URI: 
       # taz.de -- Schulleiter über Staatliche Ballettschule: „Es geht nur mit Kinderschutz“
       
       > Missbrauchsvorwürfe hatten die Staatliche Ballettschule in Berlin zuletzt
       > erschüttert. Der neue Schulleiter Dietrich Kruse erklärt, warum die
       > Schule eine Zukunft hat.
       
   IMG Bild: Spitzen-Schule, hartes Training: Blick in den Probensaal der Staatlichen Ballettschule
       
       taz: Herr Kruse, Anfang 2020 haben schwere [1][Vorwürfe von
       Kindeswohlgefährdung und Mobbing] die Staatliche Ballettschule in
       Prenzlauer Berg erschüttert. Sie sollen seit August als Interimsschulleiter
       eine Art Neustart begleiten. Hat die Ballettschule eine Zukunft? 
       
       Dietrich Kruse: Ja, durchaus. Die Idee einer allgemeinbildenden Schule, die
       gleichzeitig eine tänzerische und eine artistische Berufsausbildung
       anbietet, dieses Konstrukt funktioniert – auch als staatliche Schule, im
       Rahmen des Berliner Schulgesetzes.
       
       Wieso betonen Sie den Aspekt der staatlichen Schulform? 
       
       Am Anfang habe ich gedacht, dass es möglicherweise ein Konflikt ist: dass
       eine Ballettausbildung unter den Bedingungen des Kinderschutzes nicht
       möglich sein könnte. Aber ich sehe es inzwischen so: Natürlich muss das
       gehen. Der Kinderschutz setzt die Bedingungen dafür, unter denen es diese
       Schule geben kann.
       
       Sie sagen: Kinderschutz und eine professionelle Ballettausbildung, das geht
       zusammen. Was haben Sie seit August konkret auf den Weg gebracht, damit es
       geht? 
       
       Ganz zentral ist zum Beispiel die Frage, wie mit Auftritten der
       Schülerinnen und Schüler umgegangen wird, mit Belastungen und mit der
       Einhaltung von Ruhezeiten.
       
       Das Jugendarbeitsschutzgesetz gilt bei schulischen Veranstaltungen nicht. 
       
       Genau, [2][das Jugendarbeitsschutzgesetz] findet keine Anwendung. Die
       Schulverwaltung ist zwar Aufsichtsbehörde, aber hat bisher keine Regularien
       festgesetzt. Das heißt, es muss schulintern geregelt werden.
       
       Das heißt, die Entscheidungsgewalt liegt bei Ihnen. Eine große
       Verantwortung – nach welchen Kriterien entscheiden Sie? 
       
       Für die Schülerinnen oder die Schüler muss genau aufgeschrieben werden, was
       in der Woche vor dem Auftritt an Belastungs- und Arbeitszeiten geschehen
       ist: Unterricht, Proben. Und es muss klar sein, wie der Unterricht
       nachgeholt werden kann. Dann kommt die künstlerische Leitung dazu, die
       Internatsleitung, dann wird entschieden. Dabei orientieren wir uns dann an
       den Vorgaben, die auch das Jugendarbeitsschutzgesetz formuliert. Letztlich
       müssen wir aber dahin kommen, dass ganz klar festgelegt ist, wann Auftritte
       genehmigt werden und wann nicht. Das erarbeiten wir gerade.
       
       Diese Regeln gab es vorher nicht? 
       
       Es gab eine Hausordnung, die formuliert hat, wann zum Beispiel nach
       abendlichen Auftritten am nächsten Morgen der Unterricht beginnen darf.
       Aber es braucht eine wirksame Kontrolle, es kann nicht jeder selbst
       entscheiden, wie er die Regeln auslegt. Es braucht ein geregeltes Verfahren
       und Entscheider, und da erleichtert es natürlich, wenn es schon vor der
       Genehmigung von Auftritten Regeln gibt, an die sich die Kollegen halten
       müssen. Dann wird die Kontrollarbeit vielleicht auch weniger.
       
       Ein Vorwurf in der Vergangenheit war auch, dass die alte Schulleitung
       Lehrkräften Mobbing und Machtmissbrauch ermöglicht habe, weil es wenig
       Unterstützung für betroffene SchülerInnen gab. Wer keine Leistung brachte,
       sei allein gelassen worden. 
       
       Es gibt inzwischen sehr viel Austausch im Kollegium, auch durch die
       regelmäßigen Teamsitzungen. Es ist klar: Wenn ein Kind Probleme hat, wenn
       zum Beispiel der Verdacht auf eine Essstörung besteht, dann können die
       Beratungslehrerinnen oder die Vertrauenslehrkräfte die Anlaufstellen sein.
       Sie tragen den Fall weiter, das landet dann auch auf meinem Tisch. Über die
       weitere Vorgehensweise stimmen wir uns dann ab.
       
