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       # taz.de -- Roman über Klimakatastrophe: Gewöhnt euch dran
       
       > „Der Anfang von morgen“ heißt der neue Roman des schwedischen Autors Jens
       > Liljestrand. Er zeigt die Folgen des Klimawandels auf.
       
   IMG Bild: Und es wird noch heißer werden: Waldbrand zwischen Windkraftanlagen in Brandenburg, Juli 2022
       
       Sind wir denn vollkommen verblödet? Ganz Europa verzeichnet
       Rekordtemperaturen, Flüsse trocknen aus, Wälder brennen, Menschen sterben.
       Aber wir regen uns wochenlang darüber auf (manche fordern gar
       Haftstrafen!), wenn [1][Aktivist:innen der Letzten Generation]
       stundenweise den Verkehr lahmlegen. Weil Wirtschaft, Industrie und
       Gesellschaft seit Jahrzehnten ignorieren, dass uns die Zeit davonläuft.
       
       Fragt man Expert:innen, warum wir unsere ressourcenvernichtende Existenz
       nicht verändern, wird eine emotionale Entfremdung zwischen Mensch und Natur
       angeführt. Wir müssten emphatischer werden, „fühlen, was die Welt fühlt“,
       fordert etwa der Psychosomatiker Joachim Bauer, um die Herausforderungen
       unserer Zeit zu bestehen.
       
       Der PR-Berater Didrik fühlt schneller, als ihm lieb ist, was die Welt
       fühlt. Als er sich mit seiner Familie von der Pandemie am Siljansee im
       Herzen Schwedens erholt, kommt es zu einer Katastrophe. „Da hinten im Wald
       brennt es. Zeit, sich davonzumachen – jetzt sind wir auch Klimaflüchtlinge.
       Traurig, aber wahr. #climatechange“ twittert er noch, bevor er seine Frau
       und seine Kinder aus der Gefahrenzone bringen will. Doch das Auto springt
       nicht an. Zu Fuß versuchen sie, in den nächsten Ort zu kommen, um von dort
       evakuiert zu werden.
       
       Eindrücklich wird diese Szene im Roman beschrieben. Die Hitze drückt auf
       jeden Muskel, das Knacken des brennenden Holzes dröhnt in den Ohren, der in
       der Luft stehende Rauch brennt in der Lunge. Als sie nach Stunden im
       Nachbarort ankommen, ist der längst geräumt. Und das Feuer rückt
       unaufhaltsam näher. Um dem Inferno heil zu entkommen, muss der
       Familienvater einige Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die er schon
       bald bitter bereuen wird.
       
       Es ist ein apokalyptisches, aber alles andere als unrealistisches Szenario,
       das Jens Liljestrand an den Anfang seines über 500-seitigen Romans „Der
       Anfang von morgen“ stellt. Im Sommer 2018 [2][erlebte Schweden die
       schlimmsten Waldbrände] seit über hundert Jahren. Damals gerieten über
       30.000 Hektar Wald in Brand, die aufsteigenden Rauchsäulen konnte man
       selbst vom Weltall aus sehen. Das inspirierte den Schweden zu seinem Roman.
       
       ## Scham, Schmerz, Leid
       
       In vier Kapiteln erzählt Liljestrand vom Klimawandel als menschlicher
       Erfahrung, verbunden mit Scham, Schmerz, Leid und Liebe. Er selbst spricht
       von einer „Geschichte über das Abnormale als Normalität“. Dabei ist jedes
       Kapitel aus der Ich-Perspektive einer seiner Hauptfiguren erzählt – neben
       dem Familienvater sind dies eine junge Influencerin, der Sohn einer
       Tennislegende und Didriks älteste Tochter Vilja. „Schäm dich nicht, ein
       Mensch zu sein!“, postet Melanie regelmäßig auf ihren Social-Media-Kanälen,
       wo sie sich freizügig zeigt.
       
       Ginge es nach ihr, würden die Menschen ihr Leben in vollen Zügen genießen.
       In der Klimabewegung mit all ihren Verbotsforderungen sieht sie einen
       „Todeskult“, der die Menschheit „zurück in die Höhlen treiben will“. Nach
       und nach wird deutlich, dass der Kampf, den sie aus dem Internet auf die
       Straße trägt, ein Stellvertreterkrieg ist, um ganz andere Schmerzen
       kleinzuhalten. Als Didrik dann mit seiner Tochter Becka bei ihr Zuflucht
       sucht, eröffnet sich ihr ein unverhoffter Ausweg aus ihrem beklemmenden
       Dasein.
       
       In seinem Leben gefangen fühlt sich auch André, unehelicher Sohn von Anders
       Hell, einem gealterten Tennis-Star, der wie Björn Borg, Mats Wilander und
       Stefan Edberg zu Schwedens goldener Generation gehört. Seit Jahren muss
       sich der Student die hämischen Kommentare seines Vaters anhören. Er sei
       nicht gut genug, nicht sportlich genug, im wahrsten Sinne des Wortes ein
       Weichei. Und dennoch sucht er dessen Liebe. Als er ihm auf einem Segeltörn
       eröffnet, über die Geschichte des Leids in der Welt zu schreiben, löst dies
       Debatten aus, in denen sein Vater in bester Whataboutism-Manier
       ethisch-moralische Vorwürfe zurückweist. Jetzt probt André den Aufstand.
       
