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       # taz.de -- Russische Partynacht in Hamburg: Alles völlig delulu
       
       > Auf der Reeperbahn werden regelmäßig „Russische Nächte“ gefeiert: mit
       > Wodka, Patriotenpop und ukrainischen Gästen auf derselben Tanzfläche.
       
   IMG Bild: Um Politik geht's hier nicht. Na dann: Nastrovje!
       
       Um Viertel vor elf sieht es noch nicht so aus, als würden es viele werden.
       Nur drei Menschen warten vor dem Club The Plane in Hamburg, in dem die
       Party eigentlich gleich losgehen soll. „Wir fangen ein bisschen später an“,
       erklärt der Türsteher den Wartenden auf Russisch und lässt nur zwei Typen
       rein, die Getränkekisten mit Wodka in den Laden tragen.
       
       Aber dann füllt sich die Schlange. Eine Gruppe Frauen kommt dazu, ein
       junges Pärchen, mehrere Männertrüppchen. Auf den ersten Blick haben die
       Menschen hier wenig miteinander gemein: Die Altersspanne reicht schon jetzt
       von 18 bis Ende 30 und während die einen teure Taschen und Gürtel tragen,
       kommen andere im Jogginganzug. Was sie dennoch eint: Alle sprechen auf
       Russisch miteinander.
       
       Als sich etwas mehr als 20 Leute vor dem Club angesammelt haben, ist
       endlich Einlass. The Plane ist eine mittelmäßige Location, die, wenn man
       von der Reeperbahn kommt, direkt am Anfang der Großen Freiheit liegt. Mit
       Lounge-Bereichen, glänzenden Oberflächen und rotem Licht soll die
       Atmosphäre eines teureren Clubs imitiert werden. Bisher war der Laden vor
       allem für Latino-Nights bekannt, jetzt ist dort eben auch Russendisko.
       Live-Auftritte finden nicht statt und auch sonst stehen keine großen
       musikalischen Experimente auf dem Programm, sondern es gibt leicht
       verdaulichen Party-Pop. Der Club hat nicht den Anspruch, besonders
       einzigartig zu sein, und ist gerade [1][deshalb sehr Reeperbahn.]
       
       Die Musik macht heute DJ Amada. Der Russe legt schon seit 24 Jahren auf und
       spielt überwiegend russischsprachige Hits der 90er und 2000er Jahre. Eine
       Frau um die 40 mit wasserstoffblonden, toupierten Haaren und durchsichtigem
       Oberteil betritt als Erste die Tanzfläche, um zu einem Song ihrer Jugend
       zu tanzen. Ihr Begleiter macht Videos von ihr, während sie sich wild mitten
       im Rauch der Nebelmaschine bewegt.
       
       ## Offene Türen für alle
       
       Inzwischen füllt sich der Club sehr schnell. Noch vor zwölf sind die ersten
       hundert Gäste da, im Laufe des Abends werden es an die dreihundert. Die
       meisten sind Russ:innen, [2][aber auch Ukrainer:innen],
       Zentralasiat:innen oder Menschen aus Belarus sind dabei. Die Türsteher
       lassen ungeachtet des Outfits, Geschlechts oder Alters alle rein. Draußen
       bleiben muss nur, wer schon zu betrunken ist oder Alkohol reinschmuggeln
       will.
       
       Deshalb drängen die Gäste, sobald sie drin sind, an die Bar in der Mitte
       des Clubs. Dort wartet gerade zum Beispiel ein Mann Mitte vierzig, der
       erzählt, dass er aus Kyjiw kommt. Seine Familie sei aufgrund des Krieges
       nach Hamburg gezogen, er besuche sie manchmal hier und pendele dafür
       zwischen Deutschland und der Ukraine. „Es ist komisch, hier zu sein. In der
       Ukraine höre ich Sirenen, hier Musik. Aber man gewöhnt sich an beides.“
       
       Noch musste er überraschenderweise [3][nicht in die Armee]. Aber wenn doch?
       „Ich will es natürlich nicht, aber ich würde kämpfen“, sagt er und wendet
       sich seiner jungen Begleitung zu, die argwöhnisch begutachtet, mit wem er
       sich unterhält.
       