       Landen denn Fälle auf Ihrem Tisch? 
       
       Fälle von Essstörungen hatten wir mehrere. Diese Kinder durften dann erst
       wieder am praktischen Unterricht teilnehmen, wenn ein Sportarzt die
       Tauglichkeit festgestellt hat. Wir begleiten diese Kinder dann außerdem mit
       einer Schulpsychologin, da gibt es regelmäßige Gesprächsrunden.
       
       Kann den Kindern geholfen werden? 
       
       Im Einzelnen kann ich das nicht sagen, dafür war die Zeit seit meinem
       Amtsantritt auch zu kurz. Das geht ja oft nicht auf die Schnelle: Erstens
       muss geschaut werden, kann das Kind die Ausbildung überhaupt körperlich
       weitermachen. Dann begleitet die Schulpsychologin das Kind und die Familie
       weiter – und ob das Kind dann wirklich geheilt werden kann, das ist ein
       längerer Prozess.
       
       Unter der alten Schulleitung galt die Notengebung in der künstlerischen
       Ausbildung als extrem intransparent. 
       
       Wenn im Unterricht ein Kind ein Problem hat und die Bewertungskriterien
       nicht klar und nicht transparent sind – so ein Kind wird sich eher nicht
       bei Verantwortlichen melden, wenn es unsicher ist, ob allein sein Verhalten
       eventuell eine schlechte Note provoziert. Es muss auch gewährleistet sein,
       dass über die Versetzung von Klassenkonferenzen entschieden wird, nicht von
       einzelnen Personen.
       
       Das war vorher nicht so? 
       
       Im künstlerischen Teil, in der Ballett- und Artistikausbildung, werden die
       Lehrpläne und die Bewertungskriterien gerade erarbeitet oder überarbeitet.
       
       Transparenz ist das eine, aber klassischer Tanz verlangt eine gewisse
       Körpernorm, manche kommen leistungsmäßig an ihre Grenzen. 
       
       Wie gesagt, wenn eine Ausbildung unter den Bedingungen des Kinderschutzes
       nicht möglich ist, dann geht sie nicht. Es werden aber diese Befürchtungen
       durchaus an mich herangetragen: Jetzt müssen wir auf den Kinderschutz
       achten, wie sollen wir da Spitzenleistungen ausbilden. Das darf aber kein
       Widerspruch sein. Die Einhaltung des Kinderschutzes ist Bedingung für das,
       was verlangt werden kann. Ballettausbildung ist eine Berufsausbildung. Es
       kann nicht jeder Spitzentänzer auf Weltklasseniveau werden, auch wenn sich
       das viele Eltern natürlich wünschen für ihr Kind. Ich sehe das so: Wir sind
       hier eine berufliche Schule. Es kommt vorrangig darauf an, dass die
       Absolventen möglichst in ihren gewünschten Beruf kommen, wo sie mit ihrer
       Ausbildung ihren Lebensunterhalt verdienen können. Wir sind natürlich stolz
       auf jeden unserer Absolventen, dem durch unsere Förderung eine größere
       Karriere gelingt.
       
       Sie haben da einen sehr nüchternen Blick. Bedeutet das einen Kulturwandel
       für diese Schule? 
       
       Ich glaube, wir müssen hinterfragen, wie wir hier „Spitze“ definieren. Wenn
       jemand eine Anstellung findet an einer Bühne, dann ist das schon spitze,
       das schafft kein Hobbytänzer. Keine Schule schafft es, einen
       Ausbildungsjahrgang zu stellen, wo nur Solotänzer herauskommen. Das Ziel
       der Schule sollte sein, dass die Schüler berufliche Zufriedenheit erlangen,
       im Leben zurechtkommen und nicht in prekäre Beschäftigungsverhältnisse
       geraten.
       
       Die Expertenkommission der Bildungsverwaltung, die im vergangenen Jahr die
       Schule unter die Lupe genommen hatte, bemängelte, dass nur 20 Prozent der
       SchülerInnen, die in der 5. Klasse an die Schule kommen, bis zum Abitur
       durchhalten – nicht mal ein Fünftel also. 
       
       Ja, das muss besser werden. Wir haben, wie jede andere Schule, die Aufgabe,
       nicht nur die Starken zu fördern – sondern möglichst viele Schülerinnen und
       Schüler am Ende in die Lage zu versetzen, erfolgreich am Berufsleben
       teilzunehmen. Da ist die Aufgabe einer jeden Schule. Und da bedarf es
       Konzepte, wie die Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen
       Talentausrichtungen individuell gefördert werden können. Nicht jeder muss
       ja am Ende als klassische Tänzerin oder Tänzer arbeiten, es gibt auch
       andere tänzerische Ausrichtungen
       
       Was heißt das konkret? 
       
