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       # taz.de -- Schau in der Kunsthalle Baden-Baden: Unsichtbare Gegner
       
       > „Fragmente einer Berührung“ von Valie Export. Ein kongenialer
       > künstlerischer Kommentar zum Leben unter Corona.
       
   IMG Bild: Ontolog Sprung Arm von Valie Export
       
       Was den Lockdown schwermacht, ist ein Mangel an körperlicher Berührung, ein
       Mangel an Teilnahme. Unverhoffte, unmittelbare sinnliche Berührung ist
       Mangelware geworden. Schon deshalb dürfte eine Ausstellung, die das Wort
       Berührung im Titel führt, auf Interesse stoßen. Die Medienkunstpionierin
       Valie Export interessiert sich jedoch nicht seit erst 2020 für diesen
       Begriff, sondern seit einem halben Jahrhundert.
       
       Die Kunsthalle Baden-Baden, seit den 60er Jahren immer wieder ein Ort alter
       und neuer Avantgarden, lud die Künstlerin noch vor Beginn der Pandemie zu
       einer Ausstellung ein, und sogar der Titel „Fragmente einer Berührung“
       stand bereits fest, bevor Social Distancing in den Wortschatz der
       Allgemeinheit getreten ist.
       
       Eines der Hauptwerke von Valie Export, die Installation „Fragmente der
       Bilder einer Berührung“ (1994), steht am Anfang und Ende des Rundgangs
       durch mehr als drei Jahrzehnte künstlerischer Forschung an den Rändern des
       Sagbaren, Ausdrückbaren, des vom Stereotyp abweichenden. Diese saalfüllende
       Installation schockiert durch ihre kühle Mechanik, die nur allein durch
       kleine sinnliche Sensationen gemildert wird.
       
       Achtzehn Glühbirnen tauchen in achtzehn Glaskolben, tauchen in Wasser, in
       Milch und in Altöl. Die Szenerie ist düster, aber von leiser Erhabenheit,
       denn im Wasser leuchtet das Licht und wirft fein ziselierte
       Schattenchoreografien auf den Boden, in der Milch verwandelt sich das Licht
       in einen opaken Körper, im Altöl verdüstert es sich und erlischt.
       
       Die Kurator:innen Hendrik Büntge und Luisa Heese schreiben im Begleitheft
       von einem „körperlosen Beischlaf“, der hier zur Anschauung käme. Valie
       Export habe sich bei dieser Arbeit von Roland Barthes „Fragmente(n) einer
       Sprache der Liebe“ anregen lassen. Der Philosoph ging sprachlichen, meist
       literarischen Figuren der Liebe in ihren mannigfaltigen Ausprägungen nach,
       in der deutschen Ausgabe von A wie Abhängigkeit bis Z wie Zugrundegehen.
       
       ## Spiegelungen und mediale Verschiebungen
       
       Die alphabetische, lexikalische Ordnung des Textes ist als Instrument der
       Distanzierung zu verstehen, wie er selbst in der Einleitung schreibt, das
       emotionale Bewegung wie Eifersucht und Hingerissenheit mit größerer Schärfe
       voneinander trennt.
       
       Spiegelungen, mediale Verschiebungen, Objektivierung des Blicks durch das
       Auge des Fotoapparats oder der Filmkamera sind die Mittel, die sich Valie
       Export über die vielen Jahre angeeignet und verfeinert hat, in denen sie in
       Wien noch nicht als Künstlerin akzeptiert war. Sie wurde 1940 in Linz unter
       dem Namen Waltraut Lehner geboren.
       
       Seit Mitte 60er Jahre arbeitet sie in Wien, wie es in ihrem Lebenslauf
       heißt, als Scriptgirl, Filmkomparsin und Fotomodell, war Gründungsmitglied
       der Austrian Filmmakers Cooperative und des Wiener Instituts für direkte
       Kunst. Sie realisierte zusammen mit Peter Weibel Filme und Aktionen, wie
       das „Tapp- und Tastkino“, bei dem die Künstlerin einen Kasten mit Vorhang
       vor die Brust geschnallt hatte, in den Passanten hineingreifen und bei
       Blickkontakt ihre Brust abtasten durften.
       
       Mit Berührung ist nicht allein körperliche Berührung gemeint. Es geht um
       die Berührung zwischen den Medien, zwischen den Entitäten, also dem, was
       körperlich oder als abstrakte Vorstellung existiert. Berührung findet bei
       Valie Export in den Zwischenräumen statt, als Spannung, und an den
       Bruchkanten der Medien. Es gehe eher um „den Körper als Denkfigur“, sagen
       die Kurator:innen.
       
