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       # taz.de -- Schuldig in weiteren 85 Mordfällen: Lebenslang für Todespfleger
       
       > Ex-Krankenpfleger Niels Högel ist wegen einer Mordseries an PatientInnen
       > verurteilt worden. Richter kritisiert verzögerte Ermittlung und
       > Vertuschung.
       
   IMG Bild: Erneut schuldig gesprochen: Verurteilter Niels Högel vor Gericht
       
       Oldenburg taz | Mehr als sieben Monate haben die Familien der Opfer auf
       diesen Tag warten müssen. Die Stühle in dem zum Gericht umfunktionierten
       Saal der Oldenburger Weser-Ems-Halle waren am Donnerstag schon eine Stunde
       vor Beginn gefüllt. Angehörige der Opfer und Journalist*innen wollten dabei
       sein, wenn gegen Niels Högel das Urteil gesprochen wird.
       
       Der ehemalige Krankenpfleger Högel war wegen einhundertfachen Mordes
       angeklagt. Am Klinikum Oldenburg und in Delmenhorst hat er zwischen 2000
       und 2005 ihm anvertrauten Patient*innen nicht angeordnete Medikamente
       gespritzt, um sich bei den eingeleiteten Wiederbelebungen zu profilieren.
       
       Jetzt hat das Oldenburger Landgericht Högel wegen 85-fachen Mordes zu einer
       lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte die besondere
       Schwere der Schuld fest, wodurch eine vorzeitige Haftentlassung nach 15
       Jahren ausgeschlossen ist. Zudem verhängten die Richter ein lebenslanges
       Berufsverbot. Wegen sechs weiterer Taten ist Högel bereits verurteilt
       worden.
       
       „Herr Högel, Ihre Taten sind unbeschreiblich. Es sind so viele, dass der
       menschliche Verstand kapituliert vor der Anzahl der Taten“, sagte der
       Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann in seiner Urteilsbegründung. Als er
       mit ihm in dessen Vernehmung jeden einzelnen angeklagten Fall durchgegangen
       ist, sei er sich vorgekommen wie der Buchhalter des Todes, sagte Bührmann.
       Högels Schuld sei „unfassbar“.
       
       ## Freispruch mangels Beweisen
       
       Dennoch konnte das Gericht ihm nicht alle einhundert Taten nachweisen. In
       15 angeklagten Fällen wurde Högel freigesprochen, weil die Beweislage nicht
       ausreichte. Dabei ging es hauptsächlich um das Medikament Lidocain. Högel
       vergiftete damit Patient*innen. Doch es wird auch für das Legen von Sonden
       und Kathetern verwendet. Wenn in den nach mehreren Jahren exhumierten
       Leichen also Lidocain gefunden wurde, musste mit einer gewissen
       Wahrscheinlichkeit feststehen, dass es von Högel gespritzt wurde. Und das
       war nicht immer der Fall.
       
       Bührmann betonte aber auch, dass das Gericht bei keine*m dieser 15
       Verstorbenen eindeutig sagen könnte, dass Högel sie oder ihn nicht getötet
       hat. Die Angehörigen dieser Menschen zu enttäuschen, sei nicht leicht.
       „Herr Högel hat ihre Würde und die ihres Verstorbenen mit Füßen getreten“,
       sagte der Richter in Richtung der Nebenkläger*innen. Emotionale Beweggründe
       dürften aber nicht die Rechtsprechung beeinflussen.
       
       In seiner Urteilsbegründung wies Bührmann auch darauf hin, dass die nur
       schleppenden Ermittlungen gegen Högel dafür sorgten, dass Beweise
       vernichtet wurden. Die Dunkelziffer von Högels Opfern dürfte hoch sein.
       
       Högel wurde 2005 in Delmenhorst auf frischer Tat ertappt. Deshalb wurde er
       angeklagt. Schnell gab es Hinweise von Kolleg*innen und Angehörigen, dass
       er womöglich noch mehr Menschen umgebracht haben könnte. Doch umfangreich
       ermittelt wurde erst seit der Gründung der Sonderkommission „Kardio“ Ende
       2014.
       
       Gaby Lübben vertrat im aktuellen Prozess mehr als 100 Nebenkläger*innen.
       Sie sprach von einem Jahre andauernden Ermittlungsboykott. Gegen einen
       früheren Oldenburger Staatsanwalt wurde Anklage wegen Strafvereitelung im
       Amt und Rechtsbeugung erhoben. Ein Verfahren wurde nicht eröffnet –
       Landgericht und Oberlandesgericht Oldenburg sahen keinen hinreichenden
       Tatverdacht.
       
       Doch auch einige der Zeug*innenaussagen im laufenden Prozess haben laut
       Bührmann verhindert, dass das Verfahren alle offenen Fragen beantworten
       konnte. Viele der Oldenburger Zeug*innen seien bei allgemeinen Fragen zur
       Intensivstation und medizinischen Fragen sehr mitteilungsbedürftig gewesen.
       Merkwürdig dünn seien die Aussagen dann geworden, wenn es um Högel ging.
       „Es gab Unwillen und es gab auch Vertuschung“, sagte Bührmann.
       
       ## Unterlagen gebunkert
       
       Er kritisierte außerdem das Verhalten des Geschäftsführers des Klinikums
       Oldenburg, Dirk Tenzer. Dieser habe nicht plausibel erklären können, warum
       er wichtige Unterlagen erst mit jahrelanger Verzögerung der
       Staatsanwaltschaft aushändigte, sagte der Richter.
       
       Gegen einige ehemalige Kolleg*innen Högels aus Oldenburg laufen
       mittlerweile Ermittlungen wegen Meineids beziehungsweise uneidlicher
       Falschaussage. Gegen andere wird wegen Totschlags durch Unterlassen
       ermittelt. Sie sollen von Högels Taten gewusst und geschwiegen haben.
       
       Högel wurde 2002 mit einem guten Arbeitszeugnis aus Oldenburg weggelobt. Er
       fing dann im Delmenhorster Krankenhaus an. Auch vier ehemalige Kolleg*innen
       von dort werden sich demnächst wegen Totschlags durch Unterlassen vor
       Gericht verantworten müssen. Auch sie sollen geschwiegen haben.
       
       Högel wird das Gefängnis wohl nicht wieder verlassen, auch wenn keine
       Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Diese hätte nicht dafür gesorgt,
       dass Högel länger in Haft bleibt, erklärte Bührmann. Weil er mehrfach
       gelogen hat, habe sich seine Perspektive verschlechtert, sagte der Richter
       zu Högel. „Lebenslang kann auch ein Leben lang bedeuten.“ Das Urteil ist
       noch nicht rechtskräftig.
       
       6 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marthe Ruddat
       
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