URI: 
       # taz.de -- Usama Al Shahmanis Roman: Die Spuren einer endgültigen Vertreibung
       
       > Der Familienroman „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ führt von
       > Zürich über Jerusalem nach Bagdad – in das einst jüdisch geprägte Viertel
       > Betawin.
       
   IMG Bild: Autor Usama Al Shahmani floh 2002 vor dem Regime des damaligen Diktators Saddam Hussein aus dem Irak. Heute lebt er in der Schweiz
       
       Berlin taz | Durch einen nächtlichen Anruf seiner Schwester Tamar
       aufgeschreckt, nimmt Gadi widerwillig in Zürich den [1][nächstmöglichen
       Flug nach Israel]. Sein Vater, den er 30 Jahre nicht gesehen hat, liegt in
       Jerusalem im Krankenhaus auf der Intensivstation im Sterben.
       
       Nach dem Tod werden Gadi und Tamar in seinem Testament von einem
       ungewöhnlichen Anliegen überrascht. Zakai Mieche, ihr Vater, zu dem sie zu
       Lebzeiten kaum Kontakt hielten, bittet sie, wider [2][das gängige jüdische
       Bestattungsritual], eine Hälfte seiner Asche in Israel zu beerdigen, den
       anderen Teil aber nach Bagdad zu bringen und unter der alten Brücke im
       Tigris zu verstreuen. Warum Bagdad?
       
       Das ist die Ausgangssituation in Usama Al Shahmanis Roman „In der Tiefe des
       Tigris schläft ein Lied“, der von der zögerlichen Auseinandersetzung des
       Protagonisten mit der Biografie des Vaters und der Herkunft erzählt. Bis zu
       ihrer endgültigen [3][Vertreibung 1950 aus dem Irak] gehörte die Familie
       zur großen, jahrhundertealten jüdischen Gemeinde von Bagdad.
       
       Usama Al Shahmani, 1971 in Bagdad geboren und heute in Zürich lebend,
       begann 2020 mit den Recherchen zu der historisch-fiktionalen Erzählung.
       Doch Einschränkungen der Coronapandemie und der Überfall der
       Terrororganisation Hamas auf Israel 2023 gefährdeten das literarische
       Projekt.
       
       ## Die Kindheit des Vaters
       
       2002 war der Autor vor dem Regime des damaligen Diktators Saddam Hussein
       aus dem Irak geflohen. Zwei Jahre verbrachte der sprachbegabte
       Literaturwissenschaftler anschließend in Schweizer Flüchtlingsunterkünften,
       brachte sich selbst Deutsch bei, wurde zum Dolmetscher und Übersetzer.
       [4][Heute schreibt und veröffentlicht er in deutscher Sprache].
       
       Aus dieser Herausforderung entwickelt er einen eigenen Stil, der eine
       geradlinige, präzise Sprache mit Elementen der arabischen
       Literaturtradition verbindet. „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“
       ist sein fünftes erzählendes Werk, das im Schweizer Limmat Verlag
       erscheint.
       
       In seinem neuen Roman reist die Hauptfigur mit der Urne des Vaters
       schließlich nach Bagdad. Begleitet wird Gadi von Nedim, einem irakischen
       Freund aus Zürich. In Bagdad wohnen sie im Haus von Nedims Onkel Sabir und
       seiner Frau Myra, einer der letzten, unerkannt lebenden Jüdinnen im Land.
       
       Die Gespräche mit der alten Dame helfen Gadi, eine Verbindung zu den
       hinterlassenen Aufzeichnungen des Vaters zu knüpfen, dessen
       Kindheitserinnerungen in das ehemals jüdische Viertel Betawin führen.
       
       Zakai Mieches Memoiren bilden die zweite Ebene in Al Shahmanis
       melancholischer Erzählung vom [5][Verlust eines Orts und seiner Kultur].
       „Den Geschmack des morgendlichen Tees in Bagdad habe ich nie vergessen“,
       schreibt Gadis Vater wehmütig und hält an anderer Stelle sachlich fest:
       „Amin Husseini war es, der den Antisemitismus in Bagdad etabliert und die
       gesellschaftliche Stimmung dort für immer vergiftet hat. In der Stadt, die
       ihm einst Zuflucht geboten hatte, entfachte er damit einen Flächenbrand …“
       
       Amin al-Husseini, auch bekannt als Mufti von Jerusalem, unterhielt seit
       1933 enge Kontakte zu den Nationalsozialisten in Berlin. Nach seiner
       [6][Flucht aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina] agitierte der
       islamisch-arabische Nationalist dann auch im Irak gegen Juden. Im November
       1941 setzte er sich nach Nazideutschland ab, wo er über den Reichssender
       Berlin weiter Hass und Hetze in der arabischen Welt verbreitete.
       
