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       # taz.de -- Schauspielerin Sandra Hüller im Gespräch: „Ich vermisse das Publikum“
       
       > Sandra Hüller spielt die Hauptrolle in „Hamlet“ am Bochumer
       > Schauspielhaus. Für sie war die Fernsehaufzeichnung des Stücks eine
       > intime Erfahrung.
       
   IMG Bild: Ihren größten Erfolg hatte sie bislang mit ihrer Rolle im Film „Toni Erdmann“ von 2016
       
       taz am wochenende: [1][Frau Hüller], der Bayerische Rundfunk hat Sie
       kürzlich als Corona-Opfer bezeichnet … 
       
       Sandra Hüller: Wie bitte? (lacht)
       
       … und meinte damit die ausgefallene Preisverleihung für den
       Gertrud-Eysoldt-Ring und den Theaterpreis Berlin sowie die dann auch
       ausgefallene [2][Eröffnung des Theatertreffens] mit „Hamlet“ und Ihnen in
       der Titelrolle. Wie dramatisch ist das für Sie?
       
       Das ist überhaupt nicht dramatisch für mich.
       
       Weil? 
       
       Na, die Auszeichnungen sind mir ja nicht aberkannt worden. Ähnlich ist das
       beim Theatertreffen. Das Stück ist ja nicht ausgeladen worden. Und die
       Einladung bleibt eine schöne Sache.
       
       Stimmt, nur hat das ganze Drumherum nicht stattgefunden, kein rauschender
       Applaus, keine Premierenfeier. 
       
       Absolut, und gerade für die jüngeren Kolleg*innen wäre diese Erfahrung
       sicher toll gewesen, für die tut mir das auch sehr leid. Aber für mich
       persönlich war das Traurigste, dass wir uns als Ensemble nicht gesehen
       haben. Aber ich bin bei solchen Sachen nicht nachtragend, wenn etwas nicht
       sein soll, dann soll es nicht sein. Ich bin da ganz …
       
       … pragmatisch. 
       
       Ja, genau!
       
       Die 3sat-Aufzeichnung von „Hamlet“ wurde kurz nach dem Lockdown
       aufgenommen. Wie hat es Ihr Spiel beeinflusst, dass kein Publikum im Saal
       saß? 
       
       Es war erstaunlich, welche Intimität sich dadurch eingestellt hat. Wir
       haben wirklich nur füreinander gespielt. Diese Verbindung, die da aufgebaut
       wurde, war schon wirklich einzigartig. Es fühlte sich an wie auf einem
       anderen Planeten: sehr speziell, intim und einsam. Ich dachte immer an den
       kleinen Prinzen. Es war, als stünde man auf einem einzelnen Planeten.
       
       Diese Stimmung passt perfekt zur Inszenierung von Johan Simons! 
       
       Ja, das hat funktioniert. Andererseits funktioniert es ohne Publikum
       einfach dann doch nicht. Eine liebe Kollegin brachte es auf den Punkt: Das
       ist wie Backen ohne Mehl. Als Erfahrung interessant, aber auf die Dauer
       möchte ich das nicht.
       
       Wie haben Sie sich der Figur Hamlet denn genähert? 
       
       Ich alleine gar nicht, das hat gemeinsam auf den Proben stattgefunden und
       ganz pragmatisch über das Textlernen und das Verstehenwollen. Und
       tatsächlich auch übers viel Alleinsein. Wenn ich in Bochum probe, bin ich
       ja weg von meiner Familie in Leipzig.
       
       Nimmt Sie so eine Aufführung wie „Hamlet“ sehr mit? 
       
       Es gibt Abende, die lassen mich wirklich verzweifelt zurück, da bin ich
       leer, allein und traurig. Bei Hamlet ist es seltsamerweise gar nicht so,
       weil es in gewisser Weise eine Versöhnung gibt, und sei es nur mit Laertes.
       Deswegen bin ich nach diesem Abend total friedlich und klar. Das ist sehr
       schön. Deswegen spiele ich's auch so gerne.
       
       Ist die Versöhnung mit Laertes Ihr Lieblingsmoment an dem Abend? 
       
       Das hört sich jetzt richtig doof an, aber: Ich liebe jeden einzelnen Moment
       dieses Abends.
       
       Der Geist von Hamlets Vater tritt in Ihrer Version ja nicht auf, sondern
       Hamlet hat den Vater verinnerlicht. Das erinnert an Ihre erste große
       Filmrolle in „Requiem“, wo es um eine angebliche Teufelsaustreibung geht. 
       
       Ich habe geahnt, dass diese Brücke geschlagen wird! Nach 14 Jahren kann man
       auch mal was wiederholen, ich habe ja auch nur begrenzte Mittel zur
       Verfügung (lacht). Ich finde es in diesem Fall okay, in dieselbe Schublade
       zu greifen.
       
       Aber kann man es bei Hamlet in Analogie zum Film als Vateraustreibung
       begreifen? 
       