       ## Teenager übernehmen Verantwortung
       
       Verantwortung für die eigene und künftige Generationen übernehmen (auch)
       hier nur Teenager. Während Viljas Vater mit ihrer Babyschwester nach
       Stockholm flieht, bleibt sie mit ihrer Mutter in der Krisenregion. Dort
       wird sie Hilfe für die Geflüchteten organisieren und die Kraft der Liebe
       entdecken. Und sie sucht ihren Bruder Zack, von dem seit der Flucht aus den
       Flammen jede Spur fehlt. Dabei wird die 14-Jährige [3][(wie vor ihr Greta
       Thunberg)] über sich hinauswachsen und zur Heldin des Romans.
       
       Wer sind wir? Und wie konnten wir so werden? Diesen Fragen geht Jens
       Liljestrand in seinem Pageturner auf den Grund. Er gibt seinen Figuren
       Geschichte und Geschichten, geht zum Teil Jahrzehnte zurück, um ihr Handeln
       im Ausnahmezustand emotional zu verankern. Zugleich nutzt er die vier
       Stimmen (für die in der deutschen Fassung vier verschiedene
       Übersetzer:innen verantwortlich sind), um gesellschaftliche Phänomene
       wie politisches Versagen, eskalierende Diskurse, soziale Ungleichheit,
       junges Engagement sowie Alltagserscheinungen wie Liebe, Betrug und
       Vergebung zu diskutieren.
       
       Dass die einzelnen Lebensgeschichten dabei ziemlich weit davontragen,
       spricht für ihre literarische Eigenständigkeit. Zugleich klappert aber ihre
       über erzählerische Motive gestrickte Montage zu einem Roman. Obwohl der vom
       Menschen verursachte Klimawandel aus den gesellschaftspolitischen Debatten
       (und dem Sachbuchregal) nicht mehr wegzudenken ist, spielt er in der
       zeitgenössischen Literatur nur eine Nebenrolle. Dabei wären Fiktionen, die
       die abstrakte Bedrohung der folgenschweren Erderwärmung in glaubhafte und
       konkrete Geschichten überführen, wichtig, um vom Wissen zum Verstehen und
       schließlich zum Handeln zu kommen und aus der selbst verschuldeten
       Unmündigkeit unserer Zeit zu treten.
       
       ## Schätzings „Schwarm“!
       
       Frank Schätzings Bestseller „Der Schwarm“ aus dem Jahr 2004 war ein erstes
       literarisches Ausrufezeichen, das die Hoffnung auf eine solche Literatur
       nährte, blieb aber lange ein Solitär. Mit Maja Lundes Klima-Quartett
       erhielt die Climate Fiction neuen Schwung. Viel mehr als eine Handvoll
       lesenswerter Werke sind seither jedoch nicht erschienen.
       
       Jenny Offills Momentaufnahme „Wetter“ über die Klimawandeldebatten in den
       USA oder Kim Stanley Robinsons optimistische Vision „Das Ministerium der
       Zukunft“ über die lernende Menschheit sind gut recherchierte und plausible
       Geschichten einer Welt im Wandel. Ali Smith’ zwischen Tierschutz,
       Klimawandel und Lockdown wandelnder Roman „Sommer“ und Richard Powers
       Porträt eines jungen Klimaschützers „Erstaunen“ zielen ins Zwischenreich
       von Naturkunde und Gesellschaftsroman.
       
       Hierzulande haben Helene Bukowski in ihrem Debütroman „Milchzähne“, Roman
       Ehrlich in dem für den Deutschen Buchpreis [4][nominierten Ökothriller
       „Male“] oder John von Düffel in seinem Klimaprotest-Roman „Der brennende
       See“ die Folgen einer Welt auf der Kippe zuletzt überzeugend in den Blick
       genommen.Für gute Climate Fiction gilt, was für gute Literatur gilt: Sie
       lässt uns verstehen, was mit der Welt und uns passiert.
       
       ## Welt aus den Angeln
       
       Jens Liljestrand nimmt die aus den Angeln gehobene Welt und beobachtet die
       Menschen, die sie bewohnen. Er erklärt nicht den Klimawandel in seinen
       verschiedenen Aspekten und Abhängigkeiten, sondern zeigt, wie wir leben,
       wenn Hitzewellen und Waldbrände längst Alltag sind. An die Stelle der (für
       Westeuropäer) abstrakten Bedrohung von schmelzenden Polen und steigendem
       Meeresspiegel rückt die konkrete Katastrophe, in der Menschen emotionale
       Entscheidungen treffen, die Chaos und Gewalt befördern. „Gewöhn dich dran“,
       so die Warnung, die immer wieder ertönt.
       
       „Dieser Sommer war nicht der heißeste. Es war der kälteste, verglichen mit
       dem, was uns die nächsten Jahre erwartet“, kommentiert Vilja im Rückblick.
       Vor diesem Hintergrund sollten wir die Zeit nutzen, um uns auf die Zukunft
       vorzubereiten.
       
       2 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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