       Der klassische Tanz stellt Anforderungen an den Körper, wie er idealerweise
       auszusehen hat. Bevor ein Kind in die Pubertät kommt, weiß man aber nicht,
       wie sich der Körper entwickelt. Und auch um diese Kinder müssen wir uns
       sozialverträglich kümmern. Konkret heißt das, dass in Zukunft eine
       Abschulung nur nach der 6. oder nach der 10. Klasse erforderlich sein wird.
       Wer also in der Mittelstufe das Tänzerische nicht schafft, wird an der
       Schule noch den Mittleren Schulabschluss machen können – dann eben ohne die
       fachpraktischen Kurse. Deshalb soll es jetzt eine Zwischenprüfung in der 8.
       Klasse geben, um entscheiden zu können: Wird die künstlerische Ausbildung
       weitergeführt oder nur die allgemeinbildende mit einem theoretischen Fokus
       auf zum Beispiel auf Tanz und Theater.
       
       Hat der Ruf der Schule durch den Skandal eigentlich messbar gelitten – in
       dem Sinne, dass Eltern ihre Kinder von der Schule genommen haben, dass
       Anmeldungen ausblieben? 
       
       Mehr Abgänge hat es nicht gegeben. Die Interessentenzahlen für die
       Ballettschule sind geringfügig gesunken, für die Artistiksparte sind sie
       gleich geblieben. Die Ursachen können aber auch pandemiebedingt sein.
       
       Bisher konnte die Stelle der Schulleitung noch nicht dauerhaft neu besetzt
       werden, weil es noch arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen mit der alten
       Schulleitung gab. Lähmt das den Entwicklungsprozess der Schule? 
       
       Ich habe ganz klar gesagt, ich mache das für ein Jahr, aber ich nehme die
       Aufgabe so wahr, als ob ich es 20 Jahre machen würde. Natürlich herrscht da
       eine Verunsicherung bei den Kollegen. Das drückt auf die Stimmung, aber
       nicht aufs Engagement. Sie müssen ja sehen, es sind auch die
       stellvertretende Schulleitung gegangen, sowie die Leiterin für die
       Allgemeinbildung und es sind noch drei weitere Fachleitungen unbesetzt. Und
       dennoch übernehmen jetzt viele Kollegen diese Aufgaben gerade einfach mit.
       Das ist eine gewaltige Kraftanstrengung des Kollegiums, und das ist sehr
       beeindruckend.
       
       Sie könnten einfach weitermachen, als Schulleiter. 
       
       Ich habe eine Beauftragung, die gilt für ein Jahr. Ich bin jetzt 65
       geworden, jetzt ist es auch gut. Mein Ziel ist es, diese Schule im Sommer
       geordnet und mit einer Zukunftsperspektive in gute Hände zu übergeben.
       
       Sie haben lange Jahre das Oberstufenzentrum Maschinen- und
       Fertigungstechnik geleitet. Was hat Sie überhaupt an dem Job als
       Ballettschulleiter gereizt? 
       
       Ich war mehr als 35 Jahre im Schuldienst beziehungsweise in der
       Schulverwaltung, dann bin ich mit 63 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand
       gegangen – und habe festgestellt, dass ich diese Herausforderung doch
       nochmal gerne annehmen würde: Veränderungsprozesse anszustoßen und zu
       steuern. Übrigens, die Struktur eines guten Schulprogramms, ob für
       Maschinenbau oder Ballett, die ist sehr identisch. Da gibt es gar nicht so
       große Unterschiede.
       
       3 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Staatliche-Ballettschule-Berlin/!5708185
   DIR [2] /Kinder-fragen-die-taz-antwortet/!5758577
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
       ## TAGS
       
   DIR Staatliche Ballettschule
   DIR Mobbing
   DIR Ballett
   DIR Sandra Scheeres
   DIR Theater Osnabrück
   DIR Staatliche Ballettschule
   DIR Staatliche Ballettschule
   DIR Staatliche Ballettschule
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Besuch der Osnabrücker Dance Company: Die Leichtigkeit ist harte Arbeit
       
       Sport oder Kunst? Ballett und Tanztheater sind beides. Zu Besuch beim
       Warm-up der Dance Company des Theaters Osnabrück.
       
   DIR Affäre um Staatliche Ballettschule: Ein Recht auf Unversehrtheit
       
       An der Staatlichen Ballettschule wurde nach den Gewaltvorwürfen viel
       aufgeklärt. Die Konsequenzen könnten entschlossener sein.
       
   DIR Staatliche Ballettschule Berlin: Der Tanz geht weiter
       
       Die Staatliche Ballettschule soll weitermachen, sagt Schulsenatorin
       Scheeres (SPD). Das Landesjugendballett wird abgewickelt.
       
   DIR Affäre um Staatliche Ballettschule: Spitzenmäßig gefährdet
       
       Eine Expertenkommission sieht die Vorwürfe der Kindeswohlgefährdung an der
       Staatlichen Ballettschule in Prenzlauer Berg bestätigt.