetzt hat seine Reise nach
       Hause begonnen, eine Reise der Traurigkeit und der Freude.“ Über die Zeit
       des Toten in München sagt er: „Sogar zwei Weltkriege hat er überlebt.“ Das
       Oberhaupt und die anderen sind sich sicher, dass ihr Vorfahre eine Frau
       hatte, deren Leichnam auch gestohlen wurde. Nach ihr suchen sie weiter.
       
       Die Geschichte des Yidindji Ancestral King konnte gut dokumentiert werden:
       Laut den Forschungen australischer und Münchner Wissenschaftler wurde der
       Leichnam 1876 von der Expedition des deutschen Geschäftsmanns Leopold Sachs
       gestohlen, dabei wurde wohl auch die Bestattungszeremonie gestört. Sachs
       brachte ihn nach Sydney, um ihn zu verkaufen und damit seine Expedition zu
       finanzieren. Das gelang aber nicht, sodass der Leichnam über ein Jahrzehnt
       in Sydney blieb. Dann wurde er dem damaligen Direktor der Ethnographischen
       Sammlung übergeben, der ihn nach München mitnahm. Zuletzt wurde er wohl
       1922 ausgestellt.
       
       „Er ist kein Museumsstück“, meint Gudju Gudju Fourmile im Gespräch nach der
       Veranstaltung. „Das ist sehr respektlos und sehr verletzend.“ Daheim, wo
       derzeit 50.000 Yidindjis leben, gibt es eine Zeremonie für Yidindji
       Ancestral King, dabei wird er „Teil eines Baumes“. Näheres darf das
       Oberhaupt nicht erzählen. Sie gehen davon aus, dass weltweit noch
       sterbliche Überreste von Tausenden ihrer Angehörigen existieren. Auch die
       wollen sie nach Hause holen.
       
       9 Apr 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patrick Guyton
       
       ## TAGS
       
   DIR Restitution
   DIR Kolonialgeschichte
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