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       # taz.de -- Schule in Coronazeiten: Woher kommt die Ungleichheit?
       
       > In der Pandemie sorgen sich auf einmal alle um „benachteiligte“ Kinder.
       > Das sagt mehr über die Besorgten als über die Situation der
       > Schüler*innen.
       
   IMG Bild: Das Bildungssystem ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems
       
       Es ist schon herzzerreißend, wie sehr sich das Bildungsbürgertum im zweiten
       Lockdown um sie sorgt: „benachteiligte“ Kinder aus „sozial schwachen“
       Familien; Kinder, [1][die durch die Schulschließungen] den Anschluss beim
       Unterrichtsstoff verlören, weil sie kein digitales Endgerät besäßen oder
       ihre Eltern ihnen bei den Schulaufgaben nicht helfen könnten; Kinder, die
       jetzt endgültig die Chance verpassten, sozial aufzusteigen; Kinder, die man
       gleich selbst verliere, an die tägliche Tracht Prügel der Proleteneltern,
       an Computerspiele, an die Straße.
       
       Da ist natürlich was dran. Wer ein Proletenkind ist, für den führt der Weg
       zum sozialen Oben [2][durch die Schule]. Proleteneltern können ihren
       Kindern bestimmt weniger helfen, weil sie nicht über jenes ökonomische
       Kapital verfügen, das sich jederzeit in kulturelles und soziales Kapital
       verwandeln lässt. Es gibt gewalttätige Eltern, wobei ihre Gewalt auch
       irgendwoher kommt. Für ihre Kinder kann die Schule Zufluchtsort sein. Auch
       für Proletenkinder, die nicht geschlagen werden, wird in der Schule
       erfahrbar, was alles anders sein kann.
       
       Trotzdem verraten die Sorgen der Besorgten mehr über sie selbst als über
       die Situation der Proletenkinder. Die Besorgten sprechen zwar über soziale
       Ungleichheit und dass die Schule dieser entgegenwirken würde. Aber sie
       reden nicht darüber, woher diese Ungleichheit kommt. Sie wollen nicht
       wissen, wo genau sich der Nullpunkt des Übels befindet, weil dieser zu
       ihnen selbst führen, auf diese Weise ihr angenehmes Wohl mit dem
       betrauerten Übel verbinden würde. Weil sie aber keine schlechten Menschen
       sind, glauben sie fest daran, dass die Schule das Problem schon irgendwie,
       irgendwann, irgendwo lösen wird. Und wenn sie dann mitfühlend auf die armen
       Proletenkinder blicken, dann sehen sie in ihnen vor allem unvollkommene
       Versionen ihrer selbst.
       
       Ihr Bildungsfetisch führt dazu, dass der Unterschied zwischen den
       „benachteiligten“ und anderen Kindern als ein Problem des Mehr- oder
       Wenigerwissens erscheint; nicht als eines systematischer, nicht nur
       tolerierter, sondern gewollter und durch die Schule geförderter
       ökonomischer Ungleichheit. Die Überhöhung der Bildung diente vor und auch
       in der Coronakrise dazu, Ungleichheit zu zementieren, weil man auf die
       Schule zeigen kann als Ort, an dem jeder die Chance habe, sein Schicksal zu
       verändern.
       
       Als die Coronakrise begann, dachten manche, dass die Pandemie zu einem
       Umdenken führen könnte, weil sie offenbart, wie unvernünftig unsere
       Gesellschaft eingerichtet ist. Wie naiv das war, wissen wir heute. Die
       Fließbänder laufen [3][trotz über 1.000 Coronatoter am Tag weiter], und
       auch beim Thema Bildung zeigt sich: Die Not weicht den Fetisch nicht auf,
       sie verhärtet ihn. Und je offener und schmerzlicher die Ungerechtigkeit zu
       Tage tritt, desto fanatischer beschwören die Besorgten ihren Irrglauben.
       Dabei wissen auch sie, dass unser Bildungssystem keine Lösung, [4][sondern
       Teil des Problems] ist.
       
       15 Jan 2021
       
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