       Ein Junge, der höchstens 20 sein kann, bezahlt jetzt seine Shots mit einem
       200-Euro-Schein. Das Barpersonal wirkt nicht überrascht. „Kann kurz
       dauern“, heißt es nur knapp. Während er wartet, lässt er sich auf ein
       kurzes Gespräch ein. Er spricht Deutsch, aber mit gut hörbarem russischen
       Akzent. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, habe immer hier gelebt“,
       versichert er trotzdem.
       
       ## Es geht um Musik und Spaß
       
       Für die Russian Night sei er extra nach Hamburg gefahren, in seiner
       Heimatstadt gebe es so etwas leider noch nicht. Wie er es finde, gerade auf
       Russisch zu feiern, wenn die politische Situation so schwierig ist? „Oh
       mein Gott, das ist doch Politik – wir sind hier am Feiern!“, sagt er und
       wendet sich lachend ab zu seinen Freunden. Kurz danach kommt er doch noch
       einmal wieder, um die leeren Shotgläser wegzubringen. „Weißt du, es geht
       hier um mehr als Politik. Es geht um die Musik und Spaß. Geh mal tanzen!“
       
       Auf der Tanzfläche versucht eine junge Frau gerade, einen Mann abzuwimmeln,
       der sicher doppelt so alt ist wie sie. Daneben beratschlagen sich ihre
       Freundinnen, ob sie ihr wohl zur Seite springen sollten. „Du bist
       Ukrainerin?“, fragt der Mann mehrere Male, und sie nickt, aber er fragt es
       immer wieder. Als er endlich von ihr ablässt, sieht sie erleichtert aus.
       Sie heißt Olha und ist 22 Jahre alt. Kurz nach Ausbruch des Krieges floh
       sie aus ihrer Heimatstadt Charkiw nach Hamburg, auch ihre beiden
       Freundinnen Diana und Veronika sind Ukrainerinnen. „Wir lernen noch
       Deutsch, vor kurzem haben wir A2 bestanden“, sagt Veronika.
       
       Es ist nicht ihre erste Russian Night in Hamburg. Angesichts des Krieges
       fühle es sich für sie aber schon manchmal ein bisschen komisch an.
       „Manchmal habe ich sehr schlechte Gefühle gegenüber Russ:innen“, sagt
       Veronika. Warum sie trotzdem hier sind? Alle drei wissen offenbar nicht so
       richtig, was sie sagen sollen, und es fühlt sich falsch an, diese Frage
       überhaupt zu stellen. Warum sollten sie auch nicht?
       
       ## Noch nie erlebt, dass wegen Krieg gestritten wurde
       
       Das ist auch die Ansicht des Veranstalters der Russian Nights Hamburg. Er
       ist offenbar misstrauisch gegenüber Medien und möchte nicht namentlich
       genannt werden. Auch seine „ganz eigene Meinung zum Krieg“ möchte er nicht
       preisgeben. Ja, er sei Russe – aber in Bezug auf die Russian Night vor
       allem Geschäftsmann. Und es gehe bei der Party nicht darum, ein politisches
       Statement zu setzen, sondern in Hamburg gebe es einfach eine große
       Nachfrage nach dem Format.
       
       „Ich mache Veranstaltungen für viele verschiedene Zielgruppen und bei
       meinen Partys sind alle willkommen“, erklärt er. „Ich habe noch nie erlebt,
       dass Gäste sich über den Krieg gestritten haben und das soll auch so
       bleiben.“ Zudem arbeite er mit Menschen zusammen, die ukrainische Partys in
       Hamburg organisieren würden, und helfe ihnen mit der Werbung.
       
       Die Bewerbung für die Russian Night läuft über Social Media. Fast 19.000
       Follower zählt der [4][Instagram-Account „russian.night.hamburg“] schon. Es
       ist schwer zu sagen, ob sie alle echt sind, aber die Posts bekommen
       immerhin hunderte bis tausende Likes. Dort fand sich auch das Werbebild für
       die Party am 8. März: Eine blonde Frau mit tiefem Ausschnitt steht vor der
       Silhouette Russlands, die in den Farben der russischen Nationalfahne
       erstrahlt. Auf die Frage, warum er diese Bildsprache gewählt habe, reagiert
       der Veranstalter und Accountbetreiber abwehrend. „Ich habe eigentlich gar
       nicht so einen großen Bezug zu Russland, das Bild soll einfach nur direkt
       zeigen, worum es geht: russische Party zum Frauentag.“
       
       Hier auf der Reeperbahn wird der Internationale Frauentag, der in Russland
       ein Feiertag ist, mit ein paar rosa Luftballons und einer Tänzerin im
       knappen Badeanzug gefeiert, die kurz nach Mitternacht auf den Tresen steigt
       und sich lasziv hinter einem Fächer aus Federn bewegt.
       
