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       # taz.de -- Sexuelle Gewalt in der Psychiatrie: Vergewaltigt auf Station 5a
       
       > In Bremen hat ein Mann in der Psychiatrie zwei Mitpatientinnen
       > vergewaltigt. Das passiert gar nicht so selten. Präventive Maßnahmen gibt
       > es zu wenige.
       
   IMG Bild: Ausgerechnet in Psychiatrien, wo Menschen in seelischer Not untergebracht sind, ist das Risiko, einen sexuellen Übergriff zu erleben, hoch
       
       Am frühen Abend des 25. Oktober 2022 betritt Malik Ali, ein 27-jähriger
       Patient der geschlossenen [1][Psychiatrie des kommunalen Klinikums
       Bremen-Ost], das Zimmer der 71-jährigen Hanne Meyer. Nach einem Sturz liegt
       diese bewegungsunfähig in ihrem Bett. Malik Ali, ein großer Mann mit
       breitem Kreuz, schließt das Zimmer von innen ab, legt sich auf sie und
       dringt in sie ein. Aufgrund ihrer Erkrankung ist Hanne Meyer nicht fähig,
       sich zu wehren. Pflegekräfte, verwundert ob der verschlossenen Zimmertür,
       öffnen diese von außen und ziehen Malik Ali von der Frau herunter.
       
       So soll es sich nach Überzeugung des Bremer Landgerichts zugetragen haben.
       Ende März spricht die zweite Strafkammer Malik Ali, der wie die
       mittlerweile verstorbene Hanne Meyer eigentlich anders heißt, nach vier
       Verhandlungstagen mangels Schuldfähigkeit frei. Der Gutachter, der das
       Verfahren begleitet, schließt trotz starker Medikamente weitere Übergriffe
       in psychotischen Zuständen nicht aus. Daher wird Malik Ali in den
       Maßregelvollzug, die Haftanstalt für psychisch Kranke, eingewiesen.
       
       Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Ausgerechnet in Psychiatrien, wo
       [2][Menschen in einem Zustand extremer seelischer Not] Wochen und Monate
       verbringen, teils gegen ihren Willen, ist das Risiko, einen sexuellen
       Übergriff zu erleben, hoch. [3][Das belegen zahlreiche Studien.]
       
       Doch eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet selbst in Fachkreisen
       kaum statt. Zu diesem Fazit kommt die Ulmer Professorin Silvia Krumm, die
       zu Gewalterfahrungen von Personen mit Psychiatrieerfahrung forscht und eine
       laufende [4][Studie] dazu leitet. „Eine systematische Auseinandersetzung
       mit dem Problem sexueller Gewalt steht noch aus“, schreibt sie in einem
       [5][Aufsatz in der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“]. Das war vor drei
       Jahren. Geändert habe sich daran wenig, sagt sie in einem Telefonat mit der
       taz.
       
       Auch die Verbände, die sich für die Interessen psychisch Kranker einsetzen,
       äußern sich auf ihren Internet-Seiten nicht zu diesem Thema. Die taz hat
       zwei der größten angeschrieben und keine Antwort erhalten.
       
       ## Untersuchungen zu sexueller Gewalt in der Psychiatrie sind alarmierend
       
       Gute Daten zur Häufigkeit in Deutschland gebe es bisher keine, sagt Silvia
       Krumm. Die Ergebnisse der wenigen, meist internationalen, Untersuchungen zu
       sexueller Gewalt in der Psychiatrie sind alarmierend. 2023 erschien
       [6][eine Arbeit US-amerikanischer Wissenschaftler:innen], die sich mit
       der Studienlage auseinandersetzt. Danach berichteten zwischen fünf und 45
       Prozent der Teilnehmer:innen der verschiedenen Studien von sexueller
       Gewalt während eines Psychiatrieaufenthalts. Die große Spanne kommt dadurch
       zustande, dass einige Studien auch verbale Belästigung oder die Beobachtung
       eines sexuellen Übergriffs als sexuelle Gewalterfahrung erfassen. Andere
       nicht.
       