       Das klingt abgeklärt, ist aber nicht so gemeint. Im Rückblick erscheint die
       Medienkunst von Valie Export durchpulst von stummer Intensität, die sich
       bis heute mitteilt. Die Härte, Radikalität, die Gleichgültigkeit, mit der
       Valie Export ihre Versuchsanordnungen in Szene setzt, gehen unter die Haut.
       Die distanzierte Verhandlung sensibler Themen spricht eine deutlichere
       Sprache als ein emotionaler Ausbruch.
       
       Das gilt für ihre frühe Performance „Hyperbulie“, in der die Künstlerin
       nackt durch einen Parcours kriecht, der aus unter Strom stehenden Drähten
       besteht. Das gilt aber auch für die Installation „Nadel“ aus dem Jahre
       1996, in der drei ins Gigantische vergrößerte Nähnadeln, betrieben durch
       eine mechanische Apparatur, zu ohrenbetäubendem Lärm auf und nieder zucken.
       
       Das Motiv der Nadel geht auf eine Aktion aus dem Jahre 1970 zurück. Damals
       hatte sie sich einen Strumpfhalter, ein Relikt erotischer Obsession, auf
       den Oberschenkel tätowieren lassen. Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen einen
       weiblichen Akt mit ebendiesem Tattoo, sie zeigen lebendige Haut und das
       aufreizende Bild, eingeschrieben mit einer Nadel, das für die
       Objektivierung des weiblichen Körpers stehen soll.
       
       Das Werk von Valie Export, das sich in kreisenden Bewegungen über vier
       Jahrzehnte ausdifferenziert hat, [1][ist geprägt von einer feministischen
       Perspektive], die sich in ihren medialen Experimenten immer neu und anders
       bricht.
       
       Noch in den 90er Jahren hatte die Künstlerin gegenüber der Autorin die
       feministische Komponente ihrer Arbeit heruntergespielt, um die
       Aufmerksamkeit auf die medientheoretische Ebene ihres Werks zu lenken. „Ich
       war nie Teil der Frauenbewegung“, schrieb sie wahrheitsgemäß. Im Alter von
       80 Jahren freute sie sich über das Interesse einer jungen Generation an
       ihrem feministischen Werk und den Wunsch, Arbeiten zu zeigen, die selten
       oder noch gar nicht zu sehen waren.
       
       Zum Beispiel ihre erste filmische Selbstdarstellung, „Selbstporträt mit
       Kopf“ von 1966/1967. Die Künstlerin reibt ihre Wange sanft am Antlitz einer
       Göttinnen-Statue und wird zu einer Hanna Schygulla der Kunst, hart und
       weich zugleich. Die zaghafte Berührung verkörpert die nicht enden wollende
       Macht männlicher Projektion weiblicher Schönheit, der Frauen nur schwer
       entrinnen können.
       
       ## Die Architektur wird körperlich ausgemessen
       
       Solche fast melodramatischen Momente erlangen in der Baden-Badener Schau
       aber nicht die Oberhand. Sie ergänzen vielmehr den betont sachlichen Stil,
       den Valie Export mit ihren frühen Aktionen, Untersuchungen zwischen Körper
       und Sprache oder zur zwischengeschlechtlichen Kommunikation, etabliert hat.
       
       Auch in den „Körperfigurationen“ aus den 70er Jahren ist der Körper das
       Medium, das Fühlung aufnimmt, mit der Architektur, der Straße oder einer
       Landschaft. Das Außen wird körperlich ausgemessen und neu bestimmt – sei es
       eine Dünenlandschaft oder ein Autobahnpfeiler.
       
       In der Baden-Badener Ausstellung steht der zirkuläre Charakter des Werks
       von Valie Export im Mittelpunkt und bietet somit einen Extrakt ihrer
       vielen medialen Körpererkundungen. Die Schau macht deutlich, wie
       vielgestaltig ein feministisches, medienreflexives Werk sein kann. Wer viel
       Zeit mitbringt, kann sich im Kinosaal die vier zwischen 1977 und 1986
       entstandenen Kinofilme der Künstlerin ansehen.
       
       In dem surrealen, gesellschaftskritischen Thriller „Unsichtbare Gegner“ –
       das Buch stammt von Peter Weibel – träumt die Fotografin Anna, wie sie auf
       Schlittschuhen durch Wien irrt und in einer Ausstellungseröffnung landet,
       wo die Gäste diese wie einen Fremdkörper betreten. Die Kunst, so könnte man
       folgern, muss ihren Strukturen und ihrem Publikum immer wieder fremd
       werden, damit sie einen frischen Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht.
       
       9 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Feministische-Kunst-in-Muenchen/!5724725
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carmela Thiele
       
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