       ## Taktisches Bündnis mit den Nationalsozialisten
       
       Detailreich schildert Al Shahmanis Roman die schicksalhaften Entwicklungen
       im Irak der 1930er und 1940er Jahre. Eine zentrale Rolle spielt in dieser
       Zeit das taktische Bündnis arabischer Nationalisten mit dem „Dritten Reich“
       Adolf Hitlers. Gemeinsam einte sie die Feindschaft gegen die ehemalige
       Kolonialmacht Großbritannien und deren angebliche Agenten, die Juden.
       
       Die antisemitische Propaganda verfing. Am 1. Juni 1941 kam es zu einem
       zweitägigen [7][Pogrom gegen die jüdischen Bewohner Bagdads, das als
       Farhud („gewalttätige Enteignung]“) bekannt wurde. Umfangreiche
       historische Quellen lässt der irakischschweizerische Schriftsteller in
       seine Prosa einfließen und richtet so den Blick auf die komplexen
       Hintergründe jener Konflikte in der Region, die bis in die Gegenwart
       reichen.
       
       „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ bemüht sich erfolgreich, diesem
       [8][verdrängten Kapitel der irakischen Geschichte] einen literarischen Raum
       zu eröffnen. Auch wenn die Fülle der verarbeiteten Informationen manchmal
       überwältigt und dadurch das Gleichgewicht der verschiedenen Erzählstränge
       gefährdet, bietet der Roman eine spannende und anregende Perspektive, die
       sich tastend zwischen Fiktion und Faktischem bewegt.
       
       9 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nahostkonflikt-in-der-Literatur/!6042717
   DIR [2] /Juedischer-Friedhof-Berlin-Weissensee/!6052983
   DIR [3] /Miss-Irak-Miss-Israel-und-die-Vertreibung/!5470622
   DIR [4] /Bachmannpreis-fuer-Ana-Marwan/!5860846
   DIR [5] /Voelkermord-der-Jesidinnen/!6099744
   DIR [6] /Solidaritaet-mit-Palaestina/!6106426
   DIR [7] /Arabische-Juden/!5894964
   DIR [8] /Kampf-gegen-den-IS-im-Irak/!5437130
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva-Christina Meier
       
       ## TAGS
       
   DIR Roman
   DIR Bagdad
   DIR Vertreibung
   DIR Antisemitismus
   DIR Festival
   DIR Historiker
   DIR Roman
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Schwerpunkt Nahost-Konflikt
   DIR Bibliothek
   DIR Israel
   DIR Antisemitismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Lateinamerikanisches Literaturfestival: Chronisten der Transformationen
       
       Das Festival „Barrio (Bairro) Berlin“ ist gestartet. Es bildet ab, wie
       vielfältig die lateinamerikanische Literaturszene hierzulande ist.
       
   DIR 55. Deutscher Historikertag in Bonn: Kein neuer Antisemitismusstreit
       
       Der ganz große Knall blieb aus. Kontroversen wurden dennoch dezent
       sichtbar. Aufschlussreich waren neue Quellen zur NS-Besatzung in Osteuropa.
       
   DIR Interview mit Yishai Sarid über Israel: „Ohne Hemmungen freidrehen“
       
       Der Schriftsteller Yishai Sarid beobachtet den Erfolg des Rechtspopulismus
       in Israel. Davon erzählt er in seinem aktuellen Roman „Chamäleon“.
       
   DIR Nach Entführung in Irak: Israelisch-russische Forscherin Tsurkov frei
       
       Im Frühling 2023 entführte die irakische Miliz Kataeb Hisbollah die
       Doppelstaatlerin. Die USA spielten bei der Freilassung eine entscheidende
       Rolle.
       
   DIR Israelischer Luftangriff in Jemen: 35 Tote und 131 Verletzte
       
       Bei Angriffen auf mehrere Huthi-Ministerien sterben auch Zivilistinnen und
       Zivilisten. Die Huthi-Miliz schießt nach den Angriffen erneut eine Rakete
       auf Israel.
       
   DIR Jüdische Bibliothek in Tunesien: Die verloren geglaubte Bibliothek
       
       Vor 80 Jahren strandeten über 3.000 Bücher des jüdischen
       Religionsphilosophen Franz Rosenzweig in Tunesien. Über die Odyssee einer
       Sammlung.
       
   DIR Liraz ist aus Israel und singt auf Farsi: „Niemand will Krieg“
       
       Liraz ist in Israel geboren. Weil sie auf Farsi singt, hat sie viele Fans
       im Iran, die sich heute mit Israel solidarisch zeigen.
       
   DIR Arabische Juden: Eine vergessene Fluchtgeschichte
       
       Warum leben heute kaum Juden in Bagdad und keine in Algier? Die
       arabisch-islamische Judenfeindschaft ist um einiges älter als der Staat
       Israel.