# taz.de -- Revision zu Holocaust-Prozess: Die „Chefsekretärin“ des KZs
> Der Bundesgerichtshof verhandelte am Mittwoch über die Revision der
> 99-jährigen Irmgard Furchner. Sie arbeitete im KZ Stutthof als
> Stenotypistin.
IMG Bild: Die ehemalige KZ-Mitarbeiterin 2022 vor dem Landgericht Itzehoe
Leipzig taz | War die KZ-Sekretärin mitverantwortlich für den Massenmord im
Konzentrationslager Stutthof? Über diese Frage verhandelte der
Bundesgerichtshof (BGH) an diesem Mittwoch. Die inzwischen 99-jährige
Irmgard Furchner hatte Revision gegen ihre Verurteilung durch das
Landgericht Itzehoe eingelegt.
Furchner [1][war als junge Frau Sekretärin im Konzentrationslager (KZ)
Stutthof] bei Danzig. Dort nahm sie Diktate des Lagerkommandanten Paul
Werner Hoppe auf, tippte Tagesbefehle für die Wachmannschaften und wickelte
den umfangreichen Schriftverkehr für die Transporte von Häftlingen ab.
Furchner arbeitete von Juni 1943 bis April 1945 in Stutthof.
Das KZ Stutthof war zunächst ein Arbeitslager, in dem die Arbeitskraft der
großteils jüdischen Häftlinge ausgebeutet wurde. Ab Sommer 1944 war das KZ
aber so überfüllt, dass es faktisch zum Vernichtungslager wurde.
KZ-Kommandant Hoppe hatte die Erlaubnis zur systematischen Ermordung von
Häftlingen erhalten. Zudem wurden Tausende von Häftlingen von Stutthof aus
ins Todeslager Auschwitz-Birkenau verlegt.
[2][Das Landgericht Itzehoe verurteilte Irmgard Furchner im Dezember 2022]
zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen Beihilfe zum Mord
in 10.505 Fällen.
Angelastet wurde ihr dabei die Tötung von Häftlingen in der Stutthofer
Gaskammer, bei Vernichtungstransporten und Todesmärschen sowie durch die
generell lebensfeindlichen Bedingungen im KZ. Die Insassen erhielten zu
wenig Nahrung, zu wenig Wasser und kaum medizinische Versorgung. Einer
Fleckfieber-Epidemie im KZ blieben sie schutzlos ausgesetzt. Furchners
Verurteilung vor dem Landgericht erfolgte durch eine Jugendkammer, weil die
Angeklagte zum Tatzeitpunkt erst 18 beziehungsweise 19 Jahre alt war.
## Für den Anwalt „ganz normal“
Furchner legte Revision gegen das Urteil ein. Sie kam aber nicht persönlich
zur Verhandlung nach Leipzig, wo der fünfte Strafsenat des BGH sitzt.
Furchners Anwalt, Wolf Molkentin, plädierte auf Freispruch. Er stellte
darauf ab, dass die junge Frau damals die Auffassung hatte, „etwas
Neutrales zu verrichten“. Aus ihrer Sicht war die Schreibtätigkeit in
Stutthof eine „ganz normale Sekretariatstätigkeit“, „nichts anderes als bei
einer Bank“.
Udo Weiß, der Vertreter der Bundesanwaltschaft, verteidigte dagegen das
Strafurteil. Allerdings müsse der BGH seine Rechtsprechung „behutsam
weiterentwickeln“. Auch die Tätigkeit in einer KZ-Schreibstube könne
Beihilfe zum Massenmord sein.
Weiß ging zumindest von psychischer Beihilfe aus. Furchner habe durch ihre
Tätigkeit und Dienstbereitschaft den Lagerkommandanten in seiner
Mordtätigkeit bestärkt. Eine physische (handfeste) Beihilfe zum Mord sei
Furchner dagegen nicht nachzuweisen. Es sei nämlich unklar geblieben,
welche Befehle und Schreiben sie konkret getippt hatte.
Furchner habe keine völlig nachrangige Tätigkeit ausgeübt, so Ankläger
Weiß, immerhin habe sie direkt in der „Schaltstelle“ des KZs gearbeitet.
Außerdem sei sie die einzige Stenotypistin im Lager gewesen. Die meisten
Schreibarbeiten im KZ gingen über ihren Tisch. Nebenkläger-Anwalt Christoph
Rückel nannte Furchner wegen ihrer Tätigkeit für den Lagerkommandanten
sogar „Chefsekretärin“.
Der BGH wird sein Urteil am 20. August verkünden. Die mündliche Verhandlung
wurde für historische Zwecke aufgezeichnet, da es sich laut dem
Bundesgerichtshof um ein Verfahren von „herausragender zeitgeschichtlicher
Bedeutung“ handele.
31 Jul 2024
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## AUTOREN
DIR Christian Rath
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