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       # taz.de -- Serbien zehn Jahre nach Milosevic: Verlorene Illusionen
       
       > Zehn Jahre nach dem Sturz von Präsident Slobodan Milosevic sitzen dessen
       > frühere Anhänger wieder auf Führungsposten in Politik und Wirtschaft.
       > Vergangenheitsbewältigung? Fehlanzeige!
       
   IMG Bild: Mann mit dem Modell eines Bulldozers, dem Symbol der serbischen Revolution.
       
       BELGRAD taz | Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Die von Slobodan
       Milosevic gegründete Sozialistische Partei Serbiens (SPS) ist Juniorpartner
       in der serbischen pro-europäischen Regierung. An der Spitze des serbischen
       Innen-, Energie- und Unterrichtsministeriums und des Parlaments stehen
       ehemalige Mitläufer von Milosevic, die sich nie öffentlich von dessen
       Politik distanziert haben.
       
       Die Verantwortlichen für ein Jahrzehnt, das geprägt war von Kriegen,
       internationaler Isolation, Repressionen, systematischen Plünderungen, die
       den Staat in eine mafiaähnliche Organisation verwandelt und in den Ruin
       getrieben haben, sind nie zur Rechenschaft gezogen worden. Neureiche von
       Milosevic Gnaden beherrschen die Wirtschaft Serbiens - von einer
       Vergangenheitsbewältigung kann keine Rede sein.
       
       Als am 5. Oktober 2000 Massenproteste in Serbien Milosevic und sein
       absolutistisches Regime zum Rücktritt zwangen, bangten Milosevic Gefährten
       um ihre Freiheit und ihr Leben. Das Land verfiel in eine hoffnungsvolle
       Euphorie. Man sprach stolz von einer "demokratischen Wende", einer
       friedlichen Revolution.
       
       "Heute sehen das viele nicht so", sagt Vesna Pesic, die damals in der
       Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) war. Für die einen sei der 5.
       Oktober 2000 ein "Putsch" gegen das legitime Regime gewesen, für die
       anderen schlicht ein "Machtwechsel", für dritte eine Revolution gegen die
       Diktatur. "Der Kampf um die Interpretation des 5. Oktober spaltet die
       Gesellschaft", sagt Pesic. So manche beklagen, dass in Serbien nie der "6.
       Oktober" stattgefunden habe - eine endgültige Abrechnung mit dem in allen
       Teilen der Gesellschaft und des Staates verwurzelten Milosevic-Regime.
       
       Spätestens nachdem der erste Reformpremier Zoran Djindjic im März 2003
       ermordet worden war, stellte sich die Frage, ob diese Abrechnung überhaupt
       möglich war. Die Vollstrecker waren Mitglieder serbischer Eliteeinheiten,
       die politischen Hintergründe des Attentats wurden nie abschließend geklärt.
       Auch für etliche politische Morde und die Liquidierung von regimekritischen
       Journalisten sind bis heute keine Täter dingfest gemacht worden.
       
       "Genauso ist bis heute im Dunkeln, wer wie unter Milosevic zu seinem
       Reichtum gekommen ist, und wer wie die Loyalität der neuen Behörden nach
       der Wende gekauft hat", sagt Nebojsa Covic. Er war als Vorsitzender der
       oppositionellen Demokratischen Alternative neben Djindjic der wichtigste
       Drahtzieher beim Volksaufstand gegen Milosevic. Vergebens setzte sich Covic
       nach der Wende für ein Lustrationsgesetz ein, durch das Milosevic-Anhänger
       von der Politik ferngehalten werden sollten.
       
       All jene, die die wirkliche Arbeit im Vorfeld des 5. Oktober geleistet
       hätten, seien von der politischen Bühne verschwunden, meint der Chef der
       Liberal-demokratischen Partei, Cedomir Jovanovic. "Ich weiß nicht mehr, ob
       es den 5. Oktober gegeben hat, wer daran teilgenommen und wer wen besiegt
       hat", meint der ehemalige Anführer der Studentenproteste gegen Milosevic
       und die rechte Hand von Zoran Djindjic resigniert.
       
       Die Errungenschaften der demokratischen Wende sind, dass Wahlen nicht mehr
       gefälscht, politische Gegner nicht hingerichtet werden, dass die Läden voll
       sowie das Banksystem stabil sind. Und dass sich Serbien trotz seines
       Herumirrens zwischen Kosovo und Brüssel langsam in Richtung Europa bewegt.
       
       Doch das ist viel zu wenig für die über drei Millionen Bürger, die als
       Opfer der zum Teil wilden Privatisierung unter oder an der Armutsgrenze
       leben. Sie hatten nach der Milosevic-Ära eine baldige Aufnahme in die EU
       und ein besseres Leben erwartet. Zu wenig ist das auch für diejenigen, die
       nach der Wende den Aufbau einer Zivilgesellschaft und den Übergang zu einer
       parlamentarischen Demokratie erhofft hatten. Sie reden heute von einem
       Jahrzehnt der verlorenen Illusionen.
       
       5 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrej Ivanji
       
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