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       # taz.de -- Russische Deserteure in Deutschland: Flucht vor dem Töten
       
       > Tausende Russen haben in Deutschland Asyl beantragt, weil sie den
       > Kriegsdienst verweigern. Gewährt wird es nur wenigen, obwohl ihnen die
       > Einberufung droht.
       
   IMG Bild: Der russische Desserteur Daniil, fotografiert in Kulmbach
       
       Ilja Jaschin ist auf Tour. Der russische Regimekritiker fährt
       deutschlandweit von Stadt zu Stadt, um mit Menschen aus der
       postsowjetischen Community zu diskutieren. Über den Krieg in der Ukraine,
       [1][die zerstreute – und zerstrittene – Exilopposition.] Und natürlich auch
       über Putin.
       
       An diesem Abend Ende Februar drängen sich etwa 150 Leute in den
       Gemeindesaal der Nürnberger Lorenzkirche. Es sind Junge und Alte, viele
       sind erst seit dem Krieg hier, einige leben schon seit Jahrzehnten in
       Deutschland. Kurz vor dem Ende der Diskussion steht ein junger Mann auf. Er
       erzählt, dass er seit zwei Jahren in Bayern lebt, dass sein Asylantrag aber
       abgelehnt worden sei, obwohl er gegen diesen Krieg ist und vor ihm geflohen
       ist. Und dass er so viele Russen kennt, denen das Gleiche passiert ist.
       
       Nach der Veranstaltung reden Jaschin und der Mann zu zweit miteinander.
       Später wird der junge Russe sagen, dass der Oppositionelle ihm aufmerksam
       zugehört habe, aber wirklich helfen könne er ihm natürlich nicht. Das
       könnte nur der deutsche Staat. Doch der scheint sich nicht wirklich mit dem
       Problem befassen zu wollen.
       
       ## Leeres Versprechen auf Asyl
       
       6.300 Asylanträge haben russische Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18
       und 30 Jahren seit Beginn des Kriegs gestellt. Nur 349 von ihnen haben
       bislang Asyl erhalten. Es ist eine sehr kleine Zahl im Vergleich zu den
       sehr großen Worten, die deutsche Politiker nach dem 24. Februar 2022
       aussprachen. In dem Bundestagsbeschluss zur Unterstützung der Ukraine
       wurden [2][russische Soldaten aufgefordert, den Kampf zu verweigern] und
       nach Deutschland zu fliehen – mit dem Hinweis auf mögliches Asyl in der
       Bundesrepublik. Im Herbst 2022 wiederholten der damalige Bundeskanzler Olaf
       Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser dieses Angebot.
       
       Doch nach fast dreieinhalb Jahren gibt es immer noch kein wirkliches
       Verfahren, um russische Deserteure aufzunehmen. Männer, die bereits vor dem
       Einzug in die Armee geflohen sind, haben noch schlechtere Chancen auf Asyl.
       Die Folge: Tausende von ihnen leben teilweise seit Jahren in Deutschland.
       Ihre Zukunft ist ungewiss und sie leben in Angst vor einer möglichen
       Abschiebung.
       
       Daniil ist einer von ihnen. Der 30-Jährige ist der Mann, der Ilja Jaschin
       von genau diesem Problem erzählt hat. Ende März sitzt er in einem Café im
       beschaulichen Kulmbach, 110 Kilometer nördlich von Nürnberg gelegen. Er
       wundert sich, dass so viele Leute an einem Montagmittag einfach Kaffee
       trinken. „Müssen die nicht arbeiten?“ Er lacht. Er selbst hat heute frei.
       
       Eigentlich heißt Daniil anders, aber er fürchtet sich davor, seinen echten
       Namen zu veröffentlichen. Er hat noch Familie in Russland. Aber er möchte
       seine Geschichte erzählen. Er wird drei Stunden lang sprechen und nur ein
       einziges Mal eine kurze Pause machen.
       