       ## Wer ist denn Nawalny?
       
       Svetlana schaut ihr von einer Bank aus zu. Sie ist Ende 30, trägt ein
       kurzes rotes Kleid und Schuhe mit etwa zehn Zentimeter hohen Absätzen –
       schätzt sie selbst. Sie ist Russin und schon vor 23 Jahren nach Deutschland
       gekommen. „Mein Opa war Jude, deshalb ging das.“ Am Anfang war es hier sehr
       gut, sagt sie. Aber „nach Schröder und dem Ende der D-Mark“ sei es immer
       schlechter geworden. Genauer erklären will sie das nicht.
       
       „Ich bin mir nicht sicher, ob Russland eine bessere Alternative wäre“,
       überlegt sie laut. „Mein Bruder lebt in St. Petersburg und seit dem Krieg
       hat sich schon einiges verändert. Aber das ist auch in Deutschland der
       Fall. Die Leute hier mögen Russen nicht und lassen uns das spüren.“ Ob
       Ereignisse wie der Tod von Nawalny sie nicht von Russland abschrecken
       würden? „Wer?“ Svetlana schaut mit glasigen Augen in Richtung ihrer
       Freundin, die gerade mit ein paar Jungs Anfang 20 redet. Nawalny! – „Ach,
       der.“ Sie nickt auf. „Ich glaube nicht, dass er tot ist. Wahrscheinlich ist
       er auf Bali oder so untergetaucht und lebt ein schönes Leben.“ Sie lächelt
       und schließt kurz die Augen.
       
       DJ Amada ist inzwischen bei etwas moderneren Songs angekommen. Gerade läuft
       Verka Serduchka – ein ukrainischer Travestiekünstler, der [5][durch den
       Eurovision Song Contest bekannt wurde] und in Russland schon seit 2013
       Auftrittsverbot wegen „Homo-Propaganda“ hat. Seit dem russischen
       Angriffskrieg setzt er sich auf seinen Konzerten klar für das
       Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein, beteiligt sich an Spendenaktionen
       und spielte für ukrainische Soldaten.
       
       ## Man muss sich das leisten können
       
       Gerade mal zwei Songs später kommt der Titel „Ich bin Russe“ des
       ultrapatriotischen russischen Sängers Shaman. Dieser gilt als
       [6][Hofmusikant des Putin-Regimes], unterstützt den Krieg gegen die Ukraine
       ausdrücklich und gab im Januar 2023 auch selbst Konzerte für russische
       Soldaten in den besetzten ukrainischen Gebieten Luhansk und Mariupol.
       
       Das scheint die Menge nicht zu stören. Ausgelassen grölen die
       russischstämmigen Feiernden bei dem Song mit, der nur ein halbes Jahr nach
       Beginn des Krieges veröffentlicht wurde: „Ich bin Russe, ich gehe bis zum
       bitteren Ende / Ich bin Russe, mein Blut ist das meines Vaters /…/ Ich bin
       Russe, der ganzen Welt zum Trotz / Ich bin Russe!“
       
       Das ganze Spektakel ist, wie man auf TikTok sagen würde, völlig delulu. Das
       bedeutet so viel wie: wahnhafter Realitätsverlust. Und wahrscheinlich ist
       es genau das, was sich die meisten Menschen von einem Freitagabend auf der
       Reeperbahn wünschen. Aber auch etwas, das man sich leisten können muss.
       Nicht alle Menschen können den Krieg gedanklich einfach so beiseiteschieben
       – weil er für sie nicht „nur Politik“ als abstrakte Entität, sondern ihre
       eigene, ganz konkrete Lebensrealität darstellt.
       
       18 Mar 2024
       
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   DIR [4] https://www.instagram.com/russian.night.hamburg/
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=hfjHJneVonE
   DIR [6] /Internationales-Kulturforum-in-Russland/!5970201
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marta Ahmedov
       
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