       Die Häufigkeit von sexueller Gewalt in der Allgemeinbevölkerung liegt um
       ein Vielfaches niedriger. Nach einer von Wissenschaftlern:innen der
       Universität Ulm vorgenommenen [7][repräsentativen Bevölkerungsstichprobe]
       aus dem Jahr 2016 in Deutschland erlebten innerhalb eines Jahres 0,6
       Prozent der befragten Männer sexuelle Gewalt und doppelt so viele Frauen.
       
       Im Psychiatrie-Kontext sind Frauen dreimal so oft wie Männer von sexueller
       Gewalt betroffen, fanden Forscher:innen heraus, die [8][2014 in
       Süddeutschland eine Befragung] von 170 Personen in ambulanten und
       stationären Einrichtungen ausgewertet hatten. Von diesen hatten zwölf
       Personen (7,1 Prozent) sexuelle Gewalt durch Mitpatient:innen erlebt,
       sechs durch Personal. Weitere Studien zeigen, dass [9][weibliche
       Pflegekräfte in der Psychiatrie häufig sexuell belästigt] oder angegriffen
       werden.
       
       Diese Zahlen fehlen in Medienberichten über Vergewaltigungen in
       Psychiatrien, so dass sie wie Einzelfälle wirken. Bundesweit bekannt wurde
       etwa ein Vorfall am Universitätsklinikum Tübingen. Dort wurde 2024 ein
       Psychotherapeut in Ausbildung [10][in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren
       Haft] verurteilt, wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs einer Patientin.
       Wenn der mutmaßliche Täter ein Mitpatient ist wie in Bremen, laufen die
       Verfahren unter dem Radar der Öffentlichkeit. Das liegt daran, dass viele
       Gerichte von sich aus nicht über Sexualdelikte informieren. So hatte es
       auch ein Sprecher des Bremer Landgerichts auf Nachfrage der taz begründet,
       die zufällig von dem Verfahren erfahren hat.
       
       ## Viele sexuelle Übergriffe werden gar nicht angezeigt
       
       Noch häufiger aber werden sexuelle Übergriffe – unabhängig davon, wo sie
       stattfinden – gar nicht angezeigt. In keinem anderen Deliktfeld sei die
       Dunkelziffer so hoch, hob [11][das Bundeskriminalamt zuletzt vor drei
       Jahren hervo]r. Aus den Studien zur sexuellen Gewalt in der Psychiatrie
       geht hervor, dass diese oft noch nicht einmal dem Personal mitgeteilt
       werden. So heißt es in der US-amerikanischen Übersichtsarbeit aus dem Jahr
       2023: „Stigma, Schuld, Machtlosigkeit, Misstrauen, die Sorge, einem würde
       nicht geglaubt oder Angst vor dem Täter“, seien die Gründe, das Erlebte für
       sich zu behalten.
       
       Der Bremer Prozess illustriert, wie die Glaubwürdigkeit von psychisch
       Kranken in Frage gestellt wird. Am dritten Verhandlungstag sagt die Ärztin
       aus, die die Station 5a leitet, auf der Malik Ali im Jahr 2024 noch einmal
       mehrere Monate in Behandlung war. Damals hatte eine andere, ebenfalls
       zwischenzeitlich verstorbene, Mitpatientin von Malik Ali einen Übergriff
       gemeldet. Sie soll hier Doris Koch heißen. „Hatte die Frau vielleicht
       Wahnvorstellungen?“, will die Richterin von der Stationsleiterin wissen.
       Malik Alis Anwalt zielt in dieselbe Richtung: „Haben Sie sie auch mal
       kritisch gefragt: Stimmt das wirklich?“ Die Ärztin reagiert irritiert. Die
       Patientin habe an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. „Sie
       war nicht psychotisch.“
       
       Doris Koch war im vergangenen Jahr zeitgleich mit Malik Ali auf der Station
       5a des Klinikums Ost untergebracht. Auch ihr Fall wurde jetzt vor dem
       Bremer Landgericht verhandelt. Laut Anklage soll Malik Ali sie in der Nacht
       vom 23. auf den 24. Mai 2024 gegen ihren Willen am Körper berührt und
       schließlich oral vergewaltigt haben. Dieses Mal war der mutmaßliche Tatort
       ein Gemeinschaftsraum, in dem die Patientin nach einem Streit mit ihrer
       Zimmernachbarin schlief. Das Verfahren stellte das Gericht mit Zustimmung
       der Staatsanwaltschaft ein, weil sich eine Verurteilung nicht auf das
       Gesamtstrafmaß ausgewirkt hätte.
       
