URI: 
       # taz.de -- Sexualaufklärung in Polen: Fünf Jahre Haft für Mut
       
       > In Polen machen rechtsklerikale Organisationen Front gegen Aufklärung in
       > der Schule. Lehrer wagen kaum noch, ehrlich über Sex zu sprechen.
       
   IMG Bild: Protest mit Regenbogensocken im Oktober vor dem Bildungsministerium in Warschau
       
       Warschau taz | Es braucht viel Mut, sich in Polen mit einer Regenbogenfahne
       sehen zu lassen. Durch Schals, Umhängetaschen und selbst bunt gestreifte
       Söckchen fühlen sich selbsternannte Tugendwächter „provoziert“. Sie wissen
       Polens katholische Kirche und die nationalkonservative Regierung hinter
       sich. Und dann schlagen diese „Patrioten“ schon mal zu oder brüllen den
       angeblichen „Päderasten“ ins Gesicht, wie demoralisiert und entartet sie
       doch seien.
       
       Als Ende Oktober an Polens Schulen zum vierten Mal in Folge der sogenannte
       Regenbogen-Freitag stattfand, eine Toleranzaktionen für Lesben, Schwule
       (Gays), Bi- und Transsexuelle (LGBT), wagten viele SchulleiterInnen dazu
       kein offenes Bekenntnis mehr. Denn sollte ein Gesetz in Kraft treten, das
       bereits die erste Lesung im Parlament hinter sich hat, drohen demnächst bis
       zu fünf Jahre Haft für fast jede Form der Sexualaufklärung in Polen.
       
       „Stop Pedofilii“ heißt das Bündnis rechtsklerikaler AbtreibungsgegnerInnen,
       die das Antiaufklärungsgesetz bereits im März dieses Jahres mit den
       notwendigen 100.000 Unterschriften ins Parlament einbrachten. Sie wollen
       den Artikel 200b des polnischen Strafgesetzbuches verschärfen. Bislang wird
       dort all jenen eine Geld- oder Haftstrafe von bis zu zwei Jahren angedroht,
       die sich der „öffentlichen Werbung oder Zustimmung zur Pädophilie“ schuldig
       machen.
       
       Künftig sollen auch LehrerInnen, GynäkologInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen,
       Priester, JournalistInnen, SexualerzieherInnen hinter Gitter kommen, wenn
       sie „Geschlechtsverkehr von Minderjährigen öffentlich propagieren oder
       gutheißen“.
       
       „Minderjährig“ sind für die „Stop Pedofilii“-AnhängerInnen grundsätzlich
       alle im Alter unter 18 Jahren. Dabei findet auch in Polen die sexuelle
       Initiation oft schon mit 13 statt. Ab 15 Jahren dürfen Mädchen und Jungen
       ihre Liebe auch sexuell völlig legal ausleben. Daran wollen die
       Rechtsklerikalen auch nichts ändern. Nur sollen die 15- bis 17-Jährigen
       dann mit fast niemandem mehr darüber reden dürfen.
       
       ## Proteste verhinderten totales Abtreibungsverbot
       
       Natürlich können sie weiterhin, wie dies viele auch heute schon tun,
       Informationen im Internet suchen. Dazu steht kein Wort im Gesetzesprojekt.
       Doch Sexualkunde in der Schule, wo die Jugendlichen verlässliche
       Informationen über Verhütungsmethoden, sexuell übertragbare Krankheiten
       oder auch das Wechselbad der Gefühle bekommen könnten, soll es in Zukunft
       keine (mehr) geben.
       
       Statt das lebensferne und jugendfeindliche Projekt nach kurzer Beratung dem
       Mülleimer zu überantworten, debattierten die regierenden
       Nationalpopulisten von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) stundenlang
       darüber. Die Kritik der Opposition fand kein Gehör. Am Ende der Debatte
       verwies die PiS das Gesetzesprojekt zur „Weiterarbeit“ an den zuständigen
       Parlamentsausschuss. Ob es dort in den nächsten Monaten auf
       Nimmerwiedersehen verschwindet oder bald doch wieder in veränderter Form im
       Plenum debattiert wird, hängt auch von den Protesten und Demonstrationen
       der Zivilgesellschaft ab.
       
       So hatten es empörte Polinnen vor wenigen Jahren geschafft, mit ihren
       [1][landesweiten „schwarzen Protesten“ ein totales Abtreibungsverbot zu
       kippen]. Auch dieses Projekt war vom Bündnis rechtsklerikaler
       Pro-Life-Organisationen ins Parlament eingebracht worden, unter dem Namen
       „Stop aborcji“ – „Stopp Abtreibung“. Die anfängliche Zustimmung der PiS
       bröckelte allerdings angesichts der massiven Proteste. Der drohende Verlust
       von möglicherweise Millionen Stimmen ließ die Partei einlenken: Das totale
       Abtreibungsverbot landete in der Tonne.
       
       „Hände weg von unseren Kindern“, skandierten aufgebrachte Eltern am Tag der
       Antiaufklärungsdebatte vor dem Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus. Auch
       in zahlreichen anderen Städten gingen in den folgenden Tagen Jugendliche
       mit ihren Eltern auf die Straße. „Schande!“ riefen sie den
       pseudokatholischen Moralaposteln neben ihren Transparenten „Stop Pedofilii“
       zu. „Ich habe keine Angst davor, ins Gefängnis zu wandern“, sagt die
       Gymnasiallehrerin Agnieszka Gabryelska im westpolnischen Posen. „Ich habe
       Angst um unsere Kinder. Wenn das Gesetz durchkommt, dürfen sie uns in
       schwierigen Lebenssituation nicht mehr ins Vertrauen ziehen.“
       
       ## Sexualkunde 1993 eingeführt
       
       Dabei solle die Schule doch nicht nur Wissen und Werte vermitteln, sondern
       auch Strategien, um unvorhergesehene Situationen zu meistern und
       Konfliktlösungen zu finden. „Gerade in der Zeit der Pubertät ist
       Sexualkunde ganz wichtig für unsere Kinder“, sagt die Lehrerin.
       