       Das kann man so sehen, aber es geht mir um etwas anderes, abgesehen davon,
       dass wir lange nicht wussten, wie wir das machen sollen. In unserer Fassung
       steht, dass der Vater durch Hamlet spricht, was mich natürlich das Fürchten
       gelehrt hat. Wie soll das denn gehen? Wie soll ich das denn machen? Die
       wunderbare Gina Haller als Ophelia und ich haben diese Szene bei den
       Leseproben eigentlich immer eher flapsig genommen, weil wir nicht wussten,
       wie das gehen soll. Das Problem ist, dass ich mir nicht vorstellen konnte,
       dass ein älterer Kollege als Geist auf die Bühne kommt und zu mir sagt:
       „Hör mal zu, Hamlet, da gibt’s ein Problem und du musst das lösen.“ Da
       wüsste ich gar nicht, wie diese Dringlichkeit entstehen soll. Es wäre auf
       jeden Fall viel schwieriger gewesen.
       
       Mit dem Regisseur Johan Simons verbindet Sie eine [3][lange
       Arbeitsbeziehung], hat das etwas mit der Freiheit zu tun, die er seinen
       Spielern lässt? 
       
       Ja, das hat mit dieser Freiheit zu tun und mit diesem Vertrauen, dass sich
       die Dinge aus den Spieler*innen heraus entwickeln, ohne dass er etwas
       daraufpfropft. Auch diese eingehende Untersuchung der Texte, bis sie dann
       tatsächlich gespielt werden, ist ein großer Luxus für mich.
       
       Ist es das, was Sie derzeit am meisten am Theater vermissen? 
       
       Die Aufregung vor Vorstellungen vermisse ich jedenfalls nicht! Aber ich
       vermisse natürlich die Schönheit, die in diesen Zusammenkünften liegt. Wenn
       es hieße, das gäbe es nie wieder, würde ich das schlecht verkraften. Es
       geht im Moment nur mit der Aussicht, dass wir uns irgendwann wieder sehen
       können. Ich meine nicht nur die Kolleg*innen, sondern auch das Publikum.
       Die Vorstellung, wie wir dann zum ersten Mal wieder in einem Raum sind,
       überwältigt mich geradezu.
       
       Sie haben kürzlich gesagt, der Lockdown sei eigentlich ganz schön, was
       daran finden Sie schön? 
       
       Es ist nicht für alle schön, das ist mir durchaus bewusst, aber ich genieße
       die Zeit zu Hause sehr, weil ich die so selten habe.
       
       Fühlen Sie sich in Ihren Freiheitsrechten eingeschränkt? 
       
       Natürlich bin ich im Konflikt, wie alle anderen auch. Ich halte die
       Maßnahmen zwar alle für richtig, aber es ist die Frage, wie lange sie noch
       richtig sind und ob man schnell genug reagieren kann, wenn sie nicht mehr
       richtig sind. Auf der anderen Seite weiß ich gar nicht, wie lange ich meine
       Mutter nicht mehr umarmt habe, und da stellt sich schon die Frage, ob ich
       mir das sagen lasse oder auf wen ich hören soll. Ich finde es schwer,
       klarzukriegen, wo da die eigenen Grenzen liegen.
       
       Für [4][Frank Castorf] ist die Grenze beim Händewaschen überschritten, das
       lässt er sich von Angela Merkel nicht vorschreiben. 
       
       Das möchte ich nicht kommentieren.
       
       „Jammern gehört zum Schlimmsten“, haben Sie einmal gesagt.
       
       Aber es gibt einen Unterschied, ob man jammert oder Dinge klar benennt.
       Wenn ich an freischaffende Kolleg*innen denke, die null abgesichert sind,
       weil sie nicht angestellt sind und nicht als Selbstständige gelten, obwohl
       sie als Gäste an den Theatern arbeiten und normalerweise dort versichert
       sind. Da herrscht akute Not, und das hat überhaupt nichts mit Jammern zu
       tun. Da geht es um die nackte Existenz.
       
       Johan Simons plädiert dafür, die Theater so schnell wie möglich wieder zu
       öffnen. 
       
       Ich glaube, man muss gucken, wie die Zuschauer*innen sicher rein und raus
       kommen und mit Abstand sitzen können.
       
       Es geht natürlich auch um die Leute auf der Bühne. 
       
       Ja, wahrscheinlich muss man auch das Spiel überprüfen. Wie kann man Dinge
       vermitteln, ohne sie tatsächlich zu tun? Was würde das bei „Hamlet“
       bedeuten, wenn man nur sagt, was man machen würde? Das kann man
       ausprobieren. Aber in erster Linie geht es darum, wie man sicherstellt,
       dass die Leute sicher schauen können.
       
       Macht Ihnen das Virus Angst? 
       
       Mir persönlich nicht. Natürlich möchte ich niemanden verlieren, aber in
       Bezug auf mich denke ich immer, wenn es so ist, dann ist es so. Wenn das
       der Plan gewesen ist, dann war’s das halt.
       
       Sie haben schon unzählige Auszeichnungen bekommen, was bedeuten Ihnen diese
       neuen Ehrungen? 
       
       In diesem Jahr ist es etwas Besonders, weil ich 20-jähriges Berufsjubiläum
       habe. Aber ich werde diese Preise natürlich nicht mit ins Grab nehmen, ich
       sterbe ohne all das. Insofern sind diese Auszeichnungen total schön und
       machen mir ein gutes Gefühl, aber wenn es sie nicht gäbe, dann gäbe es
       etwas anderes.
       
       23 May 2020
       
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