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       # taz.de -- Roman von Nobelpreisträger Gurnah: Inmitten vieler Geschichten
       
       > Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erscheint nun auf Deutsch. Der Roman
       > „Das verlorene Paradies“ geht uns an – über den postkolonialen Kontext
       > hinaus.
       
   IMG Bild: Die „Wilden“ sind immer die anderen: Händlerstraße in Sansibar ca. 1912
       
       Zu Beginn des letzten Viertels dieses Romans versucht Yusuf, dessen
       Jugendzeit wir lesend begleiten, sich einen Reim auf seine Erlebnisse zu
       machen. „Das verlorene Paradies“ spielt in der Zeit vor dem Ersten
       Weltkrieg an der ostafrikanischen Küste bei Sansibar. Yusuf hatte an einer
       Handelskarawane ins Landesinnere teilgenommen. Ein Fehlschlag, alle
       monatelange Mühsal und alle Opfer vergebens, viele der Beteiligten kommen
       um.
       
       Yusuf erzählt nun, „wie oft er sich auf der Reise wie ein Weichtier
       vorgekommen war, das seine Schale abgestreift hatte und nun ungeschützt
       ausgeliefert dalag, ein abscheuliches, bizarres Tier, das zwischen
       Schottersteinen und Dornen ziellos seine Schleimspur zog“. Er fragt sich,
       „was es wohl war, wonach die Leute sich so sehr sehnten, dass sie, nur um
       Handel treiben zu können, ein derartiges Grauen niederkämpfen konnten“.
       
       Er berichtet aber auch, Dinge gesehen zu haben, auf die er nicht
       vorbereitet war: „Das Licht auf dem Berg ist grün […] Und die Luft ist wie
       reingewaschen. Morgens, wenn die Sonne die Schneekuppe streift, überkommt
       einen ein Gefühl von Ewigkeit“.
       
       Was an dieser Szene auffällt, ist – neben dem schroffen Nebeneinander von
       Grauen und Schönheit – ein poetischer Überschuss, der von [1][Abdulrazak
       Gurnah] an dieser Stelle ganz bewusst gesetzt ist. Die Erlebnisse selbst,
       die alltäglichen wie die schlimmen, schildert dieser Autor in diesem Roman
       oft ganz lakonisch. Und daneben und teilweise quer dazu stehen dann die
       Geschichten, die die Figuren erzählen, sich selbst oder anderen.
       
       Eine der interessanten Leseerfahrungen dieses Romans ergibt sich aus diesem
       Punkt: Zu ihren tatsächlichen Erlebnissen passen diese Erzählungen der
       Figuren nämlich oft nicht recht. Dazwischen gibt es einen Spalt, der sich
       auch zur Kluft auswachsen kann. Und keineswegs immer steht, wie bei Yusuf
       nach seiner Rückkehr von der Karawanenreise, der redliche, teilweise aber
       auch noch hilflose Versuch dahinter, überwältigende Erfahrungen in Worte zu
       fassen. Vielmehr geht es auch um handfeste Interessen, darum, durch
       Geschichten die Realität zu verfälschen, und auch darum, durch Geschichten
       sich tröstend vom eigenen Schicksal abzulenken.
       
       ## Unsere Lügen und Illusionen
       
       In seiner Nobel-Lecture, die er ein paar Tage, bevor ihm nun der Nobelpreis
       überreicht wurde, gehalten hat, hat Abdulrazak Gurnah es als eins seiner
       schriftstellerischen Anliegen beschrieben, auf die „Hässlichkeit dessen
       hinzuweisen, was wir einander zufügen können, und den Lügen und
       Wahnvorstellungen zu widerstehen, mit denen wir uns selbst getröstet
       haben“. In „Das verlorene Paradies“ findet sich beides, das, was Menschen
       einander zufügen können, sowie die Lügen und Illusionen.
       
       Das macht diesen 1948 auf Sansibar geborenen und Mitte der sechziger Jahre
       nach dortigen Unruhen nach Großbritannien emigrierten Autor über den
       postkolonialen Zusammenhang, in dem er zweifellos erst einmal steht, hinaus
       interessant. In „Das verlorene Paradies“ erzählen sich die Figuren
       Geschichten nicht nur, um zu leben [2][(Joan Didion)] oder um zu verstehen,
       sondern auch um sich selbst ins rechte Licht zu setzen und um andere
       Figuren abzukanzeln.
       
       Ein das ganze Buch über durchgehaltener tragischer Grundton ist dabei
       dadurch gesetzt, dass Yusufs tatsächliche Geschichte inmitten all dieser
       Geschichten gar nicht vorkommt. Im Alter von zwölf Jahren wird er von
       seinen verschuldeten Eltern dem Kaufmann Aziz, den Yusuf mal Onkel Aziz,
       mal Seyyid, Herr, nennt, als Geisel übergeben. Als er nach Jahren mit dem
       Zug wieder durch seine Geburtsstadt fährt, versteckt er sich hinter den
       Waggonfenstern, um von seinen Eltern ja nicht gesehen zu werden; ihm ist
       unklar, was von ihm erwartet würde und wie er in dieser Situation reagieren
       sollte.
       
