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       # taz.de -- Schriftstellerin Friederike Mayröcker: Disziplin und Ekstase
       
       > Erst in der Striktheit der Formen greift Friederike Mayröcker ihren
       > Lesern ans Herz. Die 96-jährige Autorin hat ihr Ohr an allem, was sie
       > umgibt.
       
   IMG Bild: Friedericke Mayröcker beim Literataturfestival „O-Töne“ im Wiener Museumsquartier 2020
       
       Worum geht es bei Friederike Mayröcker? Es geht um das Alter und die
       Jugend, um Mann und Frau, es geht um Beziehungen, erste und letzte
       Liebesgeschichten. Es geht um Befindlichkeiten und Empfindungen,
       Wahrnehmungen und Erinnerungen.
       
       Vor allem aber geht es darum, dass die heute [1][96-jährige Wiener Autorin]
       in ihren bislang weit mehr als 100 Büchern ein unglaublich breites Spektrum
       von je einzigartigen Sprachkörpern geschaffen hat. Gerade die letzten Bände
       zeichnen aus unmittelbarer Gegenwart gleichsam eine jede Regung und einen
       jeden Affekt der Schreibenden nach.
       
       Entscheidend ist, dass diese Geflechte aus psychodynamischen Strömen nach
       außen hin keinerlei Zweifel darüber aufkommen lassen, dass sie nach
       ästhetischen Kriterien geformt sind. Das schiebt den Unsäglichkeiten
       traditioneller Befindlichkeitsdiskurse hier von vornherein einen Riegel
       vor. Die vielen Bücher der Autorin sind keine Haufen lose hingeworfener
       Assoziationen. Ganz im Gegenteil: Erst in der Striktheit, mit der hier
       Formprinzipien eingelöst werden, greift Mayröcker ihrer Leserschaft ans
       Herz.
       
       ## Vorstellung von ästhetischer Autonomie
       
       Auch die Offenheit dieser Texte und die Wandlungsfähigkeit der Formen von
       Buch zu Buch sind keine Resultate von Beliebigkeit. Offenheit ergibt sich
       bei Mayröcker immer vor dem Hintergrund einer überaus klaren und
       vorausgängigen Vorstellung von ästhetischer Autonomie. Ohne diese Autonomie
       wären die Texte nichts, ohne Disziplin gibt es keine Ekstase.
       
       Woher kommt das? Ein Restbestand avantgardistischer Vorstellungswelten hat
       sich hier erhalten. Nämlich die Erkenntnis, dass das Schreiben selbst
       nichts anderes als eine Handhabung von sprachlichem Material ist.
       
       In der jahrzehntelangen Praxis ihres Schreibens hat die Autorin die
       Erfahrung gemacht, dass dieses Material nun aber (und anders als manche
       Theoretiker der Avantgarde sich das vorgestellt hatten) kein klinisch
       isolierter oder etwa auch frei manipulierbarer Gegenstand ist. Nein: Das
       Sprachmaterial selbst besitzt für Mayröcker im Schreiben eine Art von
       körperlicher Lebhaftigkeit.
       
       ## Psychocollagen und Psychomontagen
       
       Verfahren der Avantgarde wurden adaptiert: Aus Collage und Montage sind
       Psychocollagen und Psychomontagen geworden. Auch an den vielen Worten,
       Wendungen und Sätzen, die Mayröcker, indem sie permanent exzerpiert und
       sammelt, in einer textuellen Fremde findet, hängt bei ihr immer etwas
       Eigenes dran. Mit ihren Quellen treibt Mayröcker ein Spiel: Manchmal
       verbirgt sie sie, oft zitiert sie exakt, insgesamt aber sind das alles nur
       Absprungrampen der eigenen Fantasie.
       
       Vom Prozess des Schreibens berichtet Mayröcker in ihren Büchern
       allerkleinste Einzelheiten: Sprachfetzen fangen zu bluten an; beschriftete
       Zettelchen verkleben Wunden, die die Autorin sich im Schreiben schlägt.
       
       Zwei Haare, die ausgefallen und am Waschbecken gelandet sind, zeichnen in
       sich als eine Art Hoffnungsschimmer das stenografische Kürzel für „doch
       noch“ nach. Der im Entstehen befindliche Text ist wie ein Teig, der
       verderben kann, wenn man ihn zu lange stehen oder gehen lässt. Auf die
       Eigendynamik des Sprachkörpers ist im Schreiben jederzeit Bedacht zu
       nehmen.
       
       Auch der neueste Prosaband „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“
       hat seinen selbstverständlichen Ausgangspunkt in der poetischen
       Gesamtexistenz der Autorin: „Man fragt mich was ist der Inhalt nämlich
       Schlepptau des neuen Buches“, ist darin zu lesen.
       
       ## Prosa und Poesie
       
       Alte Fragen, neue Antworten: Schon der Titel dieses Buches entschlägt sich
       einer jeden Begrenzung, fliegt über grammatikalische Satzgrenzen hinweg und
       setzt den Punkt dorthin, wo er will. Auch kreuzt dieser Titel gleich von
       vornherein Prosa und Poesie, ganz so, als ob er sagen möchte: Jetzt
       akzeptiert die Mayröcker keinerlei Einschränkungen mehr.
       