       ## Damals hat er gelacht
       
       Daniil lebt seit über zwei Jahren in Kulmbach. Er ist nicht nur vor dem
       Krieg geflohen, sondern auch vor dem Regime. Schon Jahre vor seiner Flucht
       war er politisch aktiv und kritisierte öffentlich die Politik. 2016 fanden
       in seinem Heimatdorf nahe der südlichen Großstadt Krasnodar Kommunalwahlen
       statt. „Ein Freund von mir hatte die Idee, am Wahltag T-Shirts zu tragen,
       auf denen kritische Parolen über das Regime gedruckt wurden.“ Daniil habe
       sich gefürchtet, die möglichen Risiken erahnt. „Aber mein Wunsch, meine
       Meinung zu äußern, war stärker.“ Die beiden Männer seien von der Polizei
       festgenommen worden, Passanten hätten ihnen ins Gesicht gespuckt. „Damit
       fing der Ärger an.“
       
       Die beiden wurden wieder freigelassen. Daniils Freund wurde jedoch von da
       an ständig von der Polizei beobachtet. Daniil selbst erhielt ein
       Ultimatum: „Entweder du gehst zur Armee oder du wirst in Zukunft große
       Probleme bekommen.“ Ein Jahr lang steckte Daniil im tiefsten Ural fest,
       aber die erhoffte Gehirnwäsche verlief bei ihm erfolglos. Nach seinem
       Dienst nahm er weiter an Demos und Protestaktionen teil, etwa 2021 nach
       [3][Alexei Nawalnys] Verhaftung. Wirkliche Konsequenzen konnte Daniil
       vermeiden: „Damals ließ Putin noch kleine Freiheiten und Veränderungen zu.“
       
       Daniil dachte nicht oft an seine Zeit bei der Armee. Er vergaß auch, dass
       er nach seinem Dienst einen kleinen Vermerk in den Wehrpass erhalten hatte.
       Nur ein paar Sätze – die unter anderem der Grund dafür sind, weshalb er
       heute in Deutschland lebt. „Nach dem Dienst musste ich mich beim
       Militärkommissariat melden. Als die Offiziere meine Unterlagen sahen,
       sagten sie: ‚Du hast ein höheres Dienstniveau, du bist Akademiker. Lass uns
       in deinem Wehrpass vermerken, dass du im Falle einer Mobilisierung sofort
       eingezogen und dich um die Mobilisierung der Soldaten hier vor Ort kümmern
       wirst.‘ “ Er habe damals sein Einverständnis gegeben und gelacht: „Seid ihr
       verrückt? Mit wem sollen wir denn einen Krieg anfangen? Mit
       Außerirdischen?“
       
       ## 48 Stunden
       
       Knapp fünf Jahre später griff Russland die Ukraine an. Daniil erfuhr es am
       frühen Morgen des [4][24. Februar 2022], als er rund 2.000 Nachrichten in
       der Telegram-Gruppe seiner Freunde fand. „Ich fragte sie, was passiert sei,
       und sie antworteten: Der Krieg ist ausgebrochen.“ Auch Jahre später ist
       Daniil immer noch der Schock darüber anzumerken. Er sagt, die nächsten
       sechs Monate nach diesem Tag habe er überhaupt nicht mehr in Erinnerung. Er
       habe ununterbrochen die Nachrichten verfolgt, sich wie viele seiner Freunde
       vor Fassungslosigkeit zu Hause verschanzt und gleichzeitig immer wieder
       erlebt, wie nicht wenige Landsleute den Krieg feierten. Mit einigen
       nahestehenden Menschen habe er aus diesem Grund den Kontakt abbrechen
       müssen. „Seelisch war ich völlig deprimiert.“
       
       Im April sei er nach langer Zeit wieder in seiner alten Wohnung in
       Krasnodar gewesen. Im Briefkasten habe er ein Schreiben des
       Militärkommissariats gefunden, datiert vom 24. Februar: Er solle sich
       sofort dort melden und seine neue Adresse hinterlassen. Daniil wurde
       panisch, tauchte nicht mehr in der Wohnung auf.
       