       Und den ganzen Roman hindurch weiß er nicht, ob er nun ein Angestellter,
       ein Sklave, ein Diener oder vielleicht doch auch ein möglicher Nachfolger
       des Kaufmanns ist. Der Roman ist durchzogen von solchen Abhängigkeiten und
       unklaren Nahbeziehungen.
       
       ## Verschärfende Lage
       
       Auch auf größerer sozialer Ebene hat die Kluft zwischen der Realität und
       den Geschichten konkrete Auswirkungen. So schlägt die Karawane, die im
       Zentrum des Buches steht, auch wegen der Kraft von Geschichten fehl, die
       sich über die Realität legen. Chatu, der Sultan eines Stammes, zu dem die
       Karawane vorstößt, weigert sich nicht nur zu handeln, sondern nimmt auch
       mit Gewalt alle Waren an sich. Er sagt: „Ihr seid hierhergekommen, um uns
       Übles zu tun. Wir haben unter anderen eurer Art gelitten, die vor euch hier
       waren […] Sie sind über unsere Nachbarn hergefallen, haben sie gefangen
       genommen und verschleppt.“
       
       Dem Kaufmann Aziz gelingt es nicht, zu beglaubigen, dass er mit solchen
       Geschichten vom historischen arabischen Sklavenhandel in der Region nichts
       zu tun hat. Wobei die Illusion auf seiner Seite liegt. Seine Art, Handel zu
       treiben, wird in der sich durch die Ankunft europäischer Mächte zusätzlich
       verschärfenden Lage zunehmend anachronistisch.
       
       Spätestens an dieser Stelle ist es interessant, einmal nachzuzeichnen, wer
       in diesem Roman wen alles als „Wilde“ bezeichnet. Vom Kaufmann Aziz heißt
       es in der Figurenperspektive ausdrücklich, er treibe Handel „mit den
       Wilden“. Dass die Angehörigen dieser Stämme im Landesinneren nun wiederum
       ihn als „Wilden“ und eben nicht als Händler verstehen, verdeutlicht den
       Fehlschlag der Karawane.
       
       Dass wiederum die Weißen, die in dem Buch an wenigen, aber markanten
       Stellen vorkommen, alle Nichtweißen sowieso als „Wilde“ begreifen, muss gar
       nicht erst formuliert werden; die Europäer – ein Kunstgriff für sich –
       reden in diesem Buch gar nicht, sie herrschen schweigend. Dafür wird an
       anderer Stelle extra betont, dass die ostafrikanischen Kaufleute ihrerseits
       eingeschüchtert sind von der „Wildheit und Rücksichtslosigkeit“ der
       Europäer. „Wilde“ sind in diesem Roman ([3][Dank an Marcel Inhoff] für den
       Hinweis) tatsächlich immer die anderen. Und das wird vor allem durch
       Geschichten transportiert.
       
       ## Multiethnisches Leben
       
       „Das verlorene Paradies“ ist Abdulrazak Gurnahs vierter Roman. Auf Englisch
       erschien er 1994, 1996 wurde er von der (inzwischen verstorbenen)
       Übersetzerin Inge Leipold ins Deutsche übertragen – und nicht übermäßig
       stark wahrgenommen, wie alle anderen Romane dieses Autors auch nicht. Doch
       nachdem der überraschende Nobelpreis dieses Jahres auf Gurnah aufmerksam
       machte, wird das nun nachgeholt.
       
       Für die deutschen Rechte soll es großes Interesse gegeben haben, der
       Penguin Verlag hat sie sich schließlich gesichert. Alle bisher zehn Romane
       Gurnahs werden auf deutsch herauskommen, den Beginn dieser Edition macht
       jetzt die neu durchgesehene und mit einem Glossar versehene Neuausgabe von
       Inge Leipolds Übersetzung.
       
       Der Roman führt hinein in das multikulturelle und auch multiethnische Leben
       in diesem Bereich der ostafrikanischen Küste, bevor der auch hier
       durchgesetzte europäische Kolonialismus – in den Jahren nach der
       sogenannten Westafrika-Konferenz in Berlin 1884/85 wurde ganz Afrika
       europäischer Herrschaft unterworfen – alle gesellschaftlichen Gegebenheiten
       endgültig nach einem Weiß-Schwarz-Dualismus formatierte.
       
       In dem Roman kursieren arabisch geprägte Erzählungen um Dschinns und
       verzauberte Prinzessinnen, der Islam trifft auf Naturkulte, an der Küste
       gibt es unter den Händlern indische und chinesische Einflüsse, während die
       Menschen aus dem Landesinneren nur mit einem Tuch bedeckt durch die Straßen
       gehen.
       