       Es ist auch das poetische Programm von Ernst Jandl, ihrem im Jahr 2000
       verstorbenen Lebensgefährten, dem Mayröcker damit folgt. Jandl hatte die
       Arbeit an der Dichtung einst als eine sukzessive Ausbreitung von Freiheit
       definiert. Befreit von allen Lasten, die der Literatur von Rezeption und
       Leserschaft auferlegt sein mögen, klärt Mayröcker die Inhaltsfrage: „Ich
       sage ‚verzage nicht!‘ und sehe aufs Wintermeer hinaus, es geht um NICHTS
       und es geht um ALLES, vielleicht polyphon, es geht um Sensationen = ich
       meine Empfindungen.“
       
       Eine These: Wahrscheinlich könnte man sich ein Buch wie das jüngste Werk
       gar nicht vorstellen, wenn es die Literatur von Mayröcker nicht gäbe. Die
       sprachlichen Möglichkeiten, die dieses Buch realisiert, und die Freiheit,
       die es sich selbst verschafft, sind Produkte jahrzehntelangen Schreibens.
       Nur im Schreiben kann man auf diese Formen gekommen sein.
       
       ## „Phantasien Tagträume“
       
       Und letztlich sagt das Buch auch selbst am besten, worum es in ihm geht: um
       „das böse Blut“, „das blaue Blut oder Herzblut“, um den „Knall der
       Verliebtheiten, Vergeblichkeiten“, um „Phantasien Tagträume“, ein „erstes
       Tränenvergießen“ am Morgen und vor allem geht es darum: mit „tausend Armen
       die Sprache locken heranlocken etwa, Schulter an Schulter“.
       
       Seit mehr als sieben Jahrzehnten lockt Mayröcker die Sprache. Sie ist bei
       ihr eingefallen, die ganze Wohnung quillt von Sprachmaterial über. Im neuen
       Buch ebnen sich Lyrik und Prosa vollkommen ein. Als „Proeme“ bezeichnet die
       Autorin die fließende Form zwischen den Gattungen. „da ich morgens und
       moosgrün. Ans Fenster trete“ ist ein einziges Proem, aber es gibt noch
       Gliederung. Die einzelnen Einträge, meist ein bis drei Seiten lang, tragen
       manchmal eine Titelzeile und zeigen auffällige Schriftbilder.
       
       Übrigens macht es einen großen Unterschied, ob man diese Texte selbst liest
       oder – im besten Fall – von der Autorin vorgelesen bekommt. Wenn Mayröcker
       liest, wird alles zu einer unmittelbar wirkenden Stimme des Körpers. Bei
       Lesungen kann man nachvollziehen, wie sehr die Autorin damit ihr Publikum
       in den Bann schlägt.
       
       Beim Selberlesen treten am Text die Marotten der Schreibung in den
       Vordergrund: vom wohlbekannten „sz“ über die Kursivierung und
       Großschreibung einzelner Worte bis hin zum spezifischen Gebrauch der
       Satzzeichen. Hinter die einzelnen Texteinträge setzt Mayröcker jeweils ein
       Datum, im neuen Buch reicht der Zeitraum von September 2017 bis November
       2019.
       
       ## Wie ein überlaufendes Fass
       
       Neu ist, dass der Text jetzt in vielen Fällen auch noch hinter diesen
       Datierungen weiterläuft. Kleine Bemerkungen und Nachträge werden hinter die
       Ziffern gesetzt. Der Text lässt sich durch nichts mehr begrenzen, er läuft
       über, so wie ein Fass überläuft. Den Punkt als Endpunkt des Satzes hat
       Mayröcker (außer im Titel) abgeschafft, Beistriche stehen am Ende der
       Sequenzen und auch dabei doch immer mitten im Satz.
       
       Das Wachstum des Textes ist potentiell ohne Ende, die Fantasie überbordend.
       Animiert von Durs Grünbein imaginiert die Autorin eine Lesung auf dem Mond.
       Beim Namen „Purkersdorf“ denkt sie an „Hirschkäfer“. Seltsame Wörter
       durchziehen den Text: „Syringen“, das „Modewort nature-writing“, „PENKALA“,
       „Päonie“ aber auch „Vollholler“.
       
       Mayröcker hat ihr Ohr an allem, was sie umgibt. Ist in ihrem Schreiben
       stets gegenwärtig. Schnappt Wörter und Phrasen auf, verhört und verliest
       sich. Hat im Schreiben kaum Zeit, manche Wörter auszuschreiben, setzt jg.
       für jung, lg. für lang, kl. für klein, gr. für groß und frz. für
       französisch.
       
       ## Gedanken schneller als Schreiben
       
       Der Text gibt sich als eine Mitschrift von Gedanken, die schneller sind als
       das eigene Schreiben. Aber noch vor dem Gedanken steht bei Mayröcker der
       Satz, der ihn trägt. Mit lautlichen Anklängen wird das Heterogene geglättet
       und mit poetischen Sirenentönen das Gesetzte verjagt.
       
       Der Text heult auf, gibt sich jugendlich-ungestüm. Kommt er in einer
       Wendung zur Ruhe, folgt sogleich der nächste sprachliche Sturm, das nächste
       Capriccio, die nächste hochfliegende Wendung. Ein Changier-Bild entsteht:
       das Porträt einer Dichterin, die an sich selbst alles preisgibt und die
       Sprache, inmitten derer sie lebt, doch noch einmal auf ungeahnte
       Himmelsbahnen katapultiert.
       
       Wie kann in einem Text so viel Leben sein? Wie schafft es die Autorin, aus
       der äußeren Ereignislosigkeit eines Lebens so viel zu machen? Die
       Stofflosigkeit des Schreibens wird in diesem Buch zur eigentlichen
       poetischen Sensation. Vielleicht könnte man sagen: Darum geht es.
       
       28 May 2021
       
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