       Als die Mobilisierung am 21. September verkündet wurde, schaute Daniil
       nach all den Jahren wieder in seinen Wehrpass – und fand darin den längst
       vergessenen Vermerk. „Dort stand, dass ich mich im Falle einer
       Mobilisierung innerhalb von zwei Tagen beim Militärkommissariat melden
       muss.“ Er bekam Angst und dachte: „Wenn mich ein Polizist anhält und meinen
       Wehrpass kontrolliert, dann werde ich sofort an die Front geschickt.“
       
       Ab diesem Moment tickte für Daniil die Uhr: „Ich habe nur an eines
       gedacht: dass ich 48 Stunden Zeit habe, um das Land zu verlassen.“ Keine
       Sekunde lang habe er gezögert, zu fliehen, gemeinsam mit einem Bekannten.
       Nach der Arbeit packte Daniil innerhalb einer Dreiviertelstunde einige
       Sachen zusammen, schnappte sich seinen Reisepass. Er fuhr zu seiner
       Familie, klingelte sie gegen 2 Uhr nachts aus dem Schlaf und sprach nur
       fünf Minuten mit ihr. „Ich sagte, dass alles in Ordnung sei und ich bald
       zurückkäme. Ich wollte nicht die Wahrheit sagen, denn sonst hätten sie mich
       überredet zu bleiben.“ Seit dieser Nacht hat Daniil seine Familie kein
       einziges Mal mehr gesehen.
       
       ## Georgien, Türkei, Deutschland
       
       Seit Kriegsbeginn 2022 haben schätzungsweise zwischen 600.000 und 1 Million
       Russen ihre Heimat verlassen, ein großer Teil davon sind junge Männer. In
       den ersten Tagen der Mobilisierung flohen besonders viele von ihnen. Nach
       Armenien, Kasachstan, Kirgistan. Und Georgien.
       
       Daniil und sein Bekannter hatten keinen Plan. Sie gaben „Tiflis“ ins Navi
       ein und fuhren los. Als sie in Wladikawkas, einer Stadt nahe der
       georgischen Grenze, ankamen, war bereits der nächste Tag angebrochen. Sie
       gerieten in einen Stau. „Die Polizei hielt alle Autos mit ortsfremden
       Nummernschildern an und fragten die Insassen, wo sie hinwollten.“ Auf die
       Schnelle sei Daniil nur eine angebliche Hochzeit eines Freundes
       eingefallen. „Der Polizist antwortete: Ja, ja, heute fahren sie alle zu
       einer Hochzeit.“ Er forderte Daniil auf, umzudrehen und wegzufahren. Mit
       ihm diskutieren wollte Daniil nicht: „An diesem Tag war alles chaotisch,
       es herrschte eine Art Gesetzlosigkeit.“
       
       Die beiden Männer lernten dann zufällig einen Taxifahrer kennen, der gegen
       viel Geld versprach, die zwei an die Grenze zu bringen. Auch dieses Mal
       wurden sie von der Polizei aufgefordert, wegzufahren. „Ich stand unter so
       viel Stress. Ich war schon bereit, aufzugeben.“ Doch dann schlug der
       Taxifahrer eine andere, weniger befahrene Route vor. Gegen 1 Uhr nachts
       überquerten Daniil und sein Bekannter endlich die Grenze.
       