       Die Literatur nennt, neben der Angst, als unglaubwürdig zu gelten, einen
       weiteren häufigen Grund für das Schweigen der Opfer: Sie – und
       möglicherweise auch die Fachkräfte – halten sexuelle Gewalt für einen
       Ausdruck der psychischen Erkrankung des Täters. Dabei gibt es keinen
       wissenschaftlichen Beleg für einen direkten Zusammenhang zwischen der
       Diagnose einer psychischen Erkrankung und dem Begehen einer sexuellen
       Straftat.
       
       ## Malik Ali wollte seine Medidkamente nicht nehmen
       
       Malik Ali ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Denn seine
       Wahnvorstellungen bestanden nach Schilderung der Ärztin im gesteigerten
       Wunsch, sich fortzupflanzen. Aus Angst vor Impotenz und Libidoverlust habe
       er seine Medikamente nicht nehmen wollen. Malik Ali, der dem Prozess
       konzentriert und in eingesunkener Körperhaltung folgt, erzählt vor Gericht,
       dass ihm während eines Psychiatrieaufenthalts eine Stimme gesagt habe, alle
       Frauen auf der Station seien seine. Nach seiner Erinnerung sind viele zu
       ihm gekommen, weil sie ihn so attraktiv gefunden hätten. „Mit manchen habe
       ich geschlafen, mit manchen nicht.“ Die Vorsitzende Richterin hakt nach: Wo
       das war? „Auf der Station, im Garten“, sagt Malik Ali.
       
       Ob das stimmt, wird im Prozess nicht geklärt. Es ist nicht ausgeschlossen,
       dass darunter einvernehmlicher Sex war. Menschen legen ihre Sexualität
       nicht beim Betreten einer psychiatrischen Einrichtung ab. Darauf weist
       Silvia Krumm in ihrem Aufsatz hin. Im Psychiatrie-Kontext gelte aber nicht
       nur das Recht auf Sexualität – sondern auch das auf Schutz vor Übergriffen.
       Letzteres, schreibt sie, könne „auch bei konsensuellen Sexualkontakten
       greifen, wenn kognitive und emotionale Einschränkungen während einer
       psychischen Krise eine freie Willensentscheidung erschweren oder
       verhindern“.
       
       Hinzu kommt, dass Menschen, die schon einmal sexuelle Gewalt in ihrem Leben
       erlebt haben, ein höheres Risiko mit sich tragen, psychisch zu erkranken.
       Hier setzt ein Teufelskreis ein: Psychisch Kranke werden laut der
       Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023 als Erwachsene zwei- bis achtmal so oft
       Opfer sexueller Gewalt wie die Normalbevölkerung. Krumm gibt für Frauen mit
       Psychiatrieerfahrung eine zehnmal so hohe Betroffenheit an. Auch andere
       Formen von Gewalt gelten als Risikofaktoren.
       
       Warum? Es sei möglich, dass Menschen, deren Grenzen wiederholt verletzt
       wurden, diese nicht kennen oder nie erfahren haben, dass ihr „Nein“
       akzeptiert wird, sagt Krumm. Eine andere Erklärung: Sie haben Sexualität so
       kennen gelernt, dass es ausschließlich um die Bedürfnisse des oder der
       anderen geht. „Für viele Menschen in der Psychiatrie gehört Gewalt zu ihrer
       Normalität“, sagt die Wissenschaftlerin. Daher liege womöglich auch für
       Mitarbeiter:innen in der Psychiatrie die Aufmerksamkeitsschwelle bei
       dem Thema höher als in anderen Kontexten.
       
