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       # taz.de -- Russlands Defensive in der Ukraine: Die neuen Euphemismen
       
       > Russische Politiker*innen, Militärexperten und TV-Propagandist*innen
       > ringen um Erklärungen. Von Niederlage und Rückzug sprechen sie nicht.
       
   IMG Bild: Russland feiert weiterhin seine russischen Jungs, die sich für die Sicherheit des Landes opfern
       
       Moskau taz | Plötzlich ist „Krieg“ im russischen Staatsfernsehen. Die
       „militärische Spezialoperation“, wie Russland seinen Überfall auf die
       Ukraine seit vergangenem Februar euphemistisch bezeichnet, hat sich fast
       unmerklich aus dem Wortgebrauch der Propagandist*innen zurückgezogen.
       „Woina“, sagt ein Soldat von der Front im Donbass, den ein Reporter des
       Staatssenders Rossija 1 in seinem Beitrag zeigt. „Woina“, meint ein
       Fraktionsvorsitzender der Duma in einer Talkshow des staatsnahen Senders
       NTW. Krieg.
       
       Ein Wort, das zu gebrauchen im Russland dieser Tage Strafermittlungen nach
       sich ziehen könnte. Doch seit der [1][russischen Defensive] in der Ukraine
       am vergangenen Wochenende ringt das Land samt seinen ultrapatriotischen
       Politiker*innen, nationalististischen Militärexperten und gehässigen
       Fernsehpropagandist*innen um Erklärungen. „Lebensbedrohlich“,
       „extrem gefährlich“, „Krieg ist eben Krieg“, heißt es in den Blogs und den
       TV-Sendungen.
       
       Von Niederlage und Rückzug sprechen sie freilich nicht. Dafür hat das
       russische Verteidigungsministerium andere Euphemismen in die Welt gesetzt.
       Im Gebiet Charkiw finde eine „Operation zur Verringerung und organisierten
       Verlegung der Truppen“ statt, sagt der Ministeriumssprecher Igor
       Konaschenkow wie üblich roboterhaft. „Umgruppierung“ ist das neue
       Schlagwort, wenn es um die russische Strategie an der Front geht, die
       natürlich nicht „Front“ heißt. Diese sei nötig, um das „Ziel der
       „Spezialoperation“ zu erreichen: die „Befreiung des Donbass“.
       
       Der Kreml-Sprecher [2][Dmitri Peskow] sagte am Montag, die
       „Spezialoperation“ werde so lange fortgesetzt, bis die „erklärten Ziele“
       erreicht seien. Das Verteidigungsministerium redet von „schweren Verlusten“
       der Ukrainer, nennt Zahlen gefallener Soldaten und verlorener Technik des
       „Feindes“. Was der offenbar hastige Rückzug der russischen Armee aus dem
       Gebiet Charkiw für Russland bedeutet, sagt offiziell niemand.
       
       ## „Business as usual“
       
       Es herrscht „Business as usual“, die russische Führung gaukelt den Menschen
       Normalität vor. Seit Beginn seiner „Spezialoperation“ hat Russlands
       Präsident Wladimir Putin eine Art Trennung gemacht: Hier der gewohnte,
       ruhige Alltag der Menschen in Russland, dort die „Aufopferung“ russischer
       „Jungs“, um „die Sicherheit des Vaterlandes zu schützen“. So ist sein
       Schweigen zu den russischen Misserfolgen auch jetzt zu sehen – als sei
       nichts passiert. Als seien die Fehlschläge lediglich Ausreißer in einer
       nach Plan verlaufenden Operation. Zu vernachlässigen also.
       
       Dafür reden andere. Und das fast schon hysterisch. Das Image des großen,
       mächtigen Russland sei in Stücke gerissen, schreibt etwa der
       nationalistische Journalist Jegor Cholmogorow in seinem Telegram-Kanal. Die
       ruhmreiche russische Armee sei gedemütigt, die Menschen im Donbass seien
       verraten worden. Ein Telegram-Nutzer namens „Spion, dem niemand schreibt“
       nennt die „Ereignisse in Charkiw“ eine „Katastrophe“. Es sei eine
       „verbrecherische Verantwortungslosigkeit“ derer, die das befohlen hätten.
       
       Manche fordern die Verhaftung von Generälen wegen Hochverrats, andere
       schreiben von „taktischen Nuklearschlägen auf westliche Gebiete der
       Ukraine“. Für eine Kapitulation würden „vier bis fünf davon“ reichen, meint
       der Blogger Roman Romanow. Nach dem ersten würde die ukrainische Führung
       „laut aufheulen“, nach dem zweiten „nachdenklich werden“. „Zudem würden wir
       damit eine Sperrzone mit Nato-Staaten erschaffen.“
       
       Die Propagandist*innen hätten ein „blutrünstiges Monster“ erschaffen,
       da sie erst mit Begeisterung die Vernichtung der Ukraine forderten und nun
       die Erhängung russischer Generäle, sagt der russische Blogger Ilja
       Warlamow.
       
       Der Ton in den russischen TV-Sendungen hat sich geändert. Plötzlich sind
       längst vergessene liberal eingestellte Politologen zu Gast in den
       Talkshows, die den Zuschauer*innen erklären, dass Russland einen
       „Kolonialkrieg“ führe und damit sich selbst kaputtmache. Selbst
       Scharfmacher wie Dmitri Kisseljow, Leiter der staatsnahen Medienholding
       [3][Rossija Segodnja], klingen fast erschöpft. „Eine unfassbar harte Woche
       war das“, sagt er im sonntäglichen Wochenrückblick „Westi Nedeli“. „Wir
       kämpfen“, wird dazu eingeblendet, was im Russischen gleichbedeutend ist mit
       „Wir rackern uns ab“.
       
       Bei „60 Minuten“ im Staatssender Rossija 1 versucht die Moderatorin Olga
       Skabejewa die Lage schönzureden. „Nichts Übernatürliches“ sei bei Charkiw
       passiert. „Es ist nur sehr ernst, und wir machen uns Sorgen.“ Wladimir
       Solowjow erinnert derweil an die „schwierige männliche Arbeit einer
       Spezialoperation“ und meint: „Alle Panikmacher gehören erschossen. Wie bei
       Stalin.“
       
       12 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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