       In Georgien traf Daniil andere Bekannte. Sie hatten zu dem Zeitpunkt eine
       Telegram-Gruppe mit etwa 300 Mitgliedern, in der sie über mögliche
       Fluchtwege nach Georgien informierten. Daniil teilte seine Route und die
       Telefonnummer des Taxifahrers, verbrachte die ersten Tage ausschließlich
       damit, mit Menschen zu chatten, die noch auf der Flucht waren. „Wir haben
       mindestens zehn Menschen zur Flucht verholfen. Nach einiger Zeit konnten
       wir das allerdings nicht mehr tun, weil wir keine aktuellen Daten und
       Routen mehr hatten.“
       
       Stattdessen begannen sie damit, in der Gruppe über kriegsbezogene Fake News
       aufzuklären. Es dauerte nicht lange, bis Daniil von seinem Cousin, der
       noch in Daniils Heimatstadt lebte, die Nachricht erhielt, dass örtliche
       Behörden und sogar der FSB sich für Daniil interessieren würden. Seine
       Familie wurde von der Polizei aufgesucht. „Sie sagte, dass ich nach meiner
       Rückkehr strafrechtlich verfolgt werden würde.“ Daniils Vater habe gesagt:
       „Denk an uns, wir werden uns für dich verantworten müssen.“ Gleichzeitig
       habe er immer mehr hasserfüllte und drohende Kommentare auf Social Media
       erhalten. Ein Mann habe sogar geschrieben, dass er Anzeige gegen Daniil
       erstattet habe. Daniil schränkte den Kontakt zu seiner Familie ein, um sie
       zu schützen. Und erkannte, dass er in Russlands Nachbarland nicht mehr
       sicher war.
       
       Im Dezember 2022 floh Daniil weiter in die Türkei und flog von dort
       Richtung São Paulo. Zwischenstopp: Frankfurt. Nach EU-Recht können
       russische Bürger einen Flughafen in der EU nutzen, wenn sie einen
       Interkontinentalflug machen. In Frankfurt stellte sich Daniil der Polizei
       und sagte: „Asyl.“
       
       ## Ist Daniil gefährdet?
       
       Er kam in eine Unterkunft in Gießen, wo er viele andere russische
       Geflüchtete traf. Im März 2023 wurde er dann weiter ins bayrische Kulmbach
       geschickt, gleichzeitig wurde sein Asylantrag bearbeitet. Im Juni 2024
       wurde der Antrag jedoch abgelehnt.
       
       Das entsprechende Schreiben des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
       (Bamf) liegt der taz vor. Darin steht, dass Daniil seine Geschichte zwar
       ausführlich belegen konnte. Allerdings bestünden Zweifel, inwiefern sein
       politischer Aktivismus negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte,
       sollte er nach Russland zurückkehren. Außerdem bestünde keine besondere
       Gefährdung, denn: „Es handelt sich beim Antragsteller um keinen bekannten
       Politiker, Journalisten, Blogger, Menschenrechtler.“ Auch die
       Wahrscheinlichkeit einer Einberufung wird infrage gestellt.
       
       Als Daniil diese Zeilen las, habe er dies kaum glauben können und fühlte
       sich wie gelähmt. „Ein paar Monate lang lag ich einfach nur da und starrte
       die Decke an.“ Er kennt viele andere Russen, die Asyl erhalten hatten. Die
       meisten sind deutlich unpolitischer als er – und daher wahrscheinlich auch
       weniger gefährdet. Er sei sich sicher gewesen, dass er Asyl erhalten würde.
       
       ## Die Empfehlung des Bundesamts: Korruption
       
       Die Argumentation des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge kann er
       nicht nachvollziehen. Unter anderem steht im Ablehnungsschreiben, dass es
       Möglichkeiten für ihn gegeben hätte, den Dienst zu umgehen, etwa durch
       Korruption. Ihn mache es „wahnsinnig“, dass ein deutsches Ministerium so
       etwas normalisiere. „Mit jedem Rubel, mit dem ich mich hätte freikaufen
       können, hätte ich das System unterstützt und für die Raketen bezahlt, die
       in der Ukraine fallen.“ Die Wut darüber sei in ihm so groß gewesen, dass er
       es damals nicht einmal versucht hatte. „Korruption ist ein Glücksspiel:
       Heute geht es gut, morgen schon nicht mehr.“
       