       ## Lösungsansätze aus anderen Ländern
       
       In anderen Ländern gibt es Ansätze, die sexuelle Übergriffe im Vorfeld
       verhindern sollen. Am weitesten ist ein Bundesstaat in Australien. In
       Western Australia müssen sich staatliche Einrichtungen seit 2020 an die
       [12][Richtlinien zur sexuellen Sicherheit] von Psychiatrie-Patient:innen
       halten. Dazu gehört, bei der Aufnahme Risiken zu identifizieren und
       entsprechend gegenzusteuern. Das gilt sowohl für potenzielle Täter als auch
       Opfer. Zudem sollen die Patient:innen gefragt werden, ob sie besonderen
       Schutz brauchen. Denn auch das ist aus der Forschung bekannt: Wer – egal wo
       – schon einmal sexuelle Gewalt erlebt hat, fühlt sich unsicherer. Angst und
       Misstrauen erschweren wiederum Therapieprozesse, sagt Krumm. Auch
       vergleichsweise einfache Maßnahmen werden in dem australischen Papier
       genannt: etwa die, in Form von Aushängen Patient:innen auf ihre Rechte
       aufmerksam zu machen.
       
       Von besserer Prävention profitieren, so zynisch es klingen mag, nicht nur
       die Betroffenen selbst. Sondern auch die Beitragszahler:innen der
       Krankenversicherungen. Denn wenn Psychiatrie-Patient:innen sexuelle Gewalt
       erleben, gesunden sie schwerer oder werden sogar noch kranker, schreibt
       Krumm 2022. Und: „Es besteht die Gefahr, dass sie aus Furcht vor (weiteren)
       sexuellen Übergriffen auf eine notwendige stationäre Behandlung
       verzichten.“
       
       Dennoch gibt es in Deutschland nur äußerst zarte vergleichbare Ansätze. So
       sind Kliniken und niedergelassene Ärzt:innen seit 2020 zwar zu
       Schutzkonzepten verpflichtet, um „Missbrauch und Gewalt insbesondere
       gegenüber vulnerablen Patientengruppen, wie beispielsweise Kindern und
       Jugendlichen oder hilfsbedürftigen Personen, vorzubeugen, zu erkennen,
       adäquat darauf zu reagieren und auch innerhalb der Einrichtung zu
       verhindern“. Das steht in der vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen
       [13][Qualitäts-Management-Richtlinie]. Doch schaut man sich die
       Schutzkonzepte der Kliniken an, haben diese ausschließlich Minderjährige im
       Blick.
       
       Eine Ausnahme bildet das seit einem Jahr gültige Schutzkonzept des
       Uniklinikums Tübingen, das parallel zur Aufarbeitung des dortigen
       Missbrauch-Skandals entstanden ist. Aber weil der Täter ein Mitarbeiter
       war, geht es hier nur um Gewalt an Schutzbefohlenen. Nicht um Übergriffe,
       die von Patient:innen ausgehen – die nach Studienlage den größeren
       Anteil ausmachen.
       
       In Bremen gelten seit 2022 die [14][Gender-Leitlinien] für das
       psychiatrische und Suchthilfesystem. Diese fordern „verbindliche
       Gewaltschutzkonzepte“, die es in den kommunalen Kliniken bisher nicht
       verschriftlicht gibt. Auch abschließbare Schlafräume sowie
       geschlechtsspezifische Rückzugsräume und Stationen sehen die Leitlinien
       vor. „Geschlechtergetrennte Unterbringung und Behandlung soll möglich
       sein“, steht zudem [15][im Bremer Gesetz], das die Behandlung von psychisch
       Kranken regelt.
       