       In Warschau verteilt der Allpolnische Frauenstreik, der zur Demonstration
       aufgerufen hat, Flugblätter wie diese: „Als polnische Staatsbürgerinnen und
       in Polen lebende Frauen, deren Kinder durch Pädophile leiden, auch durch
       straflos Bleibende in ihren schwarzen Soutanen, fordern wir die
       Abgeordneten auf, die Arbeit an diesem Gesetzesentwurf sofort zu beenden“,
       ist dort zu lesen. Oder: „Statt dem Staat zu erlauben, unsere Söhne und
       Töchter für ihre erste Liebe und ihren ersten Sex mit Gleichaltrigen zu
       betrafen, sollten die Abgeordnete ein Gesetz vorbereiten, das behinderte
       Kinder besser schützt als bisher.“
       
       Auch das Oberste Gericht Polens intervenierte bereits und kritisierte das
       geplante Gesetz als unvereinbar mit dem Bildungsauftrag des Staates: „Die
       Sexualkunde wurde mit dem Gesetz von 1993 eingeführt.“ An den Schulen solle
       auch über Verhütungsmethoden informiert werden. „Der Gesetzgeber kann nicht
       mit einem Gesetz einen Unterricht fordern, den er mit einem anderen Gesetz
       kriminalisiert“, heißt es in der Stellungnahme der Obersten Richter Polens.
       
       Sollten die polnischen Parlamentarier diesem Votum des Obersten Gerichts
       nicht folgen, droht Polen demnächst nicht nur die „Stop
       Pedofilii“-Gleichsetzung von Sexualaufklärern mit Pädophilen, sondern auch
       eine neue Zensur: das Verbot, mit Kindern und Jugendlichen über menschliche
       Sexualität zu reden und sie vor den Gefahren des sexuellen Missbrauchs zu
       warnen.
       
       4 Nov 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Demo-zu-Abtreibungsrecht-in-Polen/!5493643&s=Polen+Abtreibung/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
   DIR Polen
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Sejm
   DIR PiS
   DIR Sexualaufklärung
   DIR Haft
   DIR Lebensschützer
   DIR Westafrika
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Polen
   DIR sexuelle Selbstbestimmung
   DIR Polen
   DIR Polen
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Jarosław Kaczyński
   DIR Polen
   DIR Polen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Aufklärung und Verhütung in Westafrika: Redet endlich über Sex!
       
       Sexualkunde steht in vielen afrikanischen Ländern nur selten auf dem
       Lehrplan. Ngunan Ioron Aloho besucht Schulen und spricht über das
       Tabuthema.
       
   DIR Abtreibung in Polen: Proteste mit Abstand
       
       Die nationalpopulistische Regierung will erneut die Gesetze verschärfen –
       bis hin zu einem totalen Verbot. Trotz Corona gehen Frauen auf die Straße.
       
   DIR Protest gegen LGBT-freie Zonen in Polen: Ein Zeichen gegen Homophobie
       
       Mit einem Aktionstag wollen Aktivist*innen gegen die Homophobie in Polen
       ein Zeichen setzen. Am Samstag demonstrierten sie dafür in Berlin-Mitte.
       
   DIR Für einen Abbruch ins Ausland: „Abtreibungen sind okay“
       
       In Polen gibt es eine neue Hotline für ungewollt Schwangere. Dass es dafür
       Geld gibt, hat mit einer Gesetzesreform in Irland zu tun.
       
   DIR Regierungserklärung in Polen: „Rückkehr zur Normalität“
       
       Vom „guten Wandel“ ist keine Rede mehr. Aber Mateusz Morawiecki rühmt die
       bisherige Sozialpolitik seiner Partei und verspricht einen Wohlfahrtsstaat.
       
   DIR Abtreibung in Polen: Lügen für die „Moral“
       
       Sogenannte Lebensschützer*innen spielen sich als Tugendwächter auf und
       verunglimpfen Homosexuelle als Pädophile.
       
   DIR Vermeintliche Heilung von Homosexualität: Manchmal verboten
       
       Jens Spahn legt einen Gesetzesentwurf zu sogenannten Konversionstherapien
       vor. Ein generelles Verbot der homophoben Programme ist nicht geplant.
       
   DIR LGBT-Bewegung in Polen: Kampf gegen Hass
       
       Obwohl die Akzeptanz für LGBT-Menschen eigentlich stieg, werden sie nun
       wieder vermehrt angegriffen. Der Aktivist Tomasz Kitliński lebt in Angst.
       
   DIR Demo zu Abtreibungsrecht in Polen: „Noch ist die Polin nicht verloren!“
       
       Knapp 200.000 Frauen demonstrieren in Warschau gegen eine geplante
       Verschärfung des Abtreibungsrechts. Das ist ohnehin schon restriktiv genug.
       
   DIR Demo für Abtreibungsrecht in Polen: Grenzenlose Wut
       
       In Warschau gehen hunderte Frauen auf die Straße. Sie protestieren gegen
       eine Verschärfung des ohnehin schon rigiden Abtreibungsrechts.