       Er fragt sich: Was wäre mit ihm passiert, hätte das Schmiergeld doch nicht
       gereicht? „Wenn dir jemand eine Waffe an den Kopf hält und dich zwingt,
       etwas zu tun, kannst du natürlich ‚Nein‘ sagen. Aber dann wirst du halt
       umgebracht.“
       
       Daniil sagt, 95 Prozent der russischen Geflüchteten, die er kennt,
       erhielten kein Asyl. Die aktuellen Zahlen sagen so ziemlich das Gleiche
       aus. Und auch Experten, die sich mit Deutschlands Umgang mit russischen
       Geflüchteten befassen. Einer davon ist Artem Klyga. Er berät seit Jahren
       russische Männer, die niemals eine Waffe halten wollen. Der Jurist ist
       spezialisiert auf Militärrecht, in Moskau half er jungen Männern dabei, den
       allgemeinen Wehrdienst auf legale Weise zu umgehen, etwa durch einen
       Zivildienst.
       
       Seit März 2025 arbeitet Klyga für [5][Connection e. V.] Der Verein aus
       Offenbach am Main steht der Friedensbewegung nahe und unterstützt vor allem
       Deserteure. Klygas Aufgabe besteht darin, Menschen aus postsowjetischen
       Ländern zu beraten, die vor dem Krieg geflohen sind und in Deutschland Asyl
       suchen. Die Ablehnungsschreiben des Bundesamts für Migration und
       Flüchtlinge kennt er inzwischen auswendig.
       
       Die Formulierungen seien „schablonenhaft“: „Das Bamf vertritt seit Langem
       den Standpunkt, dass es in Russland keine Mobilisierung mehr gibt und dass
       die allgemeine Wehrpflicht das Risiko der Einberufung nicht erhöht.“ Klyga
       hat das Bundesamt mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass eine
       Mobilisierung tatsächlich nach wie vor besteht. „Es wird erst dann keine
       Mobilisierung mehr geben, wenn der Krieg vorbei ist.“
       
       Erst im März dieses Jahres wurden wieder 160.000 wehrpflichtige Männer
       eingezogen. Am Krieg nehmen offiziell nur Vertrags- und Zeitsoldaten teil,
       allerdings gibt es Berichte darüber, dass auch Wehrpflichtige im russischen
       Grenzgebiet kämpfen.
       
       ## Welche Gründe sind genug?
       
       Welche Gründe sind hinreichend für das Bamf, um von einer potentiellen
       Verfolgung und Bestrafung russischer Männer ausgehen zu können, sollten
       diese zurückkehren? Weshalb erhalten viele von ihnen einen negativen
       Asylbescheid? Die taz hat das Bamf mit diesen Fragen konfrontiert. Die
       Antwort ist vage: Es handele sich immer um eine Einzelfallprüfung.
       
       Klyga ist im September 2022 selbst aus Angst vor einer [6][möglichen
       Einberufung] geflohen. Die Polizei sei besonders darauf bedacht gewesen,
       ihn und zwei seiner Kollegen an die Front zu schicken. Kurz nach
       Kriegsbeginn hatte Klyga eine öffentliche Erklärung gegen den Krieg
       unterzeichnet.
       
       Der Jurist nahm zehn verschiedene Züge quer durch Kasachstan, nach einer
       Woche kam er in Taschkent, der usbekischen Hauptstadt, an. Georgien
       erschien ihm zu gefährlich: „Damals gab es dort viele politische
       Aktivisten. Ich wollte nicht dort sein, wo es russische Spione und
       Sicherheitsdienste geben könnte.“ Zudem ist Usbekistan weiter von Russland
       entfernt.
       