       ## Neue Zimmer mit Chipkartensystem
       
       Auf den psychiatrischen Stationen des Klinikums Bremen Ost gibt es, wie
       auch andernorts üblich, reine Frauenschlafzimmer – aber auf gemischten
       Stationen. Von innen abschließbar sind im Grundsatz alle; mit einem Knauf,
       der die Tür verriegelt. Relativ neu sind solche Zimmer, die mit einer
       Chipkarte auch von außen verschlossen und geöffnet werden können. Das ist
       von Vorteil, wenn sich mehrere Personen ein Zimmer teilen oder jemand
       bettlägrig ist. Drei solcher Zimmer soll es laut Klinik auf der Station 5a
       geben. Ob das Zimmer von Hanne Meyer mit einem solchen Mechanismus
       verriegelbar war, kann im Strafprozess nicht geklärt werden.
       
       In eins dieser Zimmer darf die taz an einem Dienstag Ende Februar
       hineinschauen, es liegt im Haus 3. Das wurde 2018 renoviert und umgebaut,
       Flure und Zimmer sind hell und freundlich. In der Praxis bekämen die
       besonders Schutzbedürftigen nicht immer die für sie vorgesehenen Zimmer,
       erklärt der stellvertretende Stationsleiter. Schuld sei die permanente
       Überbelegung. „Wir müssen schauen, wo Platz ist.“
       
       100 Meter weiter, im Haus 5, liegt die Station, auf der Malik Ali behandelt
       wurde. Beide Häuser befinden sich in einem weitläufigen Park, in dem wie
       hinein gewürfelt weiße Fachwerkhäuser mit roten Ziegeldächern stehen. Am
       Rand des Geländes ragen die drei Hochhaustürme des Hauptgebäudes auf, ein
       Betonbau aus den 70er Jahren. In einem Besprechungsraum unterhalb der Türme
       hat die Klinikleitung die taz zum Gespräch über den Umgang mit sexueller
       Gewalt und die konkreten Vorfälle eingeladen. Neben der Pressesprecherin
       und dem Psychiatrie-Chefarzt sind ein Vertreter der Klinikdirektion und die
       beiden Psychiatrie-Pflegeleiter:innen gekommen.
       
       Martin Bührig, 1957 geboren und seit 22 Jahren [16][Psychiatrie-Chefarzt in
       Bremen], hört eine Weile schweigend zu. Dann beugt er sich vor und spricht
       ein paar eindringliche Sätze, wie um klarzumachen, dass in dieser Klinik,
       zumindest in den leitenden Funktionen, niemand arbeitet, der oder die nicht
       wüsste, was sexuelle Gewalt ist – und wo sie beginnt. „Schon, wenn Frauen
       sprachlich zu Objekten degradiert werden – das ist eine Würdeverletzung,
       die wir nicht dulden.“
       
       Mitarbeiter:innen würden dafür sensibilisiert und auch dazu
       angehalten, Übergriffe jeglicher Art zu melden, gegen sie selbst oder
       Patient:innen. Sollte eine von Gewalt betroffene Person eine Anzeige bei
       der Polizei wünschen, so geschehe dies nach Möglichkeit durch die Klinik,
       damit die Anschriften der Geschädigten zu diesem Zeitpunkt noch nicht in
       der Akte landen. Das sehe der klinikinterne Prozessablauf vor.
       
       Der Pflegedirekor der Klinik, Jörn Sandtvos, weist darauf hin, dass „die
       besonderen Vorkommnisse“ in wöchentlichen Berichten dokumentiert würden,
       sexuelle Gewalt sei als eigene Kategorie aufgeführt. Eine Auswertung kann
       die Klinik nicht liefern, nur die Zahl der Gesamtvorfälle an allen
       besonderen Vorkommnissen nach Quartalen.
       
       Niemand in dieser Runde behauptet, dass man in der Psychiatrie sicherer vor
       sexueller Gewalt wäre als „draußen“. Nur glauben sie, bereits alles dafür
       zu tun, dass das Risiko gering bleibt. Jeder Einzelfall werde
       „aufgearbeitet“, sagt der Pflegedirektor. Was das im Fall von Malik Ali
       bedeutet, können die Klinikverantwortlichen nicht sagen. Aufgrund der
       ärztlichen Schweigepflicht dürfen sie keine Auskunft über Patientendaten
       geben. Anhand der Gerichtsverhandlung lässt sich allerdings rekonstruieren,
       dass die Aufarbeitung, wenn es sie gegeben hat, keine Konsequenzen nach
       sich zog.
       