       ## Schönheit des Schreibens
       
       Inmitten dieses unübersichtlichen Geflechts muss sich Yusuf zurechtfinden,
       was für ihn – der Roman ist auch eine Coming-of-Age-Geschichte – etwa auf
       sexuellem Gebiet alles andere als leicht ist. Auf der einen Seite wird er
       immer wieder mit handfesten Übergriffigkeiten von Männern und Frauen
       konfrontiert, die ihn unumwunden auffordern, sie einmal zu besuchen,
       während ihre Männer Mittagsschlaf halten. Auf der anderen Seite gibt es
       verschleierte Frauen, und alles wird traditionell geregelt.
       
       In seiner Nobel-Lecture hat Abdulrazak Gurnah auch gesagt, dass für ihn die
       Schönheit des Schreibens auch daraus resultiere, zu zeigen, wie „es anders
       sein könnte“, und damit zu tun habe, hinter die Vereinfachungen und
       Stereotypen zu kommen, die gern kolportiert werden. Auf der Handlungsebene
       dieses Romans ist dieses fast utopische Potential nicht zu finden. Auch in
       den Liebesbeziehungen nicht. Sie sind genauso von Hierarchien und
       Vorurteilen durchdrungen wie die Familienbeziehungen und die von den
       Figuren erzählten Geschichten.
       
       Doch auf der Ebene der Beschreibungen blitzen in dem Roman immer wieder
       eindringliche Momente auf, die den oft engen Erzählungen der
       Figurenperspektive etwas zur Seite und womöglich ihnen auch
       entgegenstellen. Eine Suche nach Genauigkeit und Dringlichkeit. Eine Arbeit
       daran, das Potential des Schreibens ganz auszunutzen, die Fülle der
       Wahrnehmungen zu erfassen, sich unerschrocken der ganzen Bandbreite
       menschlicher Empfindungen zuzuwenden.
       
       ## Unerbittlichkeit der Deutschen
       
       So erfährt man in diesem historischen Roman viel über den Kolonialismus und
       die spezifische Situation, wie er sich in dem von ihm sorgfältig
       beschriebenen Teil der Welt durchsetzte. Doch in vielen Beschreibungen von
       Orten, Menschen, Szenen und auch in der Genauigkeit, in der die
       verfälschenden Geschichten der Figuren dargestellt werden, geht der Roman
       auch immer wieder darüber hinaus. Das Schreiben bekommt ein Eigenrecht.
       
       In seiner Indirektheit sehr kunstvoll wiederum beschreibt Gurnah, wie die
       weißen Kolonialherren in dieser Gegend vom Gerücht zur alles unterwerfenden
       Realität werden. Europäer sieht Yusuf zum ersten Mal an einem Bahnsteig:
       „Plötzlich entblößte der Mann die Zähne zu einem unwillkürlichen Knurren
       und krümmte seine Finger auf seltsame Weise.“ Ein weißer Mann, der eine
       Raubtiergeste nachmacht, eine beiläufige Szene, die aber doch hängen
       bleibt.
       
       Die deutsche protestantische Arbeitsmoral, die Unerbittlichkeit der
       Deutschen bei Bestrafungen, darüber kursieren unter den Figuren erst
       Geschichten, bis am Schluss des Buches ein deutscher Offizier mit einem
       Trupp Askaris, also rekrutierten schwarzen Soldaten der deutschen
       sogenannten Schutztruppe, auftaucht. Diesen deutschen Offizier beschreibt
       Gurnah so: „Seine Gesichtshaut war straff und gespannt, wie nach einer
       Verbrennung oder Krankheit. Sein Lächeln war eine starre Grimasse der
       Entstellung. Seine Zähne lagen frei, als hätte das angespannte Fleisch
       seines Gesichts zu faulen begonnen“. Hat man nicht gleich ein Kriegsgemälde
       etwa von Otto Dix im Kopf?
       
       ## Dulden und Ohnmacht
       
       Gegen Ende geht es in dem Roman darum, ob die Figuren nicht aus all diesen
       Gegebenheiten ausbrechen können. Es gibt einen alten, längst freigelassenen
       Sklaven, der dennoch nicht in die Freiheit geht und bei dem Garten bleibt,
       den er seit Jahrzehnten für seine Herren pflegt. Yusuf empfindet seine
       Geschichten als papierne „Weisheit des Duldens und der Ohnmacht“. Doch auch
       Yusuf versucht nicht den Schritt in die Freiheit. Wohin sollte er auch
       gehen? Er läuft den Askaris hinterher, um sich von ihnen rekrutieren zu
       lassen. Ein Weichtier, das sich eine Schale sucht. Ihm bleibt nichts
       anderes übrig.
       
       In einer anderen Zeit und einer anderen weltpolitischen Situation hätte aus
       Yusuf, das zeigt der poetische Überschuss seines Berichts von der Karawane,
       ein Schriftsteller werden können. Doch in der Situation, in der er sich
       befindet, eingeklemmt zwischen starren Hierarchien, verfälschenden
       Geschichten und dem Kolonialismus, kann er sich nur seine Beherrscher
       aussuchen.
       
       13 Dec 2021
       
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