       Im Februar 2023 beantragte Klyga mithilfe einer Menschenrechtsorganisation
       ein humanitäres Visum für drei Jahre bei der deutschen Botschaft. Seit März
       2023 lebt er in Deutschland. Klyga ist ein Sonderfall, nur wenige Russen
       haben Anspruch auf so ein Visum. Meist handelt es sich dabei um
       Oppositionelle oder Menschenrechtler wie Klyga.
       
       „Deutschland hat viel für die Russen getan, die wegen des Kriegs geflohen
       sind“, sagt der Militärrechtsexperte. „Kein anderes Land hat so viel für
       russische Geflüchtete getan – noch dazu bereits kurz nach Kriegsbeginn, als
       es kaum jemandem in den Sinn kam, ausgerechnet jetzt den Russen zu helfen.“
       
       Dennoch kritisiert er das Asylverfahren. Die Position des Bamf sei
       politisch motiviert. Und hinsichtlich der Deserteure gäbe es überhaupt
       keine Anstrengungen. Im Gegensatz zu den Tausenden Männern wie Daniil, die
       noch vor dem Einzug geflohen sind, wagen auch immer wieder aktive Soldaten
       die Flucht vor der Front. „Wir reden hier von nicht einmal hundert
       Menschen. Als wir im Jahr 2023 damit begannen, das Thema groß zu machen,
       befand sich die damalige deutsche Regierung in einer Krise. Es gab keinen
       Raum, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen.“ Er bezweifelt, ob die neue
       Regierung sich mit dem Problem befassen wird.
       
       Aktuell stellt lediglich Frankreich Reisepapiere für russische Überläufer
       aus. Gleichzeitig gibt es immer mehr Länder, etwa Armenien und Kasachstan,
       die einst viele Russen aufnahmen und diese jetzt abschieben. Auch
       Deutschland schiebt – wenn auch nur vereinzelt – russische Geflüchtete ab.
       
       ## Auf keinen Fall zurück
       
       Nach dem Ablehnungsschreiben und der monatelangen Schockstarre hat Daniil
       mit seinem Anwalt Berufung eingelegt. Bis zu drei Jahre lang könnte das
       weitere Verfahren dauern. Daniil hofft, dass er gewinnt. Im Januar dieses
       Jahres hat das Berliner Verwaltungsgericht entschieden, dass russische
       Wehrpflichtige einen Anspruch auf Schutz haben. Mehrere Personen hatten
       gegen die negative Asylentscheidung des Bamf geklagt.
       
       Sollte er dennoch kein Asyl erhalten, würde er andere Wege versuchen: zum
       Beispiel, indem er eine Ausbildung beginnt. Seit Oktober letzten Jahres
       arbeitet er als Kurierfahrer, mit dem Geld bezahlt er seinen Anwalt und
       einen B2-Sprachkurs. Zurück nach Russland will Daniil auf keinen Fall. Er
       kennt einige Russen, die nach einer Ablehnung freiwillig zurück in die
       Heimat gegangen sind. Außer stundenlanger Verhöre hätte es keine
       Konsequenzen für sie gegeben.
       
       Allerdings seien das alles Leute gewesen, die zuvor sehr unauffällig, also
       unpolitisch, gelebt hätten. „Ich hingegen habe an Kundgebungen teilgenommen
       und in den sozialen Medien kritische Dinge über die Regierung geschrieben.
       Es gibt sogar mehrere Posts von mir, in denen ‚Ruhm der Ukraine‘ steht.“
       Dass es nur leere Drohungen seien, die seine Familie erhalten hat, glaubt
       er nicht.
       
       Nach dem Gespräch verlässt Daniil das Café und steigt in den Lieferwagen,
       mit dem er morgen wieder durch die bayerische Provinz fahren wird. Er wird
       Pakete austragen und dabei ein wenig Smalltalk führen. Und sollte sich dann
       jemand, wie so oft, nach der Herkunft seines Akzents erkundigen, wird
       Daniil vielleicht seine Geschichte erzählen.
       
       12 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Maria Mitrov
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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