       Nachdem Malik Ali im Oktober 2022 auf der Station 5a Hanne Meyer
       vergewaltigt hat, stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Die
       Schuldunfähigkeit sei absehbar gewesen, schreibt der Sprecher der
       Staatsanwaltschaft der taz. Der forensische Gutachter – derselbe, der ihn
       für das gerade abgeschlossene Gerichtsverfahren begutachtet hat – habe
       keine Anzeichen für eine Wiederholungsgefahr gesehen. „Es sah nach einer
       Ausnahme aus.“
       
       ## Malik Ali lebte lange Zeit unauffällig
       
       Aus juristischer Sicht ist das plausibel. Malik Ali hatte, bis er vor vier
       Jahren nach Bremen zog, nach einer ersten medikamentösen Einstellung in der
       Klinik in Rotenburg an der Wümme unauffällig im niedersächsischen Umland
       gelebt und gearbeitet. Dort hatten sein Hausarzt und eine
       Flüchtlingshelferin dafür gesorgt, dass er regelmäßig seine Medikamente
       nimmt, wie diese vor Gericht berichtet. Malik Ali lächelt, als sie sich vor
       ihrer Aussage auf dem Gerichtsflur begegnen. Sie kennen sich seit Januar
       2015, zwei Jahre zuvor war er [17][aus dem Sudan geflohen, alleine, über
       das Mittelmeer].
       
       Doch die [18][Unterstützung in Bremen reicht nicht aus,] und Malik Ali
       landet nach Aussage der Ärztin mehrfach auf der 5a: 2022, 2023, und dann
       noch einmal am 22. April 2024.
       
       Und obwohl die Vergewaltigung der 71-jährigen Hanne Meyer im Jahr 2022
       aktenkundig ist, wird er – so berichtet es die von der Schweigepflicht
       entbundene Ärztin vor Gericht – erst gut einen Monat nach seiner letzten
       Aufnahme unter eine Eins-zu-eins-Betreuung gestellt. Am 26. Mai 2024, zwei
       Tage nach der mutmaßlichen oralen Vergewaltigung im Gemeinschaftsraum. Die
       Maßnahme soll sicher stellen, dass er sich nicht wieder alleine
       Mitpatient:innen nähern kann. Der Grund für das Handeln der Klinik:
       Malik Ali hatte sich an dem Tag zu einem Patienten ins Bett gelegt, ihm
       Mund und Nase zugehalten und ein Kissen aufs Gesicht gedrückt.
       
       Die Klinik zeigt ihn deswegen an. Und wegen weiterer vier Übergriffe, von
       denen zwei im Strafverfahren mit verhandelt wurden. Die anderen zwei hatte
       die Staatsanwaltschaft vor Prozessauftakt eingestellt. Einmal soll er,
       trotz Eins-zu-eins-Betreuung, nach Überzeugung des Gerichts einer Pflegerin
       beim Mittagessen schmerzhaft in den Schritt gegriffen haben. Ein anderes
       Mal soll er im Vorbeigehen einer Patientin an die Brust gefasst haben.
       
       Dreieinhalb Monate später, am 13. September, beantragt die Bremer
       Staatsanwaltschaft Malik Alis einstweilige Unterbringung im
       Maßregelvollzug. Vier Tage später wird er dorthin verlegt. Normalerweise
       würde es noch länger dauern bis die Justizbehörden handeln, sagt die Ärztin
       vor Gericht. Sie habe in diesem Fall nachgehakt.
       
       Diese Geschichte endet mit zwei Erkenntnissen. Malik Ali hätte die Taten
       vermutlich nicht begangen, wenn er gesundheitlich besser versorgt gewesen
       wäre. Und zweitens: Solange sich nichts ändert, wird es weitere Opfer
       sexueller Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen geben, in Bremen und
       überall anders. Präventionskonzepte könnten helfen. Sie fehlen auch, weil
       sie niemand einfordert. Dazu müsste eine Bereitschaft in der breiten
       Gesellschaft entstehen hinzusehen und das Ausmaß des Leids zu begreifen.
       Brian Barnett, Psychiater an einer Klinik in Cleveland in den USA,
       [19][schreibt 2020 in einem Essay] „Der erste Schritt, um die sexuelle
       Sicherheit von Psychiatrie-Patient:innen zu gewährleisten, ist öffentlich
       anzuerkennen, dass es diese derzeit nicht gibt.“
       
       19 May 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Psychiatrische-Versorgung-in-Bremen/!5861223
   DIR [2] /Zwangsbehandlung-in-der-Psychiatrie/!5787242
   DIR [3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16148328/
   DIR [4] https://www.uniklinik-ulm.de/psychiatrie-und-psychotherapie-ii/arbeitsgruppe-qualitative-sozialforschung/evio.html#c113310
   DIR [5] https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/a-1950-7686
   DIR [6] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0163834323000270
   DIR [7] https://www.aerzteblatt.de/archiv/praevalenz-sexueller-gewalt-142ae584-a1dd-4994-8f80-a62fa35a504a?tabId=authors
   DIR [8] https://www.frontiersin.org/journals/psychiatry/articles/10.3389/fpsyt.2020.563860/full
   DIR [9] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8596810/#inm12905-sec-0022
   DIR [10] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/prozess-sexueller-missbrauch-wegen-verhandlungsunfaehigkeit-abgesagt-100.html
   DIR [11] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Forschung/ForschungsprojekteUndErgebnisse/Dunkelfeldforschung/SKiD/Ergebnisse/Ergebnisse_node.html
   DIR [12] http://www.chiefpsychiatrist.wa.gov.au/standards-guidelines/sexual-safety-guidelines/
   DIR [13] https://www.g-ba.de/beschluesse/4379/
   DIR [14] https://www.geschlecht-und-psychische-gesundheit.de/gender-leitlinien/
   DIR [15] https://www.transparenz.bremen.de/metainformationen/bremisches-gesetz-ueber-hilfen-und-schutzmassnahmen-bei-psychischen-krankheiten-brempsychkg-vom-13-dezember-2022-187030?template=20_gp_ifg_meta_detail_d#jlr-PsychKGBR2022pP12
   DIR [16] /Psychiatrie-Chefarzt-ueber-Kuendigung/!6054456
   DIR [17] /Traumatherapie-fuer-Gefluechtete/!5993666
   DIR [18] /Bremer-Psychiatriereform/!5901353
   DIR [19] https://psychiatryonline.org/doi/10.1176/appi.ps.202000038
       
       ## AUTOREN
       
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       „HaftLeben“.
       
   DIR Psychologe über Hamburger Messerangriff: „Der Vorfall war nicht vorhersagbar“
       
       Die Verdächtige der Messerattacke wurde kurz zuvor aus der Klinik entlassen
       – in die Obdachlosigkeit. Kein Einzelfall, meint Psychologe Thomas Bock.
       
   DIR Sexualisierte Gewalt: Bundesrat will K.-o.-Tropfen schärfer bestrafen
       
       Gelten K.-o.-Tropfen künftig als „gefährliches Werkzeug“ bei
       Sexualdelikten? Der Bundesrat stimmte dafür. Beschließen müsste das auch
       der Bundestag.
       
   DIR Krise in der Gefängnispsychiatrie Berlin: Er hat nicht gelebt
       
       Ümit Vardar starb nach 27 Jahren im Maßregelvollzug. Die Zustände dort
       gelten schon lange als untragbar. Seine Familie verklagt nun das Land
       Berlin.
       
   DIR Psychiatrische Versorgung in Bremen: Warten auf den Therapieplatz
       
       Bremen setzt auf ambulante Versorgung – aber die Wartelisten dafür sind
       trotzdem lang. Das zeigte die Vorstellung des Bremer Krankenhausspiegels.
       
   DIR Zwangsbehandlung in der Psychiatrie: „Daran könnte man verrückt werden“
       
       Martin Zinkler, seit Juni Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und
       Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost, will ambulante statt stationärer
       Versorgung.